Blick zurück

Leseprobe "Vielleicht gelingt es mir, im möglichst präzisen Spekulieren über das Leben dieser Älteren zu erfassen, welchen Verwundungen sie ausgeliefert waren und welche inneren Widerstandskräfte sie daraus gewonnen haben."
Foto: Reg Lancaster/Daily Express/Hulton Archive/Getty Images
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Die Perspektive

1995 habe ich unter dem Titel Das Altern einer Generation eine besonders unter der angesprochenen Generation der 68er durchaus umstrittene Untersuchung über den Ursprung und die Wirkung der Jahrgänge 1938 bis 1948 veröffentlicht. Die waren im Ereigniszeitraum von 1968 zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Dieses Buch hier ist ein Remix. Ein halbes Jahrhundert nach 1968 frage ich erneut nach der Rolle dieser Generation im Familienroman der Bundesrepublik. Erst kamen die Alten wie Adenauer, die das institutionelle Grundgerüst schufen, dann die Flakhelfer wie Enzensberger, die rieten, besser die Fahrpläne zu lesen, und dann als letzte Generation, die noch den Krieg erlebt hatte, die 68er, die den Aufstand probten. Ich selbst bin Mitte sechzig, und ich sehe die jetzt Siebzig- bis Achtzigjährigen vor mir, denen links und rechts die Altersgenossen wegsterben, und frage mich, ob die Bedeutung einer Generation zu ermessen nicht auch den Versuch darstellt, dem gerecht zu werden, was sonst unbemerkt bleiben würde.

Ich glaube nicht, dass ich der Sache nahekäme, wenn ich mich mit jemandem, der sich irgendwie der 68er-Generation zurechnet, über den unglaublichen Umstand unterhalten würde, dass der Polizist mit dem Namen Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei den Protesten gegen den Staatsbesuch von Schah Reza Pahlavi von Persien auf einem Hinterhof in der Berliner Krummen Straße durch einen gezielten Kopfschuss getötet hat, ein geheimer Mitarbeiter der Staatssicherheit der DDR gewesen ist. Auch der ebenso unglaubliche Umstand, dass am 9. November 1969 der erste, zum Glück gescheiterte Bombenanschlag auf eine jüdische Einrichtung nach 1945 aus dem SDS heraus von den Tupamaros West-Berlin geplant worden ist, taugte kaum als Anlass für ein Gespräch, das berühren würde, um was es damals ging und was heute davon noch wichtig ist. Der Kalte Krieg war, wie die zeitgeschichtliche Forschung mehr und mehr zu Tage fördert, eben eine Art von Krieg.

Mit 1968 verbindet man die sexualpolitischen Experimente der Kommune 1, die Spaziergang-Demonstrationen nach der »Fisch-im-Wasser-des-Volkes-Methode« von Mao Zedong, die Joghurtbomben, den adventsbekränzten Fritz Teufel, die unbekümmerte Uschi Obermaier, die Praktiken des Sit-ins und des Go-ins, Parolen wie »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment«, den Dadaismus von Rudi Dutschke, die Kinderläden, die Kritische Universität, die linken Buchläden, die Stadt- und Stadtteilzeitungen, die Roten Zellen in den Betrieben, die Arbeiterfilme, »I Can’t Get No« von den Rolling Stones, die Frage nach der sozialen Relevanz, die von Jimi Hendrix in Woodstock zerspielte amerikanische Nationalhymne, das Herstellen von Öffentlichkeit, die hochgereckten und schwarz behandschuhten Fäuste der US-amerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos auf dem Siegerpodest bei den Olympischen Sommerspielen von 1968 in Mexiko, die antiautoritäre Pädagogik, das Busenattentat auf Adorno im Hörsaal VI bei seiner letzten Vorlesung, die dieser in seinem Leben gehalten hat, den Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, die Wiederentdeckung von Georg Lukács, Walter Benjamin, Rosa Luxemburg, Karl Korsch und natürlich der großen Theorie von Karl Marx und der berühmten 11. These über Feuerbach von 1845: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Nicht zuletzt Bob Dylans Stimme mit »The Times They Are A-Changin’« und den bewaffneten Kampf der Rote Armee Fraktion, kurz: der RAF. Aber verbinden auch die 68er ihre Lebenserfahrung damit?

Ich gehe noch einmal meine Gespräche von damals durch und versuche, einem Begriff von Karl Mannheim folgend, die Erlebnisschichtung von einer Kindheit im und kurz nach dem Krieg über die Rebellion gegen das Ganze und die Adaption ans Unveränderbare zu verfolgen. Vielleicht gelingt es mir, im möglichst präzisen Spekulieren über das Leben dieser Älteren zu erfassen, welchen Verwundungen sie ausgeliefert waren und welche inneren Widerstandskräfte sie daraus gewonnen haben. Dann könnte ich besser verstehen, was ich eigentlich von ihnen wollte.

01.02.2018, 12:39

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