Erzählung und Vergangenheit

Leseprobe "Ich dachte damals, das sei ein Spiel gewesen: Wer verliert, putzt eben die Straße mit der Zahnbürste, na und? Und Nazis – das Wort klang aus ihrem weichen wienerischen Mund so, als handelte es sich um eine putzige Hunderasse."
Erzählung und Vergangenheit

OFF/AFP/Getty Images

PROLOG

Ich war vier Jahre alt, als ich das erste Mal von zu Hause fortlief. Ich kann mich nicht daran erinnern, doch mir wurde diese Geschichte immer wieder und von verschiedenen Seiten auf sehr widersprüchliche Weise kolportiert. Mein Vater erzählte, man habe an jenem Sonntagnachmittag mein Verschwinden erst bemerkt, als der Anruf der Bahnhofsaufsicht gekommen sei. Man habe mich im Süßwarenladen der Bahnhofspassagen Alexanderplatz aufgegriffen, wo ich auf der kostenlosen Herausgabe einer Tüte Schokolinsen bestanden hätte.

Meine Mutter berichtete, sie habe das Kinderbett leer vorgefunden, als sie die Bügelwäsche in den Schrank legen wollte. Glücklicherweise habe es in genau diesem Augenblick an der Tür geklingelt. Es sei die Nachbarin gewesen, die mich weinend und orientierungslos im Bahnhof habe herumirren sehen. Meine Mutter pflegte ihre Erzählung mit allerhand interessanten, wenngleich auch variierenden Details auszuschmücken: Mal trug ich einen Schlafanzug, mal war ich komplett angezogen. Mal hatte ich ein Eis in der Hand, mal war’s ein Lutscher. Aber immer stand die Nachbarin aus dem vierten Stock vor der Tür.

Und dann gab es noch die Version meines damals neunjährigen jüngsten Bruders. Er behauptete beleidigt, nicht ich sei abgehauen, sondern er. Und es sei auch kein Süßwarenladen gewesen, sondern ein Tabakgeschäft.

Dies ist eine der Geschichten, die in meiner Familie immer wieder erzählt wurden. Und sie ist wahr – genauso wahr wie alle folgenden Geschichten.

EINS

Ich war also vier Jahre alt, als ich das erste Mal von zu Hause fortlief. Ich kann mich daran erinnern, weil meine Mutter mich früher als sonst zum Mittagsschlaf ins Bett schickte. Normalerweise durfte ich sonntags nach dem Essen noch eine halbe Stunde bei den Erwachsenen spielen. Für normale Sonntage wie diesen hatte ich ein wechselndes Arsenal an Spielsachen, das ich in meiner Spieldecke ins Esszimmer zu schleifen und unter dem Esstisch auszubreiten pflegte. An normalen Sonntagen wie diesem saßen meine Eltern und meine beiden größeren Brüder um diesen Tisch. Diesmal war sogar mein dritter und ältester Bruder da, der sich immer seltener blicken ließ.

Er war neunzehn, sah toll aus und trug eine Lederjacke, die unglaublich gut roch und bei jeder seiner Bewegungen knarzte wie ein alter Baum. Je erregter das Gespräch am Tisch wurde, desto schneller und lauter schien auch die Jacke zu sprechen. Ein faszinierender, aber irgendwie auch beunruhigender Vorgang, den ich gebannt verfolgte, bis das Gesicht meiner Mutter unter dem Tisch erschien und mir mit großer Bestimmtheit bedeutete, dass ich diesen Ort ganz schnell in Richtung Kinderzimmer zu verlassen hätte.

Ich ließ mir Zeit. Denn so sehr ich es auch hasste, wenn sie sich stritten – noch mehr hasste ich es, ihnen aus der Verbannung dabei zuhören zu müssen. Doch es nutzte nichts, irgendwann war ich allein in meinem blöden Bett im Kinderzimmer. Allerdings nicht sehr lange, denn bald wurde auch mein jüngster Bruder rausgeschmissen. Er, der mit neun Jahren eigentlich schon lange keinen Mittagsschlaf mehr machen musste. Er, der immer so tat, als würde er die Erwachsenen verstehen. Er, der im Doppelstockbett immer oben schlafen durfte.

Fluchend schmiss er die Kinderzimmertür zu, klärte mich über »die Spießigkeit der Alten« auf und ließ seine Wut mit kindlicher Grausamkeit an meiner Lieblingspuppe aus, indem er ihr mit den Worten »Die sieht doch so viel besser aus!« das Gummigesicht eindrückte. Danach kletterte er in sein Bett und schwieg beleidigt.

An normalen Sonntagen hätte ich nach der Sache mit der Puppe etwas nach ihm geworfen und wäre petzen gegangen. Doch dieser Sonntag war anders. Vielleicht war ich erwachsener geworden, vielleicht fiel auch einfach nur eine Tür zu viel zu – es spielte keine Rolle. Ich wollte weg. Türmen.

Türmen. Das war das Wort, das meine Mutter benutzte, wenn sie von England sprach. »Wir sind getürmt«, sagte sie und erzählte mir irgendwann auch von der Zahnbürste, mit der sie und ihre Schwester in Wien unter Aufsicht der Nazis die Straße putzen mussten. Sie erzählte diese Geschichte beiläufig. Wie eine Episode, die sie normalerweise vergessen hätte. Wie eine Anekdote, an die man sich nur wegen einer Nebensächlichkeit erinnert: eine Zahnbürste, die danach zu nichts mehr zu gebrauchen war.

Ich dachte damals, das sei ein Spiel gewesen: Wer verliert, putzt eben die Straße mit der Zahnbürste, na und? Und Nazis – das Wort klang aus ihrem weichen wienerischen Mund so, als handelte es sich um eine putzige Hunderasse. Doch türmen – das Wort war toll.

Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie sich mit ihren Habseligkeiten verwegen von einem Turm zum nächsten schwang und irgendwann in London ankam. So was wollte ich auch versuchen. Doch die Zeit schien einfach noch nicht reif, und es gab in meiner Gegend auch irgendwie nicht genügend Türme. Deshalb kam ich nur bis zum Bahnhof Alexanderplatz.

Den Weg dorthin hätte ich mit geschlossenen Augen gehen können. Das hatte ich oft an der Hand meines Vaters geübt, wenn er mich am Wochenende zum Zigarettenholen mitnahm. Wir hatten einen Geheimcode. Einmal die Hand drücken: Bürgersteig runter, zweimal die Hand drücken: Bürgersteig rauf. Anfangs blinzelte ich noch manchmal, irgendwann nicht mehr. Ich öffnete die Augen erst, wenn ich den Laden roch, in dem mein Vater sich Zigaretten und mir Süßigkeiten kaufte. Das Geschäft duftete nach Tabak und Kaffee. Ich mochte diesen Duft, konnte ihn aber nicht genießen, weil die Verkäuferin eine fette Idiotin war. Sie behandelte mich, als sei sie mit mir verwandt, und tätschelte mit ihren dicken Wurstfingern mein Kinn, als wollte sie es mir bei nächster Gelegenheit klauen, weil sie selbst keins mehr hatte. Das alles hätte ich leicht ertragen, wäre sie nicht so scharf auf meinen Vater gewesen: »Na, Herr Stellvertretender Minister?«, pflegte sie zu schleimen. »Die Guten, wie immer?« Mein Vater nickte. »Und für die Kleine: Schokolinsen!«, schrie sie, als sei ich begriffsstutzig oder taub. Ich hasste die Dicke. Und sie war immer da. Vielleicht war sie zu fett, um diesen Ort zu verlassen. Vielleicht war sie so fett wie der dicke Herr Bell, von dem mein ältester Bruder mir mal erzählt hatte.

Der dicke Herr Bell war irgendwann so dick, dass er nicht mehr durch seine Wohnungstür passte. Er saß den ganzen Tag auf dem Teppich und wartete auf seine Nachbarin, die ihm etwas zu essen brachte. Der dicke Herr Bell wurde immer trauriger, weil er gar nicht mehr wusste, was in der Welt passierte. Doch irgendwann kam ihm eine Idee.

Er bat seine Nachbarin, ihm einen langen Draht, dünnes Blech, einen Hammer und zwei Zangen zu besorgen. Jetzt hat er den Verstand verloren, dachte die Nachbarin. Doch sie brachte ihm, was er wollte. Und der dicke Herr Bell erfand das Telefon und wurde irgendwann wieder fröhlich, weil er Leute anrufen konnte, die ihm erzählten, was in der Welt passierte.

Die dicke Frau im Tabakladen war nicht fröhlich. Sie war nur fett und laut. Auch als sie mich an diesem Sonntagnachmittag durch die Schlange erspähte und meine Pläne durchkreuzte. Sie stemmte ihre Oberschenkelarme in die Hüfte und schrie: »Na, was macht denn die kleine Motte hier?! Wo ist denn der Vati?!« Das Wort »Vati« erreichte nur noch durch den Hall der Bahnhofspassage mein Ohr, wo ich der Nachbarin aus dem vierten Stock in die Arme lief.

»Was machst du denn hier so ganz allein?« »Ich bin getürmt«, erklärte ich. »Soso«, sagte sie, kaufte mir ein Eis und brachte mich nach Hause. Meine Mutter war kreidebleich, als sie die Tür öffnete. Sie bedankte sich kleinlaut bei der Nachbarin und zog mich in die Wohnung.

»Was hast du dir dabei gedacht?« »Ich bin getürmt. Genau wie du!« »Unser Schwesterchen ist getürmt«, feixte mein mittlerer Bruder, der plötzlich hinter ihr stand. »Alle wollen es, und sie macht’s einfach.« Er war vierzehn, und ich sah ihn nur am Wochenende, wenn er aus dem Internat nach Hause kam.

Meine Mutter fuhr herum. »Geh sofort in dein Zimmer, wir sprechen uns noch!«, herrschte sie ihn an.

»Wir sprechen uns noch«, äffte mein Bruder sie nach und verschwand in seinem Zimmer. Meine Mutter schimpfte mit mir, und ich musste ihr versprechen, dass ich so etwas nie wieder tun würde.

»Bilde dir bloß nichts drauf ein!«, sagte mein jüngster Bruder, als wir abends im Bett lagen. »Ich bin schon abgehauen, da lagst du noch als Quark im Schaufenster.«

»Gar nicht.« »Du hast doch überhaupt keine Ahnung.« »Und du bist doof.« »Schnauze.« »Selber.« Meine Mutter kam herein. »Schluss jetzt«, sagte sie streng und zog die Vorhänge zu. Sie kam an unser Bett, küsste uns, und wir sagten unseren Gutenachtspruch auf, jeder immer ein Wort.

Ab – jetzt – ist – Ruhe. Dann machte sie das Licht aus und ging.

Wenn es nach meinem ältesten Bruder ging, war jenem spektakulären Fluchtversuch bereits ein anderer vorausgegangen. Damals war ich zehn Monate alt und er sechzehn Jahre. Wir bewohnten ein Haus am Stadtrand und verfügten sowohl über einen Hund namens Fred als auch über eine ältliche Haushälterin mit Überbiss: Agnes.

Es war ein gewöhnlicher Vormittag im Sommer. Meine Eltern arbeiteten, meine beiden jüngeren Brüder waren im Kindergarten und in der Schule. Ich war mit meinem ältesten Bruder, Hund Fred und Agnes allein. Agnes rauchte in der Küche, mein Bruder war in seinem Zimmer, Fred lungerte im Garten herum, und ich spielte auf dem Wohnzimmerteppich.

Ob aus Langeweile oder Neugier – unbeobachtet und mit nicht mehr als ein paar lässig um die Hüften geschwungenen Stoffwindeln kroch ich irgendwann aus dem Haus, durch den Garten und auf die Straße. Der Hund entdeckte mich, rannte mir hinterher, trug mich an den Windeln im Maul zurück und legte mich schweigend in den Flur, worauf ich in gellendes Geschrei ausbrach. Mein ältester Bruder stürzte aus seinem Zimmer, setzte mich ins Laufgitter, rief nach der nutzlos in der Küche rauchenden Agnes und knallte ihr eine. Agnes wurde noch am selben Tag gefeuert, und auch der Hund muss kurz darauf gestorben sein, denn ich kann mich beim besten Willen an kein Hundegesicht erinnern. Wir verließen das Haus am Stadtrand und zogen in eine Neubauwohnung am Alexanderplatz.

Von da an ging ich in die Wochenkrippe – eine fabelhafte Einrichtung: Montagfrüh wurde man frisch gewindelt abgegeben und Freitagabend im gleichen Zustand wieder abgeholt. Dazwischen galt meine ganze Aufmerksamkeit vermutlich der Aufnahme und dem Ausscheiden von Nahrung.

Auf die Wochenkrippe folgte der Kindergarten. Und für den Kindergarten hatte ich einen Fahrer, der mich dorthin brachte, nachdem er meinen Vater bei der Arbeit abgesetzt hatte. Das Auto war ein schwarz glänzender Tatra, und der Fahrer hieß Herr Wolf. Herr Wolf war ein großer, breitschultriger Mann und hatte immer nasse Haare, die er an jeder roten Ampel mit einem braunen Kamm akkurat nach hinten kämmte, so dass sie am Hinterkopf eine Art Scheitel bildeten.

Herr Wolf brachte mich zu der kleinen pudelköpfigen Tante Ritter und der strengen, hässlich bebrillten Tante Liebig. Die beiden ergänzten sich vortrefflich. Was das weiche Herz der einen durchgehen ließ, rückte die andere mit mahnender Stimme und fester Hand wieder zurecht.

Einmal gab es zum Mittag Sülze, also Fleischfetzen mit Fettaugen in Aspik. Tante Ritter ging um den Tisch herum und versuchte uns das eklige Essen irgendwie schmackhaft zu machen. »Guck mal, das da hat ein Gesicht, es lacht dich an. Es will gegessen werden, mmmh.« Die meisten machten gute Miene zum bösen Spiel und schoben sich den Fraß in homöopathischen Dosen irgendwie rein. Wenn Tante Liebig hingegen ihre Runde drehte, waren große Gabeln angesagt. Auch bei mir. Sie beugte sich mit ihren schweren Brüsten über meine Schulter und zeigte mit noch schwererem Finger auf meinen jungfräulichen Teller: »Was ist denn das? Da liegt ja noch alles drauf! Jetzt aber ganz schnell weg damit!« Sie griff nach dem unberührten Besteck, spießte ein großes Stück des fleischfarbenen Glibbers auf und hielt es mir vor die Nase. Nicht sehr lange, weil ich kotzen musste und damit das eklige Zeug auf meinem Teller endgültig ungenießbar machte.

Ebenso ungern erinnere ich mich an die Faschingsfeiern im Kindergarten. Während die anderen jedes Jahr in neuer Gestalt erschienen, war ich das Blumenmädchen, und zwar immer: Sommerkleid, Kopftuch und ein kleines Körbchen mit Kunstblumen. Einmal gab mir meine Mutter ein rotes Kopftuch und legte in das Körbchen eine leere Rotweinflasche und zwei Stücke Marmorkuchen: Rotkäppchen – es war demütigend.

Für den letzten Fasching im Kindergarten wollte ich das Blatt wenden. Und Oma Potsdam sollte mir dabei helfen. Sie war die Mutter meines Vaters, und wir nannten sie Oma Potsdam, um sie von Oma London zu unterscheiden.

