Die Stunde der Jäger

Osama bin Laden Die Entgrenzung aller Maßstäbe wird zur Tugend verklärt, es gilt Auge um Auge, Gewalt gegen Gewalt – die USA haben mit Osama bin Laden den Staatsfeind Nr. 1 verloren

Welche Schmach für George Walker Bush und welche Genugtuung für Barack Obama. Der eine hat nach 9/11 mit einer religiös anmutenden Aufwallung eine Weltjagd auf Osama bin Laden veranstaltet und musste die Jagdtrophäe bis zum Schluss schuldig bleiben. Der andere kann zeigen, wozu ein Friedensnobelpreisträger heutzutage fähig ist. Er darf sich den Skalp des Staatsfeindes Nr. 1 der Weltmacht Nr. 1 an die Osloer Schärpe heften. Fast schien es so – und damit wäre dieses Mai-Wochenende mit noch mehr berstendem Triumphalismus erfüllt gewesen – der Skalp Mummar al-Gaddafis käme dazu. Aber noch ist es nicht soweit. Ungeachtet dessen darf ein historischer Augenblick gefeiert werden, bei dem wir wohlgemerkt nicht über das frühe Mittelalter und die archaischen Bräuche urchristlicher Kreuzritter reden, sondern einen der zivilisatorischen Höhenflüge des 21. Jahrhunderts beobachten dürfen. In einer Zeit wie dieser verbietet es sich offenkundig, einen mutmaßlichen Kapitalverbrecher wie Osama bin Laden festzunehmen und vor ein Gericht zu stellen, stattdessen wird er nach Waidmanns Art und Lust erlegt. Die Entgrenzung aller Maßstäbe ist zur Tugend verklärt, Auge um Auge, Gewalt gegen Gewalt.

Warum war George Bush dieser finale Abschuss nicht vergönnt, der für dieses Prinzip doch wie kein anderer stand? Ihm als Kriegsherr hätte das Jagdglück, wie es Obama jetzt genießt, besser zu Gesicht gestanden als seinem Nachfolger. Woran lag es, wenn es dazu nicht kam? Am Unvermögen seiner Jäger oder am Kalkül einer ganzen Jagdgesellschaft? Niemand konnte schließlich übersehen, wie nützlich der Al-Qaida-Führer als seelenlos gefährliches Phantom der Finsternis erschien. Seine Videobotschaften erwiesen sich ein ums andere Mal als geeignet, den Feldzug des Guten gegen das Böse anzuspornen und die darin wurzelnde imperiale Anmaßung zu rechtfertigen. Erst der Einfall in Afghanistan, dann die Intervention und teilweise Atomisierung des Staates Irak. Schwerlich zu übersehen, wie leicht es fiel, die Gebote der abendländischen Zivilisation dem Kriegerischen und – wenn es sein musste – Barbarischen zu überlassen. Vergessen wir nicht, welches Ausmaß an menschlichem Leid und materieller Zerstörung ein Jahrzehnt Anti-Terror-Krieg, das auch ein Jahrzehnt der Jagdszenen auf Osama sein wollte, hervorgebracht hat. Es bleibt als kollektive Erfahrung im Bewusstsein von Millionen Menschen eingebrannt, wird an nachfolgende Generationen weitergegeben und niemals vergessen sein. Die Anschläge vom 11. September 2001 in ihrer zynisch selbstgefälligen Inszenierung fanden eine Antwort der Rache und Vergeltung – keine der moralischen, sondern der militärischen Überlegenheit. Aus Opfern wurden Täter, die bis heute mit dem besetzten Afghanistan ein ganzes Land in Haftung nehmen. Die USA taten, was möglich war, damit ihnen die terroristische Herausforderung, wie sie sich am 11. September 2001 wie nie zuvor offenbart hatte, erhalten blieb. Zehn Jahre Besatzung in Afghanistan haben den Taliban weniger geschadet als das halbe Jahrzehnt ihres dikatorischen Kalifats zwischen 1996 und 2001. Inzwischen sind sie als potenzieller Verhandlungs- wenn nicht gar Regierungspartner für Kabul im Gespräch. Sie könnten zurückkehren, wenn die Amerikaner gehen. Nur ein scheinbarer Widerspruch – ein imperiales Weltsystem hält sich den zu ihm passenden Mob und achtet darauf, ihn sobald nicht wieder entbehren zu müssen. Auch deshalb wohl blieb Osama bin Laden solange unauffindbar. Und wurde nun ausgerechnet in Pakistan gestellt, wer hätte das gedacht?

Kurz vor der endgültigen Kapitulation Hitler-Deutschlands im Frühjahr 1945 hatte Winston Churchill über die Nazigrößen geäußert, ihm wäre es am liebsten, man würde „die Bastarde“ kurzerhand erschießen. Tatsächlich wollten die Alliierten aber nicht den leisteten Verdacht riskieren, mit ihrem Kriegsgegnern auf einer Stufe zu stehen. Erst nach dem Richterspruch des Nürnberger Tribunals sollten sie zu Kriegsverbrechern erklärt und bestraft werden. Das Recht triumphierte über dessen gewissenlose Missachtung, die Zivilisation über die Barbarei, die Gesittung über den Gesinnungstäter. Wer Obama den Tod Osamas verkünden sieht, der weiß, wie lange das her ist und wie unwiderruflich vorbei.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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