PROLOG
Oft muss ich an einen Text denken, der grotesk und tragisch zugleich ist; Lukian von Samosata hat ihn im 2. Jahrhundert nach Christus geschrieben. Der ursprüngliche Text ist in griechischer Sprache verfasst und trägt den Titel Das Schiff oder Die Wünsche. Dabei geht es um einen langen Spaziergang, den Lukian und ein paar Freunde – Samippos und Timolaos sind die redegewandtesten – vom Hafen von Piräus bis nach Athen unternehmen. Sie erzählen einander von den fantastischen Plänen, die sie im Kopf haben und verwirklichen wollen. Lukian gibt sich als Moderator und überhäuft seine Begleiter mit zielgerichteten und oft provozierenden Fragen. Die Themen der Gesprächsbeiträge reichen vom Surrealen bis hin zum Grotesken, ohne jedoch die tragische Situation aus den Augen zu verlieren, in der Athen und viele andere griechische Städte sich damals befanden. Die Protagonisten schlagen meist gewagte und unrealistische Lösungen vor, um sie aus dieser verzweifelten Lage zu befreien. Vor einigen Wochen traf ich mich mit zwei außergewöhnlichen Freunden – Beppe Grillo und Gianroberto Casaleggio –, die mir vorschlugen, gemeinsam eine Reise durch unsere verrückte politische, soziale und ökonomische Landschaft zu unternehmen, das heißt, sich mit der furchtbaren Krise auseinanderzusetzen, die wir gerade durchleben. Ich schlug vor, die Reise Lukians von Samosata als Modell zu nehmen, und so geschah es. Machen wir uns also auf den Weg!
Dario Fo
ZENSUR UND VORURTEIL: VOM ALTEN GRIECHENLAND ZUM NETZ
Über die Grenzen des Bekannten hinaus
Grillo Ich glaube, es ist wichtig, am Beginn dieser Reise weit auszuholen, damit wir verstehen, was es heutzutage heißt, zu lernen, was Begriffe wie Geist und Intuition bedeuten, und vor allem, wie man es schaffen kann, das Denken von altbekannten Schablonen zu befreien.
Fo Ich würde euch gern einen großen griechischen Forscher vorstellen: Eratosthenes, ein Mathematiker, Astronom, Geograph und Dichter aus Kyrene (im heutigen Libyen), von dunkler Hautfarbe, heute würden wir sagen: ein Araber. Er war einer der wichtigsten Denker und Intellektuellen unserer Geschichte. In Syène (dem heutigen Assuan) des 3. Jahrhunderts vor Christus hatte Eratosthenes eines Tages einen genialen Einfall: Er schlug in genau dem Moment einen Pflock in die Erde, als die Sonne an ihrem höchsten Punkt stand – dieses Ereignis wiederholt sich nur einmal im Jahr, zur Sommersonnenwende. Dabei bemerkte er, dass die Sonne aufgrund ihres vertikalen Einfalls keinerlei Schatten erzeugte. Die Sonne stand genau senkrecht zur Erde. Tage zuvor hatte Eratosthenes einen Freund zu Pferd ins 850 Kilometer entfernte Alexandria geschickt und ihm den Auftrag erteilt, am selben Tag und im selben Augenblick einen anderen, völlig gleichartigen Pflock in die Erde zu rammen. Der Freund beobachtete, dass der Pflock einen Schatten von zwei Spannen warf. Da Eratosthenes die Höhe der Pflöcke und die Entfernung zwischen den beiden Städten kannte, berechnete er, dass die einfallenden Sonnenstrahlen in Alexandria einen Winkel von 7° 12’ bildeten, was dem Fünfzigstel eines vollständigen Kreisumfangs entspricht. Der Gelehrte brauchte daher nur noch die Entfernung zwischen Syène und Alexandria mit 50 zu multiplizieren, um den Erdumfang nahezu exakt zu bestimmen.
Grillo War er sich bewusst, was für eine Entdeckung er da gemacht hatte?
Fo Gewiss doch! Denn er besaß Vorstellungskraft. Er konnte ein gewöhnliches Bild in eine Dimension übertragen, die alle Grenzen sprengte. Mit Hilfe des Wissens kann man Dinge, Fakten und Situationen und die Logik in einer anderen Größenordnung betrachten. Das nenne ich Intelligenz. Aber um sie zu nähren, braucht man eine fachgerechte Schulung, in dem Sinne, wie man das Wort »Schule« in der Renaissance verstand: Man studiert Theorien, aber auch praktische Methoden, um die Theorien überprüfen zu können. So entfaltet sich Wissen, Bewusstsein.
Grillo Die Schule habe ich immer und in erster Linie als einen Ort betrachtet, an dem man Biologie, Physik und Chemie studiert, um den Aufbau der Natur zu erfassen und in Experimenten zu überprüfen. Aber wenn wir die Naturwissenschaften dort anwenden, wo wir leben, dann wäre das die beste Methode, um zu begreifen, dass Wissen konkret ist und unsere Art zu leben prägt.
Fo Ich denke hier an Leonardo. Er schulte sich in der Werkstatt großer florentinischer Meister, sein Wissen aber hat er in Mailand erlangt und umgesetzt, auf der Baustelle, in den Gebäuden, die er schuf, bei den Brücken und Schleusen, die er zur Steuerung und Regulierung der Gewässer baute. Wir wissen, dass er Beziehungen zu hervorragenden Wissenschaftlern, Ärzten und Gelehrten pflegte, die sich mit der Sonne, der Erde und ihren Bewegungen beschäftigten. Nur wenige Zeitgenossen sprachen damals über die Rotation der Erde und der Sterne ringsherum. Leonardo verfügte über ein für seine Zeit einzigartiges Bewusstsein. Das kann man aus den Aufführungen für die höfischen Feste erschließen, die er gestaltete: Über dem Bühnenraum brachte er große Kugeln an, die um einen riesigen Apparat kreisten. Und an den Kugeln hingen, als Allegorie der Schöpfung, nackte Frauen: ein Modell also, das auf einen Raum bezogen war, aber zugleich über den bekannten Raum hinauswies. Die Wissensvermittlung hat man je nach Epoche unterschiedlich gehandhabt, aber sie wurde dabei immer von der Zensur und den Vorurteilen gegenüber Neuerungen beeinträchtigt. Um sich mit den anderen Gelehrten auszutauschen, notierte Galileo Galilei seine Theorien in einem kaum verständlichen Dialekt, indem er die Dialoge des Schauspielers und Komödiendichters Ruzante nachahmte. So etwa vermittelte er anhand eines Dialogs zwischen einem Bauern und einem Besserwisser neue Erkenntnisse in der Astronomie, und in Anspielung auf die Planeten ließ er Käselaibe und Polentaformen über den Himmel wandern. Paradoxa, die wie absurdes Gerede erschienen – wie die Visionen eines Verrückten. Seine Theorien aber waren klar und eindeutig, nur eben verpackt, um die verbotene Wahrheit vor der Zensur zu verbergen. Dabei entwarf er eine für uns unermessliche und unvorstellbare Dimension des Universums. Unsere Vorstellung von Unendlichkeit ist ein Nichts gegenüber dem, was Galileo Galilei in der Rolle des Bauern dem verblüfften, konservativen Gelehrten vor Augen stellte.
Von Leonardo und Galilei bis zum Netz
Grillo Dieselbe Diskussion können wir mit Blick auf das World Wide Web führen. Denn dank des Internets steht uns eine unermessliche Vielzahl von Ideen zur Verfügung, und viele tausend kluge Köpfe können sich um eine bestimmte Idee scharen.
Fo Das verstehe ich nicht ganz.
Grillo Wir bewegen uns außerhalb unserer gewohnten Dimension und befinden uns in einem allgemeinen Transformationsprozess, der uns unverständlich erscheint, weil wir mitten darin stecken.
Casaleggio Was du vorhin über das Unmögliche gesagt hast, das möglich wird, erinnert mich an eine Legende über Dschingis Khan und dessen eher schwierige Kindheit: Sein Vater wurde getötet, und er musste mit seiner Mutter und den Geschwistern in die Berge flüchten. Ein feindlicher Stamm nahm ihn gefangen und wollte ihn töten. Viele Jahre lang war er gezwungen, in Armut zu leben und sich von dem zu ernähren, was er gerade vorfand. Aber er hatte immer das Ziel vor Augen, die Rolle des Stammesführers zurückzuerobern, die man seinem Vater entrissen hatte. Eines Tages fand sich dieser Junge, der eben erst dem Kindesalter entwachsen war, vor der Chinesischen Mauer wieder, die nie zuvor ein Mensch bezwungen hatte. Die Legende besagt, dass er mit seinem mongolischen Pferd an der unüberwindlichen Mauer entlangritt und sagte: »Ich werde sie niederreißen.« Damals war er allerdings nur ein Junge auf seinem Pferd ...
