Würde des Wilhelminismus

Wolfgang Nešković Wer als Abgeordneter die Ordnung im Deutschen Bundestag stört, wird in Zukunft sanktioniert. Gute Manieren scheinen dort wichtiger zu sein als kontroverse Debatten

Tausend Euro soll sie künftig kosten, die nicht unerhebliche Störung der Ordnung im Plenarsaal des Deutschen Bundestags. Im Wiederholungsfall das Doppelte. So sieht es eine Änderung der Geschäftsordnung vor, die Union, SPD und FDP unterstützen. Presse und Funk sind begeistert: Die Initiative sei geeignet, „pöbelnde“ linke Abgeordnete in den Griff zu bekommen und die „Würde“ des Bundes­tages zu bewahren, heißt es.

Würde? Der Deutsche Bundestag wird nicht gewählt, um eherne Würde ausstrahlen. Ihm kommt die Würde zu, die Inte­ressen des Volkes zu vertreten. Diese Würde lässt sich nicht in erster Linie mit der Kleiderordnung erfassen. Es ist eine inhaltliche Würde, mehr eine Bürde als eine Ehre. Der Würde wird entsprochen, wenn die Abgeordneten ehrlich und respektvoll um Lösungen für Probleme streiten. Das tun sie meist nicht. Denn die Mehrheitspolitik streitet längst nicht mehr. Sie hört nicht einmal zu. Sie ist gut gekleidet und beherrscht die Kunst, mit guten Manieren ungerechte Politik zu machen.

Diese Politik löst im Volk oft genug Empörung sowie Angst und Sorge aus. Doch die Mehrheitspolitik wähnt sich über diesen Emotionen. Sie duldet es nicht, wenn die Stimmung im Land in den Plenarsaal getragen wird. Als ein deutscher Offizier in Kunduz die Bombardierung von Zivilisten befahl, brachten Abgeordnete der Linksfraktion Pappschilder mit den Namen der Toten in den Sitzungssaal. Der Präsident des Bundestages schloss sie von der Sitzung aus. Dabei wurde durch das Hochhalten der Schilder niemand beim Reden gestört, beleidigt oder an der Stimmabgabe gehindert. Wenn diese stille Aktion überhaupt eine Störung war, dann lag sie in der Erschwerung eines Austauschs von Sprechhülsen wie „zivil-militärische Zusammenarbeit“ oder „Wiederaufbauteams“. Nicht die Linken störten. Es waren die Namen der Toten. Es war ihre verblichene Würde. Auch die Grünen haben – ohne Sanktion des Präsidenten – zur Debatte über die AKW-Laufzeitverlängerung schwarze (Trauer-)kleidung mit dem gelben Castor-Widerstandszeichen getragen.

Parlamente sind Orte der Debatte über verschiedene Meinungen. Meinungen werden nicht nur in Worten ausgedrückt. Der Mensch meint auch, wenn er symbolhaft handelt oder mit Bildern beschreibt. Ordnungsgelder behindern die Meinungsäußerungsfreiheit, die auch den Abgeordneten zur sinnvollen Wahrnehmung ihres Mandats zukommen muss – sofern der parlamentarische Betrieb nicht leidet. Sitzungsausschlüsse sind schon gar nicht gerechtfertigt. Denn in der Zusammensetzung der Abgeordneten drückt sich die Wahlentscheidung des Volkes aus. Parlamentarier für zukünftige Abstimmungen vor die Tür zu schicken, kann die Entscheidungen verfälschen und so den Willen des Souveräns missachten.

Übrigens – es ist die Würde des Wilhelminismus, den die Mehrheitspolitik bis heute verteidigt. Als 1894 beim Hoch auf den Kaiser der Abgeordnete Liebknecht sitzen blieb, führte zur Ergänzung der Geschäftsordnung: Seitdem kann der Parlamentspräsident ein Mitglied wegen gröblicher Verletzung der Ordnung von der laufenden Sitzung ausschließen.



der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden