Vorwort
»Plötzlich ist man am toten Punkt, am Todespunkt.«
Wenn ein Mensch sich das Leben nimmt, bleiben die Angehörigen meist mit der bitteren Frage zurück: Warum? Und vor dem Warum hat sich für viele ein schrecklicher Anblick unauslöschlich in Herz und Hirn eingebrannt: Der zerschossene Kopf, der Mensch am Strick, die leeren Tablettenschachteln am Bett, der Tote auf den Schienen, das Loch im Herzen, die Leiche im Wasser, der zerschmetterte Körper nach dem Sprung.
Und der sieht nicht mehr so wunderschön aus, wie Frida Kahlo ihn im Bild »Der Freitod der Dorothy Hale« gemalt hat. Dorothy Hale war eine der schönsten Frauen Amerikas. Ihr verstorbener Mann, ein Maler, hatte die Society von New York portraitiert. Daher kannte Frida Kahlo sie. Inzwischen hatte die junge Witwe vergeblich versucht, in Hollywood Karriere zu machen. Und dann verließ ihre neue Liebe, ein Berater von Präsident Roosevelt, sie Hals über Kopf. Nun wusste sie nicht mehr, wie sie leben und die Miete ihres Appartements hoch oben im feinen Hampshire House am Central Park bezahlen sollte.
Am 20. Oktober 1938 lud sie ihre Freunde zu einer Farewell Party ein, weil sie, wie sie allen sagte, eine lange Reise machen würde. Das wunderte niemanden, denn Dorothy war immer mal wieder unterwegs. Für diesen Abend hatte sie ihr schönstes Kleid angezogen, das Femme-fatale-Gewand aus schwarzem Samt mit dem gelben Rosentuff an der Schulter. Es war ein vergnügter Abend, und niemand hatte der Gastgeberin ansehen können, dass sie kurz vor dem Sprung in den Tod war.
Es gibt ein berühmtes Fest im alten Rom, auf dem sich Petronius Arbiter von seinen Freunden verabschiedet. Der Autor von »Satyricon« hatte in einem Pamphlet die gereimten Ergüsse von Nero verspottet. Dabei wusste er genau: Beleidige keinen Größeren als du selbst bist! Doch bevor der Kaiser den Befehl zum Suizid gibt – die Methode hat sich bei Diktatoren bis ins Dritte Reich erhalten – kommt Petronius Arbiter ihm zuvor. Inmitten seiner Freunde, die er zum Bankett geladen hat, lässt er sich von einem Arzt in der Badewanne die Pulsadern öffnen, und während sein Leben langsam ausläuft, schreibt er die letzten satirischen Verse auf den Tyrannen.
Bei Dorothy Hale waren die letzten Gäste vor Mitternacht gegangen, hatten ahnungslos Glück und Erfolg für die Reise gewünscht, nun war sie alleine, hat sich an ihre Schreibmaschine gesetzt, Abschiedsbriefe getippt und wohl auch den Zettel geschrieben, auf dem stand, man möge bitte ihre Mutter benachrichtigen und ihr sagen, sie wolle gerne im Familiengrab beigesetzt werden.
Das ist sehr viel mehr, als die meisten Selbstmörder hinterlassen. Zehntausend Menschen bringen sich Jahr für Jahr in der Bundesrepublik um, weltweit sind es jährlich eine Million, und die Statistiker sprechen von hohen Dunkelziffern. Aber nur dreißig Prozent von ihnen schreiben einen Abschiedsbrief. Wie soll man auch die Gründe für einen so endgültigen und intimen Vorgang beschreiben? Friedrich Nietzsche lässt seinen Zarathustra den Freitod predigen. Der Selbstmörder ist für ihn ein heiliger Nein-Sager, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja. Diesen Satz hätte Thomas Mann, der sich immer wieder von der Philosophie Nietzsches hat inspirieren lassen, sicherlich nicht akzeptiert. Zwei seiner Schwestern und zwei seiner Söhne haben sich das Leben genommen. Das hat er als absolut unsolidarisch empfunden. Sie hätten es der Familie nicht antun dürfen. Das war sein Satz. Da war er absolut unemphatisch. Und genauso kühl verarbeitet er dann in seinem Roman »Doktor Faustus« die Suizide beider Schwestern so, wie sie passiert sind. Er zitiert sogar wörtlich den Abschiedsbrief seiner jüngsten Schwester.
Dorothy Hale hat noch etwa sechs Stunden gelebt, nachdem die letzten Gäste gegangen waren. Was hat sie, nachdem die Abschiedsbriefe geschrieben waren, bis zum Sprung in die Tiefe getan? Ordnung gemacht? Viele Selbstmörder räumen ihre Wohnung ja vor der Tat sehr sorgfältig auf. Dieser Zwang, geordnet und gereinigt ins Jenseits gehen zu wollen, mutet beinahe wie eine religiöse Handlung an. Das war auch dem Kriminalautor George Simenon aufgefallen, als seine Tochter Marie-Jo, die so unglücklich in ihren Vater verliebt war, sich mit 25 Jahren in ihrer Pariser Wohnung mit einer Pistole ins Herz geschossen hatte: Alles sei in tadelloser Ordnung und so sauber gewesen, als hättest du, bevor du fort gingst, eine gewissenhafte Reinigung vorgenommen. Und so etwas musste Simenon natürlich auffallen, es wäre ja auch seinem Kommissar Maigret aufgefallen.
Am frühen Morgen des 21. Oktober 1938 gegen sechs Uhr, so heißt es im Polizeibericht, muss die 33jährige Dorothy Hale dann aus dem Fenster ihres Appartements im 16. Stock in den Tod gesprungen sein. Frida Kahlo malt ihren Sturz 1939 in drei Phasen. Eine kleine Figur steht oben am Fenster des Hochhauses. Dann fällt sie kopfüber in ein Wolkenmeer hinein, so dass es scheint, als werde sie von Engelsflügeln getragen. Am Ende liegt sie wunderschön und mit offenen Augen ganz unten am Bildrand im schwarzen Samtkleid mit dem gelben Rosentuff. Nur ihr Blut hat den unteren Rand des von Frida Kahlo ausgesuchten Bilderrahmens rot gefärbt.
Dreiundzwanzig Jahre später entsteht Andy Warhols Todessprung eines Mannes, den er »Suicide. Fallen body« nennt, diesen Sprung aus einem Hochhaus. Warhol, der Angst vor Suizid und Tod hatte, machte bis 1965 eine ganze Serie über das Tabuthema. Er verarbeitete darin auch das Life-Magazine-Foto einer jungen Selbstmörderin, die sich 1947 vom Empire State Building gestürzt hatte. Ihr Körper mit dem schönen, unversehrten Gesicht landete am Ende so hart auf dem Dach eines schwarzen Wagens, dass sie im eingedrückten Auto wie in einem Sarg lag. In dieser Zeit schreibt Warhol: Mir wurde klar, dass alles, was ich machte, mit dem Tod zu tun hatte.
Der Freitod Prominenter – auch der von Dorothy Hale – ist Schlagzeilen, Geschichten und Hypothesen wert. Aber sonst ist der Suizid noch immer ein Tabu. Über ihn wird geschwiegen. Als der einsame Großvater meiner Schulfreundin gefunden wurde, erhängt auf dem Dachboden seines Sohnes, eines Staatssekretärs in Bonn, bei dem er lebte, war Stillschweigen angesagt. Und der Tod hieß Herzversagen. Dabei ist für den Schriftsteller Jean Améry der Freitod der einzig natürliche Tod. Der Hang zum Freitod sei keine Krankheit, von der man geheilt werden müsse wie von den Masern … Der Freitod ist ein Privileg des Humanen, schreibt er in seinem Diskurs über den Suizid »Hand an sich legen«. Aber Améry hatte ein schweres Schicksal hinter sich, hat Folter und Auschwitz überlebt, aber nicht verkraftet. Vielleicht war deshalb der Freitod für ihn der einzig natürliche Tod. 1978 hat er sich in einem Hotelzimmer mit Schlaftabletten umgebracht.
Für alle unbeteiligten Menschen ist ein Suizid etwas Spannendes, Spektakuläres, Mutiges, Geheimnisvolles und Rätselhaftes, auch, wenn die Motive und akuten Anlässe seit Urzeiten dieselben sind: Scheitern, Schande, Angst, Liebeskummer, Eifersucht, Melancholie, Depression, Lebensekel, Demütigung, Betrug, Potenzverlust oder Krankheit. Und oft wird nach einem Suizid gefragt, ob man den Selbstmörder nicht hätte retten können, wenn man auf bestimmte Signale geachtet hätte. August Strindberg, der Autor von »Totentanz«, der seit seiner Jugend viele Male versucht hat, freiwillig aus dem Elend zu gehen, schreibt, dass man all diese Reden, es sei mutiger, zu leben, als den Tod zu suchen, einstellen soll. Bezeichne den Selbstmörder immer als einen Unglücklichen, schreibt er, und damit ist alles gesagt!
Wolfgang Herrndorf ist wohl der erste Schriftsteller, der über seinen unheilbaren Tumor im Kopf und seinen beschlossenen Suizid öffentlich und bis zum Ende in seinem Blog »Arbeit und Struktur« geschrieben hat. Über Tränen und Träume, Operationen und Chemotherapien und das Verlöschen seiner Energie, über Todesangst und gewünschte Lebenszeit, schlaflose Nächte, Untersuchungen, Zusammenbrüche und immer mit der Frage im Kopf: Wie lange noch? Und wird der Absprung rechtzeitig gelingen? Übungen an der erstandenen Waffe, einer 357er Smith & Wesson. Die gelöste Frage an der Exitstrategie hat eine so durchschlagend beruhigende Wirkung auf mich, dass unklar ist, warum das nicht die Krankenkasse zahlt. Er schreibt, er liest, er hört, dass Gunter Sachs sich erschossen hat. Er räumt auf. Alle Bücher mit den vielen Notizen am Rand und alle Briefe in die volle Badewanne. Zum Aufweichen und wegwerfen. Da ist es wieder, dieses Bedürfnis nach Ordnung. Und sein Roman »Tschick« ist längst ein Bestseller. Geld wie Heu auf dem Konto. Vor Tschick hat er nie Geld gehabt. Jetzt ist es ihm egal. Während er mit der Brötchentüte an der Ampel steht, sieht er neben sich einen unter seinem Schulranzen begrabenen Erstklässler und schaut in den Himmel, damit er mich nicht weinen sieht. Er weiß nicht, dass er sterben wird, er weiß es nicht. Er verabschiedet sich von den Eltern. Er sitzt da und kann nichts sagen, kann ihnen nicht ins Gesicht sehen. Er schläft nur noch mit der Waffe in der Hand. Es ist für ihn ein so sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt. Alle Koordination kommt aus dem Kopf. Als er merkt, dass er sich nicht mehr auf sie verlassen kann, ist es soweit. Noch einmal in den Wald, keine Johannesbeeren, dafür Brombeersträucher wie vor Monaten. Liegen bis in die Nacht am Ufer unter Sternen. Wenige Tage später, am 26. August 2013, erschießt er sich, vielleicht an einem der letztmöglichen Tage, kurz vor Mitternacht in Berlin am Ufer des Hohenzollernkanals.
Ein Freitod kann aber auch impulsiv und eruptiv sein. Am 12. September 2013 springt der Schriftsteller Erich Loest mit 87 Jahren aus dem zweiten Stock des Universitätsklinikums Leipzig. Loest, der sieben Jahre in der DDR schuldlos in Bautzen saß – er nannte das seine gemordete Zeit – war mit seiner Autobiographie »Durch die Erde ein Riss« und dem Roman »Nikolaikirche« über alle Grenzen hinweg berühmt geworden. In seinem posthum erschienenen Tagebuch 2011 – 2013 schreibt er nach all den Ehrungen zum 85. Geburtstag: Gelindes Grausen, nun geht es auf die neunzig zu. Oh ja, er ahnt, was kommen kann, hat doch Phantasie, weiß doch wie hinfällig er schon jetzt ist und fühlt, wie seine Energie schwindet. Widerstand zwecklos. Sein Begräbniswunsch: Keine Reden, keine Lügen, Champagner!
Zwei Jahre später liegt Loest im Krankenhaus, täglich liebevoll umsorgt von seiner Lebensgefährtin Linde Rotta. Ihr erzählt er voller Bewunderung von seinem Vater, der sich einfach hatte sterben lassen, indem er nichts mehr aß. So muss man es machen, sagt er. Und Linde Rotta merkt längst, dass auch ihr Mann kaum noch isst und trinkt. Will er sich etwa auch so davon machen? Ja, es geht ihm schlecht. Und immer wieder schießt sein Blutdruck in derart dramatische Höhen, dass die Angst zur Panik wird. Doch auf die Intensivstation will er nicht noch einmal. Hat er sich verbeten.
Suizid war kein Tabu für ihn. Als er 2011 hört, dass Gunter Sachs sich mit 78 Jahren erschossen hat, weil er den Verlust der geistigen Kontrolle über sein Leben als würdelosen Zustand empfand, hatte Loest im Tagebuch notiert: Respekt. Nur das Wort Selbstmord wollte er nicht gelten lassen. Es sei zu religiös belastet, angeblich fährt der Selbstmörder stracks in die Hölle. Freitod war sein Wort. Und bei Schmerzen, Einsamkeit und auswegloser Krankheit sollte man stärker als bisher die Möglichkeit haben, sich aus eigenem Entschluss zu verabschieden.
Er nutzt die Möglichkeit, die sich ihm bietet. Er springt aus dem zweiten Stock seines Krankenzimmers. Ein Polizist in Zivil sagt der herbeigerufenen Lebensgefährtin, dass ihr Mann sich kurz vor 18 Uhr aus dem Fenster gestürzt habe. Linde Rotta ist fassungslos. Um 17 Uhr hat sie ihm doch noch eine Scheibe Brot in kleine Stücke geschnitten. Ein paar Bissen hatte er sogar genommen. Vielleicht nur ihr zuliebe, aber egal. Aufstehen wollte er nicht, zu schwach, nur am Bettrand wollte er sitzen. Aber sie fand, dass er wacher und aufmerksamer war als am Tag zuvor. So ist sie denn ganz froh und erleichtert mit dem Taxi nach Hause gefahren. Und nun soll er tot sein? Aus dem Fenster gesprungen? Wie kann das sein. Erich, schreibt Linde Rotta im Nachtrag seines Tagebuchs, litt an schier hysterischer Höhenangst. Und wie ist er, schwach wie er war, überhaupt auf das Fensterbrett gekommen? Dann sieht sie das druckfrische Exemplar seiner letzten Erzählung »Lieber hundertmal irren« auf dem Nachttisch. Sie ist sicher, dass es dort vorhin noch nicht gelegen hat. Und was soll der Stift daneben? Nun ahnt sie, schlägt das Buch auf und liest die Abschiedszeilen für sie mit Dank für wunderbare Jahre, Dein Erich. Die Uhrzeit hat er dazu geschrieben: 17.46 Uhr. Also ein paar Minuten vor dem Sprung. Und hier stimmt dann der schöne Satz von Charles Bukowski nicht mehr: Das Wort ist der Zaubertrank, der uns davor bewahrt, uns umzubringen. Für Loest war doch das Wort sein Zaubertrank.
Viele Schriftsteller haben sich mit dem Thema Suizid beschäftigt, haben auch daran gedacht, sich umzubringen – und den Gedanken wieder verworfen. So schreibt Max Frisch im März 1973 in sein Berliner Journal: Er denke nicht mehr an Selbstmord, was nicht heiße, dass er nicht im Affekt möglich sei; aber nur im Affekt, ohne Vorsatz. Und viele Schriftsteller haben sich schließlich doch umgebracht. Heinrich von Kleist, der wohl den berühmtesten Abschiedssatz geschrieben hat: die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war, Georg Trakl, Cesare Pavese, Paul Celan, Walter Hasenclever, Egon Friedell, der am 16. März 1938 – in Angst und Schrecken vor SA-Männern, die an seiner Wohnungstür nach dem »Jud Friedell« fragten – aus dem dritten Stock sprang, zuvor aber die Fußgänger noch mit einem Treten Sie zur Seite! gewarnt hatte. Selbstmörder auch Wladimir Majakowski, Jack London, Walter Benjamin oder Stefan Zweig. Der hatte sich vor den Nazis retten können, war aber heimatlos in Südamerika, war ohne Identität, war ein Fremdkörper in der Fremde. Kurz vor dem gemeinsamen Suizid mit seiner Frau schriebt er ein Declaração: Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.
Viele Schriftsteller haben aber auch Todessehnsüchte in Literatur umgesetzt. Als Goethe vierundzwanzig ist, verliebt er sich in Charlotte Buff, die verlobt ist und ihn zurückweist. Da spielt er mit Suizidgedanken. Er hat ja seinen kleinen Dolch unterm Bett, macht auch ein paar Versuche, sich in die Brust zu stechen, überträgt dann aber seine Liebesqual auf die Leiden des jungen Werther, der sich am Ende erschießt. Und es heißt, dass sich hunderte unglücklich liebende Jünglinge wie ihr Roman-Idol in der Wertherkluft, dem blauen Frack zur gelben Hose, erschossen haben sollen.
Auch der junge Hermann Hesse war kurz davor, sich umzubringen. Er hatte seinem pietistischen Vater geschrieben: Sehr geehrter Herr! … darf ich Sie vielleicht um 7 M oder gleich um einen Revolver bitten. Er, der kleine Welthasser, bedrohte Lehrer und Schulkameraden, kam ins Irrenhaus, zum Teufelsaustreiber und in eine Schule, fern von den Eltern. Da schreibt er einen brutalen Brief an seine Mutter. Er habe sich ein paar Bücher gegriffen, sie in Stuttgart verkauft und für das Geld einen Revolver erstanden. Nun liege das Ding vor ihm auf dem Tisch, und gerade habe er sich entschieden, n o c h nicht zu schießen. Später wird Hesse seinen Schülerroman »Unterm Rad« schreiben. Sein trauriger Held Hans Griebenrath sucht sich im Wald einen Baum aus, prüft einen Ast, ob der auch hält, und sitzt oft Stunden unter seinem Rettungsbaum. Doch er geht am Ende ins Wasser und treibt kühl und still und langsam im dunklen Flusse talabwärts.
Wie Ophelia in Shakespeares »Hamlet«. Und da sagt dann einer der beiden Totengräber, sie sei doch eine Selbstmörderin, hätte sich ertränkt, könne also kein christliches Begräbnis bekommen. Da sagt der andere: Ja, wenn ein Mensch ins Wasser geht, ist er ein Selbstmörder und darf nicht christlich bestattet werden. Aber wenn das Wasser zu ihm kommt, und ihn ertränkt, so ertränkt er sich nicht selbst. Ophelia ist also, wie so viele Selbstmörder, in den Tod hineingezogen worden.
Ein Selbstmord, schreibt Albert Camus, bereite sich in der Stille des Herzens mit demselben Anspruch vor wie ein bedeutendes Werk. Der Mensch selbst wisse nur nichts davon. Eines Abends erschießt er sich oder geht ins Wasser. Das tat Paul Celan. Er stieg unbemerkt in die Seine und ertrank. Wo Wasser ist, kann man noch einmal leben, / noch einmal mit dem Tod im Chor die Welt herübersingen … Das tat Virginia Woolf, als sie fürchtete, wahnsinnig zu werden, das tat auch die Mutter von René Magritte.
Durch ihren Freitod erst werden seine frühen Bilder interessant. Die Familie lebte im Belgischen Châtelet. Gleich hinter ihrem Haus verlief die Sambre, ein düsterer Fluss, auf dem Last- und Kohlenschiffe fuhren. Régina Magritte mit dem schwermütigen Blick fühlte sich vom Tod angezogen und hatte schon viele Selbstmordversuche gemacht. Einmal war sie in den Keller gestiegen und wollte sich im Wassertank ertränken. Ihr Mann Léopold Magritte sah keinen anderen Ausweg, als sie zum Schlafengehen in ihrem Zimmer einzuschließen. Doch in einer Nacht im Februar 1912 war sie verschwunden. Man fürchtete, sie hätte sich in die Sambre gestürzt, denn es gab frische Fußspuren bis zur nächsten Brücke. Doch erst 17 Tage später wurde ihre Leiche im Wasser gefunden. Die Strömung hatte ihr Gesicht gnädig mit ihrem Nachthemd verhüllt. René ist damals 12 Jahre alt. Vielleicht hat er die Mutter sogar gesehen, deren geschundener Körper einen Tag im Haus gelegen hat. Und natürlich hat er gehört, wie das Nachthemd sich um ihren Kopf geschlungen hatte.
So gibt es denn seit 1925 Bilder des großen Surrealisten, die an das Drama erinnern: Da liegen Frauen unter Fischen im Wasser, andere bestehen nur aus einem nackten Unterkörper, es gibt Frauen mit verschleiertem Kopf und Liebende, die sich durch Tücher küssen. Das geheimnisvollste Bild, das dem Suizid der Mutter wohl am nächsten kommt, heißt »Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers«. Da taucht Magrittes berühmter Mann im schwarzen Mantel mit Melone zum ersten Mal auf. Er steht mit dem Rücken zum Betrachter und schaut in einen Himmel, in dem sich die Wolken wie Bleiplatten zusammengeschoben haben, düster, wie Magritte sein schwarzes Land nannte. Links ein Fluss, hinten die Brücke, und ganz im Vordergrund – der Spaziergänger kann sie nicht sehen – schwebt eine nackte tote Frau in der Luft.
Suizide sind oft wie Dramen auf der Bühne. Sie erinnern an Romeo und Julia, Othello, Schillers Mortimer, Hedwig in Ibsens »Wildente«, an Moritz aus Wedekinds »Frühlings Erwachen« oder Willy Loman im »Tod eines Handlungsreisenden«. Wenn Sylvia Plath in ihrem Gedicht »Lady Lazarus« schreibt: Sterben ist eine Kunst, wie alles. / Ich kann es besonders schön, dann klingt es, als ob die Lyrikerin – die den Vorgang ein paar Zeilen später theatrical, also theatralisch, nennt – als ob sie also auf der Bühne steht und vor einem Publikum in der Rolle der Tragödin, die am Ende des Dramas stirbt, all ihr Können ausbreiteten wird.
Im Roman »Die Demütigung« von Philip Roth war Simon Axler einmal ein Bühnen-Star. Ein Großschauspieler, der als Falstaff, Peer Gynt und Onkel Wanja brillierte. Als er sechzig ist, scheitert er mit Macbeth und Prospero, bricht zusammen, will sich umbringen, hängt zwischen Lebensüberdruss und Todessehnsucht, scheint dann aber den Prozess der Selbstauflösung in der Liaison mit einer lesbischen Frau zu überwinden. Doch die verlässt ihn, weil sie nicht der Ersatz dafür sein mag, dass er nicht mehr spielen kann. Und nun kommt der großartige Romanschluss: Der Gedemütigte will das einst auf der Bühne Dargestellte jetzt Wirklichkeit werden lassen. Mit der Rolle, die ihn am Broadway berühmt gemacht hat. Mit Tschechows Figur Gawrilowitsch aus der Komödie »Die Möwe«. Gawrilowitsch erschießt sich aus unglücklicher Liebe und im Glauben, gescheitert zu sein. Und so beendet auch Axler sein Leben. Wie damals, kurz vor dem Schlussapplaus auf der Bühne. Aber jetzt mit einer echten Kugel im Revolver: Als die Putzfrau wenige Tage später auf dem Speicher seinen Leichnam findet, liegt neben ihm ein Zettel, auf dem neun Worte stehen: »Die Sache ist die: Konstantin Gawrilowitsch hat sich erschossen.« Es sind die letzten Worte aus Tschechows Theaterstück.
Der Zwiespalt zwischen dem Menschen, auch dem Schauspieler und seinem Leben, schreibt Albert Camus, sei eigentlich das Gefühl der Absurdität. Da alle normalen Menschen irgendwann einmal an Selbstmord gedacht haben, werde ohne weiteres klar, dass zwischen diesem Gefühl und der Sehnsucht nach dem Nichts eine direkte Beziehung besteht. Das glaubt auch der große Tolstoi, als seine Anna Karenina sich zwischen zwei Waggons eines fahrenden Zugs in den Tod gestürzt hat. Da lässt er im letzten Teil des Romans den eigentlich sehr glücklichen Familienvater Lewin – Lew Tolstois alter Ego – sagen, dass er dem Selbstmord schon mehrmals so nahe war, dass er einen Strick versteckte, um sich nicht daran aufzuhängen, und sich fürchtete, mit einem Gewehr umzugehen, um sich nicht zu erschießen.
Ich habe mehrere Kollegen durch Suizid verloren. Zwei sind aus dem Fenster gesprungen, einer hat Tabletten geschluckt, einer sich vor den Zug geworfen, einer sich aufgehängt, einer sich erschossen. Als Dieter Gütt, der Fernsehjournalist, der seit 1983 stellvertretender Chefredakteur des Stern war, an ein paar Redaktionstüren klopfte und sich zu einem kurzen Gespräch setzte, war das schon sehr ungewöhnlich. Gütt war ja der Solitär, der intellektuelle Einzelgänger, ein schwermütiger weißer Ritter, der sich auch durch Fakten seine Meinung nicht zerstören ließ. Und nun kam er einfach vorbei. Erst später erkannten wir, dass es Abschiedsbesuche waren. Wir sprachen über die Wende, weil ich seit dem Mauerfall viel im Osten arbeitete. Eine Wiedervereinigung war für Gütt unvorstellbar. Da gab es seinen Vater, der bei der SS gewesen war. Und da war, unauslöschlich für alle Ewigkeit, Auschwitz. Dieses mörderische Land musste geteilt bleiben! Das war der Preis, der zu zahlen war. Das war seine Haltung. Nur wenige hatten ihn verstanden. Und nun rauschte es Schwarz-Rot-Gold durch West und Ost.
Ein paar Tage vor der Maueröffnung hatte er noch eine Postkarte aus Südfrankreich an den Chefredakteur Michael Jürgs, seinen Freund aus frühen Tagen, geschrieben. Sie endete mit den Worten: Grüße von einem kranken Gemüt. Am 25. Januar 1990 erschien Dieter Gütts Nachruf auf Herbert Wehner. Seine Witwe sagte mir, dass er mit diesem letzten Artikel seinen eigenen Nachruf geschrieben habe. Da heißt es, nach allen Kompromissen, Zwängen und Unzulänglichkeiten schwanden die Träume der Jugend: die Gleichheit, die Brüderlichkeit … Er trat nach eigenem Bekenntnis ab, als keiner mehr zuhörte … Ein alter Mann im übrigen ist stets ein König Lear. So starb er, unbetrauert. Vielleicht war die Politik tatsächlich die Ursache, vielleicht aber auch nur der Anlass zu Gütts Suizid. Drei Tage, nachdem er seinen Text abgegeben hatte, wurde er in seiner Hamburger Wohnung tot aufgefunden.
Es sind diese Geschichten, die seit Jahren geheimnisvoll und verführerisch auf mich gewirkt haben. Aber so, wie viele Angehörige eines Selbstmörders glauben, das Leben des zu Betrauernden sei doch auch wieder schön und lebenswert gewesen, so empfinden auch wir das Leben der meisten Schriftsteller und Maler, die in diesem Buch versammelt sind, als beneidenswert. Sie verzaubern uns mit ihrer Magie, ihren Texten, ihrer Lyrik, ihren Bildern, und deshalb sollen sie bleiben, wie wir sie lieben. Aber dann töten sie sich. Was wir als lebenswert empfinden, erleben die Betroffenen als tragisch. Keiner von ihnen würde sein Leben als beneidenswert ansehen.
Die schreibenden und malenden Selbstmörder, die ich ausgewählt habe, konnten aber den Prozess vom erfolgreichen Leben in die Tragik ihres Scheiterns beschreiben. Wir können ahnen, was in ihnen vor sich gegangen ist. Bei vielen wetterleuchtet das Ende schon lange vor der Tat durch ihr Leben. Selbstmörder, schreibt Jean Améry, ist man lange bevor man sich umbringt. Und dann geht es plötzlich ganz schnell. Warum begeht man Selbstmord? fragt Klaus Mann, als sich wieder einer seiner Freunde getötet hat. Weil man die nächste halbe Stunde, die nächsten fünf Minuten nicht mehr erleben will, nicht mehr erleben kann. Plötzlich ist man am toten Punkt, am Todespunkt. Die Grenze ist erreicht – kein Schritt weiter! Wo ist der Gashahn? Her mit dem Phanodorm! Schmeckt es bitter? Was tut’s? Das Leben hat nicht eben süß geschmeckt.
Und er weiß, wovon er redet. Er weiß, wie eingeengt der Blick eines Selbstmörders im Augenblick der Tat ist. Er hat doch Suizidversuche hinter sich und hat dabei nicht an seinen Übervater Thomas Mann gedacht, der bitter fragte, warum er es der Familie angetan hat. Am Ende wird dem Hochbegabten mit der Todessehnsucht der Suizid ja auch gelingen. Er gehört zu meiner sehr persönlichen Auswahl in diesem Buch, in denen Ungeliebte, Depressive, Melancholiker, Verzweifelte, unglücklich Liebende, Borderliner, Drogensüchtige und solche, die an Krieg und Auschwitz zugrunde gingen, versammelt sind. Alle haben sich mit den Befindlichkeiten auseinandergesetzt, die zu ihrer Selbsttötung führten – in Erzählungen, Romanen, Briefen, Bildern, Tagebüchern und Gedichten. Dichter verfügen … über die Feinfühligkeit für die Wahrnehmung verborgener Seelenregungen, schreibt Sigmund Freud, und den Mut, ihr eigenes Unbewusstes laut werden zu lassen. In vielen ihrer Texte kann der Weg zum unaufhaltbaren Ende verfolgt werden.