Grillo Er hatte Probleme ...
Fo Wir haben von Leonardo gesprochen, von Galilei, da muss man sich fragen: Woher kommt das Genie und was bringt es hervor? So ist es doch seltsam, dass viele große Männer der Weltgeschichte, berühmte Maler, bedeutende Architekten und Wissenschaftler allesamt Waisenkinder waren: Das gilt für Leonardo und Ruzante; Raffaels Eltern starben, als er noch ein Kind war, Leon Battista Alberti war der Sohn einer Minderjährigen ... Wie auch immer, diese mit überbordender Intelligenz ausgestatteten Persönlichkeiten wurden alle oder fast alle von ganz jungen Müttern geboren und wuchsen in äußerst schwierigen Verhältnissen auf, nicht in einer Familie im eigentlichen Sinn. Besteht da ein Zusammenhang? Ist es ein Zufall oder lässt sich hier eine besondere Verbindung erkennen?
Grillo Naja, der Zufall spielt eine große Rolle. Es gibt Wissenschaftler, die zu spektakulären Ergebnissen gelangen, aber in einigen Fällen ist ihnen das nicht voll und ganz bewusst. Da fällt mir der deutsche Chemiker Otto Hahn ein, dem 1944 der Nobelpreis zuerkannt wurde. Er entdeckte mit Hilfe seiner Kollegin und Freundin, der österreichischen Physikerin Lise Meitner, die Kernspaltung. Aus den USA schrieb ihm Meitner, er habe ganz offensichtlich das Atom in zwei Teile gespalten, ohne die Bedeutung dieses Experiments wirklich zu erfassen. Meitner hatte die Bedeutung von Hahns Entdeckung hingegen sehr wohl erkannt und lieferte die theoretische Erklärung für die erste Kernspaltung, die Otto Hahn gelungen war. Er erhielt den Nobelpreis, sie nicht, nur einige Würdigungen und den einen oder anderen Forscherpreis.
Casaleggio Halt, hier müssen wir eine Entscheidung treffen. Die Straße teilt sich. Gehen wir nach rechts oder nach links?
Fo Ist das eine politische Richtungsentscheidung?
Grillo Die ist nicht nötig. Seht mal, dort rechts liegt ein abgerissenes Schild. Wir müssen geradeaus gehen, dort rauf und dann weiter. Das ist unser Schicksal.
Fo Worüber sprachen wir gerade?
Grillo Über die Zufälligkeit von Ereignissen und die Individualität des Denkens.
Casaleggio Ich glaube, dass wir – aus Konformismus und um uns Legitimation zu verschaffen – dazu neigen, das zu sagen, was man von uns hören will. Ich sage lieber, was ich denke, und die anderen können mir zustimmen oder mir widersprechen. Das ist sportlicher.
Fo Genau andersherum denkt ein gewöhnlicher Politiker ... Es genügt, in diesen Tagen einmal den Fernseher einzuschalten, wo Leute wie der Bunga-Bunga-Berlusconi auftauchen, ihre Ammenmärchen und ihre verlogenen Versprechen verbreiten (»Alle Steuern müssen gesenkt werden«). Und dann ist da sofort wieder so einer mit einem aalglatten, unterwürfigen Gesicht, der von Gerechtigkeit faselt: »Die Reichen werden im Verhältnis mehr bezahlen als die Armen«, »Schaffen wir die Immobiliensteuer ab und besteuern wir doch alles neu und einfach« ...
Casaleggio Deshalb meine ich, dass wir uns etwas Originelles einfallen lassen müssen, um wirklich etwas zu verändern. Die Bewegung hat das gesamte System gegen sich, nur wenige sind auf unserer Seite. Wie Ennio Flaiano sagte, werden die anderen möglicherweise den Siegern zu Hilfe eilen, wenn die Bewegung Erfolg haben sollte. Das ist ein alter Nationalsport.