Zeit der Zärtlichkeit

Wahlbeteiligung Journalisten und Politiker ernten jetzt, was sie gesät haben: Eine depolitisierte Öffentlichkeit, in der bald ein Drittel der Menschen sich nicht mehr zuständig fühlt.

Man muss den Leuten nur lange genug erklären, dass sich das Politische verabschiedet hat. Dass die großen Fragen geklärt sind. Dass es ums Verwalten geht und nicht ums Gestalten. Und dann – bleiben die Leute zuhause und denken: Dafür braucht ihr mich doch nicht. Noch nie war die Wahlbeteiligung so niedrig wie dieses mal. 72 Prozent nach den ersten Schätzungen, noch weniger als im Jahr 2005. Wir nähern uns einer politischen Kultur, in der ein Drittel der Wahlberechtigten nicht mitmacht, sich entzieht, sich nicht zuständig fühlt.

Wer dafür verantwortlich ist? Die Politiker sind es und die Journalisten. Nach der Sommerpause, als klar wurde, dass Merkel und Steinmeier uns in diesem Jahr um den Wahlkampf betrügen würden, dass es keinen Kampf geben würde, keinen Streit, keine Auseinandersetzung – da geschah etwas Verwunderliches. Die Journalisten der großen Zeitungen begannen ihren Lesern zu erklären, dass die Ruhe, die Stille, die Eintracht nicht nur kein Makel dieses Wahlkampfes sei, sondern, ganz im Gegenteil, "ein Zeichen von Einigkeit, Gereiftheit und Stabilität". Das zumindest schrieb Berthold Kohler in der FAZ. "Pragmatischer und unpolitischer" seien die Deutschen, schrieb Kohler – und kreidete es ihnen durchaus nicht an. Das ist eine bemerkenswerte Argumentation: Depolitisierung als zivilen Fortschritt zu begreifen. In der Frankfiurter Allgemeinen Sonntagszeitung geriet Nils Minkmar, einer der klugen jungen Köpfe dieses neuen neokonservativen Journalismus, geradezu ins Schwärmen: "So geriet dieser Wahlkampf zum politischen Äquivalent der fröhlichen Fußballweltmeisterschaft". Weil eben alle so "fröhlich" waren, und so lieb zueinander.

Das gilt auch für die Journalisten, die mit dieser Koalition sehr zuvorkommend umgegangen sind. Es hatte ja schon zu Beginn der Legislaturperiode begonnen. "Wir sollten sie wie rohe Eier behandeln", hatte Hans-Ulrich Jörges vom Stern im November 2005 gefordert: "Diese Truppe ist das vorletzte Aufgebot der deutschen Politik und ich will nicht, dass es kaputtgeschrieben wird, weil dann das letzte Aufgebot regiert." Dem hat sich die Mehrheit der großen deutschen Medien angeschlossen. Wahlen werden in der Mitte gewonnen, lehren heutige Spindoktoren und Auflagen, das werden die Chefredakteure sich gedacht haben, offenbar auch.

Politiker wie Merkel und Steinmeier zerstören das demokratische Gewebe. Sie entpolitisieren. Sie bestärken bei den Menschen das Gefühl, Politik sei die Summe technischer Fragen von denen sie wenig verstehen, die so komplex sind, dass man sie Fachleuten überlassen sollte. Das ist aber nicht wahr.
Die Aufgabe der Politik liegt darin, die grundsätzlichen Wertentscheidungen klarzumachen und den Menschen zur Abstimmung zu präsentieren. Das geschieht aber nicht. Wir erleben, im Gegenteil, eine Verschleierung der Wertfragen, eine Überdeckung der Konflikte, eine Verschiebung ins Nebelige. Aufgabe der Journalisten müsste es sein, diesen Mechanismus aufzudecken. Aber es regiert die Kumpanei.

Geht es um nichts mehr? Sind alle Fragen geklärt? Liegen die Richtungsentscheidungen in der Vergangenheit? Wiederbewaffnung, Mitbestimmung, Notstandsgesetze, Ostverträge, Nachrüstung – darum wurde früher gekämpft. Und heute? Klima, Terrorbekämpfung, Finanzkollaps, Afghanistankrieg, soziale Gerechtigkeit, Bildung, bürgerliche Freiheiten, Atomenergie – sind das keine Themen, um dies zu streiten lohnt? Gibt es da nicht fundamentale, weltanschauliche Gegensätze, die aufeinanderprallen? Es sind nicht die Themen, die sich gewandelt haben. Es ist die politische Kultur. Sie ist konservativ geworden, unkritisch, bequem. Es lohnt sich, daran zu erinnen, dass die Interessengegensätze zwischen oben und unten, die am Grund jeder modernen Politik liegen, keineswegs überwunden sind. Der Bankvorstand und der Schalterangestelle haben nicht das gleiche Interesse, leben nicht in der gleichen Welt.
Der Grundkonflikt zwischen den Gewinnern der Globalisierung und den Verlierern, zwischen denen, die herrschen und wissen und denen, die beherrscht werden und nicht wissen, bleibt bestehen.
In dem Film "Die üblichen Verdächtigen" heißt es: "The greatest trick the Devil ever pulled, was convincing the world he didn't exist."

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Geschrieben von

Jakob Augstein

Journalist und Gärtner in Berlin

Jakob Augstein

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