Versprechen und Realität

Leseprobe "Allen Menschenwürdeartikeln und den Sonntagsreden der Politiker zum Trotz wird immer deutlicher, dass eben nicht die Wirtschaft für den Menschen da ist, sondern umgekehrt."
Versprechen und Realität

Foto: John Macdougall/AFP/Getty Images

EINLEITUNG

Wenn wir Begriffe wie »verwahrlost«, »verkommen« oder »verlottert« hören, dann denken wir meist an die geistig-moralisch abgewrackten Individuen in den Souterrains, aber auch in den Penthäusern der Gesellschaft: an die unteren ebenso wie an die oberen Zehntausend. In Wahrheit hat der Prozess von »Parasitismus und Fäulnis des Kapitalismus«, den ausgerechnet der totalitäre Diktator Lenin jenem besten aller nur denkbaren Gemeinwesen schon vor fast hundert Jahren vorhersagte, längst den größten Teil unserer Gesellschaft erfasst. Nicht nur »irgendwas«, sondern nahezu alles läuft schief in der Republik.

»Wenn in Deutschland die Zahl der Analphabeten zunimmt und die Kanzlerin in ihrer Neujahrsbotschaft ausführlich auf die bevorstehende Frauen-Fußball-WM eingeht«, klagt der Publizisten-Imitator Henryk M. Broder, »Bildung und Wissenschaft aber nur mit zwei Nebensätzen streift, dann kann man sehr wohl von ›Dekadenz‹ sprechen.« Nun entbehrt es nicht einer gewissen Tragikomik, wenn eine Art »Wandelnde Dekadenz in der Endphase« selbst von Dekadenz spricht. Aber wo er recht hat, hat er recht.

Ein weinerliches Loblied auf »die gute alte Zeit« wird man in diesem Buch allerdings nicht finden – obwohl die Versuchung für jenes verzweifelte o tempora, o mores! – »Was für Zeiten, was für Sitten!« – des römischen Senators Cicero oder gar für ein resigniertes o tempora o kokolores größer nicht sein könnte. Denn war nicht wirklich »früher« eine Menge besser? Früher wurden deutsche Arbeitnehmer weltweit beneidet: Ihre Arbeitszeiten waren kürzer, ihr Urlaub länger, ihre Einkommen höher und um Weihnachts- und Urlaubsgeld angereichert, ihre Sozialleistungen und Altersabsicherung besser und ihre Arbeitsplätze sicherer als in fast allen anderen Ländern der Erde.

Heute werden sie als wegen ihrer Hungerlöhne, ihrer prekären Jobs, die morgen schon weg sein können oder es bereits sind, wegen ihrer unzumutbaren Arbeitsbedingungen und ihrer vorprogrammierten Altersarmut eher bedauert oder mitleidig belächelt. Lebenswichtige Garantien wie »Die Renten sind sicher« wurden über Nacht zu Aprilscherzen und bestenfalls mit hämischem Galgenhumor zitiert. Früher waren »deutsch« und »unbestechlich« ein und dasselbe Wort. Schmiergeld wurde ganz weit weg irgendwo im Orient vermutet und entsprechend als Bakschisch bezeichnet. Vetternwirtschaft und Amigosysteme waren die – überdies meist auf Gemeindeebene beschränkte – Ausnahme.

Heute steht fast täglich ein anderer deutscher Wirtschaftskapitän oder Politiker wegen Korruptionsverdachts in den Schlagzeilen. Abgeordnetenbestechung ist erlaubt. Schon an der Uni lernen die Studenten, dass skrupellose Raffgier »rational«, Integrität und Moral dagegen etwas für unterbelichtete Weicheier ist und dass nur darauf ankommt, sich nicht erwischen zu lassen. Früher war »pünktlich wie die Bahn« ein geflügeltes Wort. Schon eine fünfminütige Verspätung galt fast als Skandal. Und hätten früher die Nachrichten verkündet, die meisten Züge müssten wegen Schneefalls und Kälte ausfallen, so hätte man an einen Karnevalsulk geglaubt.

Heute ist ein pünktlicher Zug reiner Zufall – auch eine kaputte Zeiger-Uhr geht ja, wie ein Kalauer besagt, zweimal am Tag richtig. Und privat heruntergewirtschaftete und verkommene Katastrophenklitschen wie die Berliner Deutsche-Bahn-Tochter SBahn sehen sich außerstande, im Winter überhaupt noch irgendeinen Zugverkehr verbindlich zu garantieren. Vermutlich hätten sich selbst die Betreiber der ersten Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth im Dezember 1835 – vor fast 170 Jahren! – über solche dümmlich-unverschämten Ausreden totgelacht.

Früher hatten die Menschen eine Zukunft und Lebensperspektive. »Ein Wort ist ein Wort« war fester Bestandteil deutscher Leitkultur. Heute kann man sich nur noch darauf verlassen, dass man sich auf nichts mehr verlassen kann. Was heute noch gilt, worauf die Menschen vertrauen und wonach sie ihr ganzes Leben ausrichten, ist morgen schon Makulatur. Gesetze werden gleich nach ihrer Verabschiedung »nachgebessert«. Hoch und heilig versprochene Projekte stellen sich als Wahlkampflügen heraus und werden auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Die Einhaltung von Versprechen weicht dem Wortbruch unter dem meist frei erfundenen Vorwand des »alternativlosen Sachzwangs«.

Allen Menschenwürdeartikeln des Grundgesetzes und Sonntagsreden der Politiker zum Trotz wird immer deutlicher, dass eben nicht die Wirtschaft für den Menschen da ist, sondern umgekehrt: Längst ist der Mensch zum »Humankapital« geworden, zum lästigen Anhängsel und notwendigen Übel der Ökonomie, zum Ballast bei der hemmungslosen Profitgier. Dies betrifft entscheidend, aber beileibe nicht allein die wirtschaftliche, sondern darüber hinaus die gesamte menschliche Existenz. Das Umfeld wird nicht mehr nach den Vorstellungen der Menschen geschaffen, nach der Frage, ob sich darin irgendjemand wohl fühlt, sondern danach, ob es »sich rechnet«, also der vollständigen hemmungslosen und moralfreien Profitmaximierung nutzt.

So weichen Erholungsparks umweltzerstörenden Golfanlagen und intakte Wohnanlagen krankhaft protzigen Bürohochhäusern. Beliebte Schwimmbäder planiert man zugunsten kleinstadtähnlicher Einkaufszentren, und aus dringend benötigten Krankenhäusern werden luxuriöse Wellnessfarmen. Dass selbst diese Projekte meist nicht einmal von den Reichen und Mächtigen gebraucht und genutzt werden, sondern nahezu ausschließlich systematischer Wirtschaftskriminalität wie etwa dem korruptem Subventionsbetrug und dem als Staatsauftrag getarnten Griff ins Steuersäckel dienen, rundet das Bild ab. Die umfassende galoppierende Verlotterung der Republik macht auch vor der Politik nicht halt.

»Dilettantisch, egoistisch, kaltherzig, korrupt und überversorgt« – so schätzen längst nicht mehr nur linksradikale Verfolgungswahnsinnige, sondern immer größere Teile der Normalbürger unsere Volksvertreter ein. Entsprechend steigt die Zahl der Nichtwähler ständig an. Schon bei der Bundestagswahl 2009 stellten sie mit 29,8 Prozent die stärkste Gruppe der Wahlberechtigten. CDU / CSU kamen nur auf 23,7 Prozent, die SPD auf lächerliche 19,8 Prozent. Selbst die beiden stärksten Parteien zusammen vertreten also mit 43,5 Prozent nicht einmal die Hälfte der Bürger.

Der Journalist Jakob Augstein hat einen bösen Verdacht: »Was die Wahlforscher ›asymmetrische Demobilisierung‹ nennen, wird zum Normalfall der Wahlkampfstrategie: Die Politik setzt absichtsvoll darauf, dass möglichst wenig Leute zur Wahl gehen – aber von der Gegenseite noch weniger.«

Um viel mehr darf das Stimmvieh allerdings nicht mehr schrumpfen. Schon jetzt macht der Horrorbegriff von der Legitimationskrise die Runde. »In wessen Namen redet und mit welchem Recht entscheidet die Politik eigentlich noch für das Volk?«, fragen sich immer mehr Staatsbürger. Kein Wunder, dass besorgte Politiker nach buchstäblich jedem Strohhalm greifen. Da findet man sogar bei der – wegen ihrer noch mangelnden Eingemeindung in das korrupte Politiksystem bei den Etablierten verhassten – Piratenpartei etwas Positives. Sie habe wenigstens eine »gute Wirkung auf Nichtwähler«, lobt SPD-Boss Sigmar Gabriel. Fehlt nur noch, dass einer ähnlich gegen das NPD-Verbot argumentiert: »Besser Naziwähler als Nichtwähler.«

Steht unserem System also die Apokalpyse, die Götterdämmerung bevor? Jedenfalls warnt selbst das manager magazin: »Die Einkommen der Deutschen driften immer schneller auseinander. Trotz Aufschwungs fürchten die Mittelschichten den sozialen Absturz. Der Marktwirtschaft droht eine Legitimationskrise – mit gefährlichen Folgen.«

1 PARASITÄRE »ELITEN«:

DIE GESELLSCHAFT STINKT VOM KOPFE HER

DIE DEKADENZ-DEBATTE

Es ist so gut wie unmöglich, auch nur halbwegs geistreiche und zitierwürdige Einlassungen von »Big Brother« Guido Westerwelle aufzuspüren. Aber selbst das blindeste Huhn findet mal ein Korn: Diese »Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Leistungsgedanken besorgt mich zutiefst«, schrieb er am 11. Februar 2010 in Welt Online. »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.«

Nun ist es natürlich ausgesprochen mutig vom gescheiterten FDP-Boss, dass ausgerechnet er das Verhältnis von Leistung und Einkommen ins Spiel bringt. Mit seinem »Dekadenzalarm« liegt er allerdings goldrichtig. Dass er dies irrwitzigerweise auf die Hartz-IV-Empfänger bezieht, mag man einem Menschen nach sehen, der auch schon mal »Mindestlohn ist DDR pur ohne Mauer« abgesondert hat.

Aber eine Dekadenz fast wie in der Endphase des Römischen Reiches ist auch bei uns Anfang des dritten Jahrtausends kaum zu übersehen: Damals herrschte eine sittlich, moralisch, kulturell und geistig verwahrloste, stinkfaule und in jeder Hinsicht perverse und nichtsnutzige steinreiche Parasitenkaste – ein ekliges, eitriges Geschwür am Allerwertesten der römischen Gesellschaft. Und einiges, sogar eine ganze Menge des über diese römische Oberschicht Überlieferten, erinnert zwangsläufig an unsere Kaste der Reichen und Mächtigen von heute.

GERICHTSURTEILE IN DER KLASSENGESELLSCHAFT

Das scheinbar plumpe Vorurteil »Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen« erweist sich bei näherer Betrachtung geradezu als wissenschaftliche Analyse. Schwarzfahrer, kleine Ladendiebe oder Sprayer wandern zuweilen in den Bau, während die Justiz selbst Berufsbetrüger und Amateurzuhälter unter Verbiegung des Grundgesetzes und des Strafgesetzbuches auf freien Fuß setzt – auf dass sie, wie im Fall Hartz, recht bald wieder für Nuttennachschub aus Brasilien sorgen können. Allerdings konnte bislang noch keinem Richter nachgewiesen werden, dass er selbst davon profitiert hat. Glückwunsch an die Richtergattinnen.

HARTZ

»Das klingt nach Gemauschel«, befand Johannes Röhrig im Stern nach dem im Wortsinne kurzen Prozess vor dem Landgericht Braunschweig gegen den Namensgeber der »Armut per Gesetz«, den VW-Manager Peter Hartz. Wegen Untreue und verbotener Begünstigung eines Betriebsrats erhielt er »wie verabredet« zwei Jahre auf Bewährung und für ihn lächerliche 576 000 Euro Geldstrafe – »er bleibt frei«. Tatsächlich bedeutet Bewährung ja lediglich: Hartz muss seine Strafe nur dann absitzen, wenn er demnächst erneut einen VW-Betriebsrat besticht und ihm brasilianische Prostituierte zuführt.

Nach Meinung des Stern »wurde es ihm vor Gericht zu leicht gemacht. Nach lediglich zwei Verhandlungstagen war der Prozess vorbei, auf einige Fragen gab es nur unbefriedigende Erklärungen wie etwa zu denen über eine mögliche Mitwisserschaft des VW-Patriarchen Ferdinand Piëch in der Affäre.« Im Klartext: Wirken gegen diese Geheimkungelei nicht sogar chinesische Schauprozesse wie rechtsstaatliche Verfahren? »Sicher, nicht wenige Zuschauer im Gerichtssaal 141 hätten gern die Damen im Zeugenstand gesehen, mit denen sich Hartz auf seinen Reisen oder in einer diskret angemieteten Braunschweiger Wohnung auf VW-Kosten vergnügte. Dieses peinliche Kapitel des Skandals blieb Hartz erspart, das war Teil des Deals. Wer die Aussagen der Huren kennt, die sie vor der Staatsanwaltschaft zu Protokoll gaben, kann erahnen, dass Prozessbeobachter hier um ihr Amüsement gebracht wurden.«