Oma Potsdam ging mit mir in einen Laden, wie ich ihn vorher und auch nachher nie wieder gesehen habe. Von außen ein Geschäft für »Textilien und Kurzwaren«, drinnen eine bunte Wunderhöhle, vollgestopft mit Farben. Es konnten sich höchstens zwei oder drei Kunden gleichzeitig darin aufhalten, so eng war es dort. Die Tische bogen sich unter der Last großer, vielfarbiger und glänzender Stoffballen, in den Regalen türmten sich Garnrollen und Wollknäuel, von der Decke hingen lange bunte Bänder in allen Materialien und mit verschiedensten Mustern. Es gab große Holztruhen mit Tausenden Stoffresten und Kisten voller Knöpfe, Pailletten und Strass.

Die Besitzerin des Ladens hieß Eva, meine Oma duzte sie. Eva war ungefähr vierzig und unglaublich schön. Sie hatte feuerrotes lockiges Haar und graue Augen, deren Lider halb geschlossen waren, so dass sie immer irgendwie müde aussah. Meine Oma nannte es »Schlafzimmerblick«. Dass dieses Wort eine andere Bedeutung hatte, als ich ihm gab, lernte ich erst später. Auch erzählte sie mir irgendwann, dass Evas rotes Haar gar nicht echt sei und sie eigentlich das mittelblonde glatte Haar ihres Vaters habe – eines asthmatischen Bäckermeisters, bei dem ich immer unsere Brötchen holte.

Wir zwängten uns durch Evas Laden und suchten aus, was man für eine morgenländische Prinzessin brauchte. Eva nahm meine Maße und bestellte uns für den nächsten Tag in ihre Wohnung, deren Wände mit Stoffen tapeziert und mit Bildern geschmückt waren, die nur ein einziges Motiv hatten: Eva.

Eva schneiderte mir einen paillettenbesetzten Traum aus dunkelblauer Kunstseide, mit Schleier und langer Schleppe. Die Lebenszeit dieses Traumes betrug exakt zwei Stunden und endete im Hausflur meiner Oma als rußiges Nichts mit zerrissener Schleppe, einem verstauchten Knöchel und schlimmen Tränen. Völlig unbemerkt hatte sich die Prinzessin aus der Wohnung geschlichen, um ihre Großmutter mit einem Eimer Kohlen aus dem Keller zu überraschen. Scheherazade sollte den Hinterhof in Potsdam niemals verlassen.

Ich liebte es, zu Oma Potsdam zu fahren. Ich durfte aufbleiben, so lange ich wollte, ich durfte Westfernsehen gucken und dabei meiner Oma Zigaretten drehen. Sie besaß eine silberne Tabakdose und eine Zigarettenspitze aus Elfenbein, an der sie elegant wie ein Filmstar zog, während sie mir Geschichten von früher erzählte. Geschichten aus einer Welt, die mit der, in der sie jetzt lebte, nicht das Geringste gemein hatte. Es war die Welt einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie, die aus einem Kaff bei Breslau nach Berlin gekommen war. Ihr Vater war eines von acht Kindern, hatte einen Zwillingsbruder und starb mit nur einundfünfzig Jahren. »An gebrochenem Herzen«, wie meine Oma immer wieder seufzend und nicht ohne eine gewisse Dramatik betonte. Über ihre strenge Mutter sprach sie kaum.

Sie zeigte mir Fotos von ihrem Bruder, der im Ersten Weltkrieg in die afrikanischen Kolonien ging und dort an Gelbfieber starb. Sie zeigte mir ihre schöne Schwester – eine Sängerin und Tänzerin, die von den Frauen hochrangiger Nazis protegiert wurde, bis man sie dann doch nicht mehr so toll fand und nach Theresienstadt deportierte.

Sie erzählte mir von ihren drei Ehemännern, von denen einer schlimmer gewesen sei als der andere. »Sie haben mich alle betrogen«, seufzte meine Oma. »Aber sie sahen blendend aus!«

Sie zeigte mir das Foto eines jungen Mannes, der meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah. Er trug die Uniform eines Offiziers im Ersten Weltkrieg und lächelte charmant in die Kamera. »Ein schöner Nichtsnutz, ein Schürzenjäger. Er ist leider wahnsinnig geworden.« Bevor das geschah, ließ sie sich von ihm scheiden, um kurz darauf einen Filmkritiker zu heiraten, der ihr das Berlin der zwanziger Jahre zu Füßen legte. Allerdings nur so lange, bis er die Füße anderer Frauen verlockender fand.