Und weiter: »Wären die Huren aufgetreten, das Bild von Hartz wäre ein anderes … Zu welchem höheren Interesse besaß er einen Schlüssel zu einer von VW bezahlten Wohnung, die ausschließlich für diskrete Treffen mit Frauen aus dem Milieu genutzt wurde? Hartz, ein Verführter? Oder doch auch Verführer? Die Antwort hierauf ist der Prozess schuldig geblieben.«

Liegen nicht rechtsstaatliche Lichtjahre zwischen derlei Schmierenkomödien und jenen Vergewaltigungsprozessen, in denen skrupellose Verteidiger in Pornomanier die Opfer nach den perversesten Details ausquetschen? Tja: Staatsanwälte sind weisungsgebunden, letztlich gegenüber dem Justizminister und damit dem Regierungschef, in dessen Hand de facto auch ihre Karriere liegt.

MANNESMANN

Ein ebenso riesiger wie für Teile unserer Justiz typischer Skandal war der Mannesmann-Prozess (2004 – 2006) vor dem Landgericht Düsseldorf gegen Teile des Aufsichtsrats wegen Untreue bzw. Beihilfe, weil sie fünf Vorstandsmitgliedern insgesamt über 111 Millionen DM (56,8 Mio. Euro) »Anerkennungsprämien« zugeschanzt hatten, darunter allein 50 Millionen DM (25,6 Mio. Euro) dem Vorstandschef Klaus Esser.

Am 23. Juni 2004 forderte die Staatanwaltschaft für den Aufsichtsratschef Joachim Funk drei Jahre Haft, für Klaus Esser zweieinhalb Jahre. Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann sollte zwei Jahre, IG-Metall-Boss Klaus Zwickel 22 Monate sowie Betriebsratschef Jürgen Ladberg und Personalchef Dietmar Droste je ein Jahr ins Gefängnis. Am 22. Juli 2004 jedoch wurden alle Angeklagten – wer hätte das gedacht in der Klüngelmetropole NRW? – freigesprochen.

»So geht’s ja nun wirklich nicht, was soll denn das Ausland denken?«, dachten sich wohl die Richter des BGH, befanden am 21. Dezember 2005 die Angeklagten sehr wohl für schuldig und verwiesen das Verfahren an eine andere Düsseldorfer Strafkammer. Dies allerdings juckte die rheinischen Ankläger und Richter herzlich wenig: Das zweite Verfahren wurde am 29. November 2006 gegen 5,8 Millionen Euro Geldbuße mit Zustimmung der Ankläger vorläufig eingestellt. »Kein Freispruch zweiter Klasse«, jubilierte die FAZ. Nach Erfüllung der Auflagen stellte die Strafkammer am 5. Februar 2007 gemäß § 153 a StPO das Verfahren endgültig ein.

HELMUT KOHL

Ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue zum Nachteil seiner Partei stellte die Bonner Staatsanwaltschaft im Frühjahr 2001 gegen eine Zahlung von 300 000 DM (153 387 Euro) Geldbuße wegen geringer Schuld (!!!) gemäß § 153 a StPO ein. Ein Prozess kam natürlich nicht in Frage – was gehen das gemeine Stimmvieh schon die kriminellen Machenschaften der Herrscherkaste an? Aber auch sonst ging’s – Affären hin oder her – finanziell blendend. Zwischen 1999 und 2002 kassierte er vom Medienzaren Leo Kirch, dem er das Privatfernsehen ermöglich hatte, jährlich 600 000 Mark (306 775 Euro). Dafür habe er jährlich »bis zu zwölf persönliche Gespräche« mit Kirch führen müssen. Übrigens: Zur Zeit des Geldregens saß Kohl immerhin noch im Bundestag.

MANFRED KANTHER

Manfred Kanther, früherer Bundesinnenminister, Herr über Recht und Ordnung und Saubermann der Nation, erhielt am 18. April 2007 vom Landgericht Wiesbaden 54 000 Euro Geldstrafe wegen Untreue. Eine frühere Verurteilung zu 18 Monaten Knast auf Bewährung sowie 25 000 Euro Geldstrafe hatte der BGH aufgehoben. Kanther hatte Ende 1983 als damaliger Generalsekretär der Hessen-CDU rund 20,8 Mio. Mark Parteivermögen in der Schweiz deponieren lassen, um die Veröffentlichungspflicht zu umgehen. Im Rahmen der hochkriminellen Schwarzgeldaffäre der hessischen CDU gilt Kanther ebenso wie der damalige Staatskanzleichef Franz Josef Jung als Bauernopfer zugunsten des Unschuldslamms, Ministerpräsident Roland Koch. Und der hievte ja beide später in die Bundesregierung, Jung als Karikatur eines Verteidigungsministers.