Folgte Ehemann Nummer drei: ein Biologe, Kunstliebhaber und Übersetzer. Er war zwanzig Jahre älter als meine Oma und holte sie in das kleine oberbayerische Dorf, in dem er lebte.

»Sie haben sich das Maul zerrissen, wenn wir die Dorfstraße entlangliefen«, erzählte sie mir und zog an ihrer elfenbeinernen Zigarettenspitze. »›Die geschiedene Jüdin‹ haben sie mich genannt. Aber ich war besser als dieses Pack!« Sie stieß den Rauch mit einer Verachtung aus, als befände sich das Dorf vollzählig mit uns im Raum.

Sie war besser und bewies es den Leuten, indem sie katholischer wurde als sie. Sie machte die Religion zu ihrem neuen Hobby. Doch was sie anfangs noch aus einer Mischung aus Trotz, Langeweile und Neugier tat, wurde mehr und mehr zum Lebensinhalt. Irgendwann gab sie nicht nur vor zu glauben – sie glaubte tatsächlich.

Ihren Sohn, der später mein Vater werden sollte, schickte sie auf ein katholisches Internat in den Bergen. Dort wurde er ein fleißiger Ministrant, und wäre er nicht beschnitten gewesen, hätte er wohl bald gänzlich vergessen, dass er Jude war. Er lernte, was ein guter Katholik zu lernen hatte. Pater Richard lehrte ihn Latein, bei Pater Rupert beichtete er, und Pater Martin erklärte ihm die Welt. Allerdings auf eine Weise, die der Gestapo nicht gefiel. Jetzt war er Antifaschist und Jude – das ging gar nicht, er musste weg. Aus dem Internat und aus dem Land. Ein jüdischer Kindertransport brachte ihn nach England.

Seine Mutter durfte bleiben. Sie war durch die Verbindung mit einem nichtjüdischen Mann noch geschützt. Später versteckte er sie, und als der Krieg vorbei war, wurde die Ehe wegen des wiederholten Vorwurfs der Schürzenjägerei geschieden. Meine Oma lebte noch zwei Jahre im Gästezimmer ihres Ex-Mannes und seiner jungen Frau, und als mein Vater aus dem Exil zurückgekehrt war, fand er für sie die kleine Wohnung in Potsdam, in der sie auch jetzt noch lebte.

Meine Oma liebte den Schein und die Welt der schönen Dinge. Sie verlor sich gern in der Vergangenheit, die sie wie einen Schatz in ihrem alten Sekretär verbarg. Manchmal gab sie mir den Schlüssel und erlaubte mir, in die vielen kleinen Schubladen zu schauen, in denen sie die Insignien eines anderen Lebens aufbewahrte.

Sie lebte in der Vergangenheit, ohne zu vergessen, dass ich ein Teil ihrer Gegenwart war. Und diesen Job machte sie gut. Sie ließ mich in ihrem Bett unter dem hölzernen Kreuz schlafen und nächtigte selbst auf der unbequemen Couch im Wohnzimmer. Wenn ich morgens aufwachte, kroch ich zu ihr unter die Decke, und sie las mir mit ihrer knarzigen warmen Stimme Indianergeschichten vor. Sie kochte mir Grüne Bohnen, buk mir Schokoladenkuchen und kaufte mir kleine Ringe mit leuchtenden bunten Glassteinen.

Nur die Sonntagvormittage waren öde. Da nahm sie mich mit in die Kirche. Eine Stunde elender Langeweile mit ernst dreinblickenden alten Leuten und einem gelbgesichtigen Pfarrer, der schlimm aus dem Mund roch. Wenn er vor dem Gottesdienst am Kirchenportal stand, um seine Gemeinde persönlich in Empfang zu nehmen, holte ich tief Luft und hielt sie an, bis ich drin war. Später begriff ich, dass ich einfach nur durch den Mund atmen musste, um mir das Leben zu retten. Ich drängte Oma Potsdam dazu, sich möglichst weit hinten in die Bank zu setzen, doch selbst da schien mich der stinkende Atem des Gottesmannes zu erreichen.