KLAUS ZUMWINKEL

Einer der seinerzeit wichtigsten und einflussreichsten deutschen Topmanager, Post-Chef Klaus Zumwinkel, erhielt vom Landgericht Bochum am 26. Januar 2009 zwei Jahre Haft – natürlich auf Bewährung – und eine Million Euro Geldbuße. Das leuchtende Vorbild des deutschen BWL-Nachwuchses hatte gestanden, über seine Stiftung in Liechtenstein zwischen 2002 und 2006 rund 970 000 Euro Steuern hinterzogen zu haben. Und im Urteil wurde noch nicht einmal der verjährte Steuerbetrug berücksichtigt. Um wie viel der kriminelle Konzernchef die Bürger insgesamt betrogen haben muss, lässt sich anhand der nach seinem Auffliegen von ihm »freiwillig« zurückgezahlten knapp vier Millionen Steuern, Zinsen und Gebühren erahnen.

Ganz anders als über die Kriminellen aus der Herrscherkaste urteilen unsere Richter, wenn es um das gemeine Volk geht, also um die, die den gesamten Reichtum der Parasitenklasse erarbeiten. Hier ein Beispiel, das womöglich für Hunderte, wenn nicht für Tausende steht: Wer achthundertachtundachtzig Tage wie in einer Bananendiktatur unschuldig hinter Gittern saß, muss bei uns sogar die Kosten seines Unschuldbeweises selbst tragen. »Unschuld? Kostet 13 000 Euro«, ätzte in der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl, früher selbst Staatsanwalt und Richter am Landgericht.

Ein klassischer Fall: Eine inzwischen fünfzigjährige Berliner Arzthelferin saß unschuldig achthundertachtundachtzig Tage als Mörderin, schwere Brandstifterin und Versicherungsbetrügerin hinter Gittern. Angeblich hatte sie das Haus, in dem sie mit ihrem Vater und ihrem Lebensgefährten wohnte, mit Spiritus angezündet, um die Versicherungssumme zu kassieren.

»Auf der Basis eines schlampigen und falschen Brandgutachtens des Landeskriminalamts«, so der frühere Landgerichtsrichter Heribert Prantl, bekam sie vom berüchtigten Landgericht Berlin lebenslang die »besondere Schwere der Schuld« attestiert. »Schulden für den Beweis der Unschuld«, konstatiert Prantl weiter: »Die unschuldige Angeklagte wehrte sich verzweifelt, sie setzte Himmel und Hölle in Bewegung – vor allem gute Brandgutachter. Sie stürzte sich in Schulden, sie bat und bettelte um Hilfe, um Recherche, um Nachprüfung, sie fand Spezialisten, die ihr halfen und mit wissenschaftlicher Recherche das Schund- Gutachten als Schund-Gutachten entlarvten.«

»Auf der Basis eines schlampigen und falschen Brandgutachtens des Landeskriminalamts«, so Prantl, hatte ihr das Berliner Landgericht Berlin eben mal »lebenslänglich« gegeben und die »besondere Schwere der Schuld« festgestellt. »Nach so einem Spruch sieht man normalerweise die Freiheit nicht mehr wieder – da gibt es keine Entlassung auf Bewährung nach 15 Jahren.«

Der BGH machte diesem Stümperspuk ein Ende, und in der neuen Verhandlung wagte das Kammergericht kein erneutes Fehlurteil – also gab’s Freispruch. Aber das Kammergericht »genierte sich nicht für die Verurteilung einer Unschuldigen, sondern aktivierte nun die Akribie, die bei der Prüfung des Schund-Gutachtens gefehlt hatte – es drückte die dafür zu erstattenden Kosten. Die Frau bleibt auf 13.067,98 Euro sitzen und muss auch die Kosten des Streits um die Kosten selbst tragen. Das ist der Preis für ihre Freiheit. So steht es zwischen den Zeilen der … beschämenden Entscheidung.«

Ladendiebe, Schwarzfahrer und Antikriegsdemonstranten landen bei uns schon mal im Knast, während zum Beispiel ein bestochener Volksvertreter gar nicht belangt werden kann, weil – man mag es kaum glauben – die unbegrenzte Schmiergeldannahme bei uns noch immer erlaubt ist.

04.04.2013, 03:45

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