Mein Vater hatte seiner Mutter strikt untersagt, mich mit in die Kirche zu nehmen. Nicht etwa, weil er mir die endlosen Predigten, Gebete und das Psalmengesinge ersparen wollte. Nein, mein Vater machte sich Sorgen, dass mein zart heranwachsendes Klassenbewusstsein untergraben werden könnte.

Oma Potsdam wiederum hegte keine missionarischen Absichten – ob ich an Gott glaubte oder nicht, war ihr egal. Ihr ging es einzig darum, ihrem Sohn eins auszuwischen. Sie wusste, wie sehr mein Vater ihren Katholizismus hasste. Außerdem machte sie ihn verantwortlich für dieses »Desaster«, wie sie es nannte. Ich wusste damals natürlich noch nicht, was das bedeutete, erkannte aber an dem verächtlichen Blick, den sie bei diesem Wort durch ihre kleine Potsdamer Hinterhofwohnung schickte, dass es irgendetwas mit ihrem jetzigen Leben zu tun haben musste. Dass sie mich in die Kirche schleppte und im Westfernsehen Sesamstraße gucken ließ, war ihre kleine Rache an ihrem Sohn. Es bereitete ihr diebisches Vergnügen, ihn zu hintergehen.

»Der Schlag soll mich treffen, wenn ich mir das von deinem Vater verbieten lasse«, sprach sie und ließ die Zigarette aufglühen, die ich ihr gedreht hatte.

Eines Tages wurde sie wirklich vom Schlag getroffen. Als sie siebzig Jahre alt war, fiel sie um und war tot. Mein Vater saß in der Küche und rauchte. »Oma ist tot«, erklärte er mit ausdrucksloser Miene. »Morgen ist ihre Beerdigung. Willst du mit? Du musst nicht.« Ich weinte. Er rauchte. Ich war zehn Jahre alt. Natürlich wollte ich mit.

Bei ihrer Beerdigung sprach der mundriechende Priester weihevolle Sätze, und die rothaarige Eva tauschte ihren Schlafzimmerblick durch einen trauerumwölkten. Und mein Vater rauchte.

Mein Vater rauchte immer. Auch wenn Oma London kam, die es nicht leiden konnte, wenn er rauchte. Sie mochte meinen Vater nicht und hatte ihrer Tochter nie verziehen, dass sie sich von einem zum Katholizismus und später Kommunismus konvertierten Juden nach dem Krieg ausgerechnet ins verhasste Deutschland hatte verschleppen lassen. Und dann auch noch in den Osten. Tief in ihrem Inneren verachtete sie ihre Tochter dafür, dass sie sich das hatte bieten lassen, und ließ es meine Mutter auch Jahrzehnte später noch auf sehr subtile Weise spüren.

Oma London hieß Oma London, weil sie und ihr Mann William nach dem Krieg nicht nach Wien zurückgekehrt, sondern in England geblieben waren. Die beiden lebten in einem wohlhabenden Vorort von London, und im Sommer fuhren sie in ihr Ferienhaus auf die milden Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls.

Oma London war schon über siebzig und immer noch eine Schönheit – elegant gekleidet, mit perfekt frisiertem Haar und langen, rot lackierten Fingernägeln. Sie sprach feinstes Wienerisch, das sie sorgsam mit englischen Vokabeln versetzte – eine Dame in Vollendung.

William, den wir nur Willy nannten, war ihr zweiter Mann und stand ihr an Noblesse in nichts nach. Er trug ein sorgsam gestutztes Menjou-Bärtchen, sein dunkles gewelltes Haar war mustergültig nach hinten gekämmt – er war der Inbegriff des perfekten Kavaliers mit dem Charme und der Nonchalance eines Wiener Lebemannes.

Willy war Zeichner und Bildhauer mit einer besonderen Leidenschaft für Tiere. Er schuf große Bronzeplastiken, die gern in diverse Zoos gestellt wurden, und zeichnete Cartoons mit lustigen Hundegeschichten. Uns Kinder beschenkte Willy hauptsächlich mit Bengo. Bengo war ein Hundewelpe, der als Comic- und Zeichentrickfigur oder als Kuscheltier sein kleines widerspenstiges Dasein fristete.

Mein Kinderzimmer wurde von zahllosen Bengos bevölkert. Den Bengo-Mittelpunkt meines Lebens allerdings bildete ein schmaler Teppich, der vor meinem Bett lag, bis er fadenscheinig wurde und in einer gemeinen Nacht-und-Nebel-Aktion von irgendeinem mitleidlosen Mitglied meiner Familie entsorgt wurde.

Die seltenen Besuche meiner Großeltern aus London waren ein Ereignis, denn Oma London verstand es fabelhaft, uns das Gefühl zu vermitteln, nicht sie würde uns besuchen, sondern umgekehrt.

Gemeinsam mit Willy residierte sie meist in einem teuren Hotel im Zentrum der Stadt. Dort gab sie uns Audienzen, die stets nach einem von ihr festgelegten Protokoll abzulaufen hatten. Für gewöhnlich warteten meine Eltern und wir Kinder in der Hotelhalle, bis meine Großmutter und Willy dort erschienen, um von uns ins Restaurant eskortiert zu werden. Oma London begrüßte jedes Familienmitglied mit mondäner Gelassenheit und hauchte kultivierte Küsschen. »Ja schau, Sweetie!«, pflegte sie zu säuseln, wenn ich an der Reihe war. »Look at you, was bist du groß geworden!« Sprach’s, nahm mein Gesicht zwischen ihre kühlen Hände und küsste mich auf die Stirn, während ich ihren kostbaren Duft aufsog. Sie roch gut. Nach erlesenem Parfüm und weiter Welt.

Die Betriebstemperatur von Willy lag um einiges höher als die meiner Oma. »Servus, Kleines!« Er grinste breit und nahm mich in den Arm. Und er war es auch, der mich während des endlos langen Aufenthalts im Hotelrestaurant mehrfach vor dem Tod durch Langeweile rettete.

Willy hatte immer einen Skizzenblock und Stifte dabei und zeichnete mir alles, was ich wollte. Hunde und Katzen, Kellner mit spitzen Gesichtern und Damen mit komischen Hütchen, das Essen auf dem Tisch, die gelangweilten Gesichter meiner Brüder und verschiedenartige Affen.

Die Zeit im Restaurant verging, bis Oma London irgendwann dem Kellner mit einer gnadenvollen Geste bedeutete, er möge die Rechnung bringen. Die Gesichter meiner Brüder entkrampften sich, in die Augen meines Vaters kehrte das Leben zurück, und meine Mutter schaute dankbar ins Nichts. Endlich war es vorbei, und auf die zähen Stunden im Restaurant folgte nun die Übergabe der Geschenke in der Hotelsuite. Für meine Brüder und mich waren das paradiesische Momente. Ich bekam Schokolade und Bengo-Sachen, für meine Brüder gab es die obligatorischen Levi’s, für meinen Vater Orangenmarmelade, Zigaretten und Ingwerstäbchen, und meine Mutter nahm traditionell die nach Mottenkugeln riechenden samtenen Morgenmäntel und seidenen Nachthemden in Empfang, für die meine Oma keine Verwendung mehr hatte. Meine Mutter war eine stolze Frau und verzog keine Miene. Mit einer fast beiläufigen Geste und einem kühlen »Danke, Mama« nahm sie die Sachen entgegen und legte sie sofort beiseite, während sie sich angeregt mit Willy unterhielt. Die Demütigung schien sie nicht nur zu verfehlen, sondern wurde von ihr postwendend an die Absenderin zurückgeschickt. Meine Mutter war ganz die Tochter der ihren. »Ich liebe sie«, sagte meine Mutter einmal. »Doch ich friere, wenn sie da ist.«

25.07.2012, 18:04

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