Und so werden schließlich Antworten auf die Frage nach dem Warum sichtbar, weil es Schriftstellern gelingt, über ihre Lust und ihre Angst, ihre Zärtlichkeit und ihren Zorn, ihre Liebe und ihre Verzweiflung, ihre Verletzung und ihre Scham, ihren Witz und ihren Hass zu schreiben, auch, wenn wir ihre letzten Gedanken nicht kennen und der Augenblick der Wahrheit ihr Geheimnis bleibt.
Birgit Lahann
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Virginia Woolf
»Ich muss diesen Tanz auf heißen Ziegeln weitertanzen, bis ich sterbe.«
Was für ein Haushalt: Vater und Mutter Stephen, acht Kinder aus drei Ehen, George, Stella, Gerald, Laura, Vanessa, Thoby, Virginia und Adrian, sieben Dienstboten, Hunde, Ratten, Wanzen und Verwandte, die dauernd im Anmarsch nach Kensington sind, 22 Hyde Park Gate. Die Stephen-Töchter sind so bezaubernd, dass die Leute sagen: Nach euch gucken sich sogar die Hunde auf der Straße um.
Und was für ein Jubel, wenn die Familie mit Kind und Kegel, Köchin und Gouvernante nach Cornwall aufbricht, in die Sommerfrische nach St. Ives. Mit gewaltigem Gepäck und Bergen von Butterbroten geht es mit zwei Droschken zur Station Paddington. Trubel, wenn der Zug einläuft, Platzsuche, und dann geht es los, von London Richtung Südwesten. Die Reise zieht sich hin. Die Kinder lesen, essen, lutschen Schokolade, mopsen sich, wer mal muss, macht in den mitgenommenen Nachttopf. Und kurz nach Plymouth müssen sie mit Sack und Pack laufen, damit sie die Kleinbahn nach St. Ives nicht verpassen.
Am frühen Abend kommen sie erschöpft in Talland House an, das der Vater für Jahre gepachtet hat mit dem verwunschenen Garten, in dem es Blumen, Trauben, Pfirsiche und Erdbeeren, Bäume, Büsche und unendlich viele Falter gibt. Cousinen, Neffen und Nichten sind inzwischen auch im Haus eingetroffen, das eher ein bisschen schäbig wirkt mit den alten Chintztapeten, Gemälden und mächtigen Sofas. Aber das schöne Leben findet ja draußen statt mit Kricket und Picknick und Federball und Schmetterlingsfangen und Gräberbuddeln für tote Mäuse, und Abends, wenn die Erwachsenen im Garten essen, lassen die Kinder aus ihrem Fenster einen Korb am Band runter, und Sophie, die Küchenperle, packt ein paar Leckerbissen rein, die kichernd hochgezogen werden. Nachts schleichen die Kids mit Flaschen raus, in die sie Rum oder Sirup gefüllt haben, um Falter einzufangen. Virginia erinnert sich Jahre danach an einen Roten Ordensband: Im schwachen Schein konnten wir den großen Falter sehen – die Flügel geöffnet wie in Ekstase, … die Augen brennend rot, den Rüssel in den fließenden Sirup getaucht. Später entkorken sie die Flasche und sehen, wie der scharlachrote Flieger entschwindet. Und am Morgen geht es dann wieder runter zum Strand ans Meer zum Wettschwimmen und Fischen und Paddeln und Segeln. An der See ist es überhaupt am allerschönsten, und Virginia geht das Geräusch der kreischenden Möwen und der klatschenden, wogenden Wellen nicht mehr aus den Ohren und der Erinnerung.
Für sie wird Cornwall das Paradies bleiben. All die unvergesslichen Bilder und Eindrücke schimmern in ihren Werken durch, in »Jacobs Zimmer«, das mit seiner Kindheit in Cornwall beginnt, im Roman »Zum Leuchtturm«, der am Tellervoll blauen Wassers lag, und rechts, soweit das Auge reichte, verloren sich und sanken in sanften, flachen Flechten die grünen Sanddünen mit dem wild wehenden Gras, die immerfort davonzulaufen schienen, in irgendein von Menschen unbewohntes Mondland. Oder im Roman »Die Wellen«, dieser quälenden Selbsterforschung von sechs Personen, die in Träumen und Rückschauen ihr Leben durchforsten, wobei die Wellen Symbol des Getragen- und Verschlungenwerdens sind. Und Mrs Dalloway dachte: Was für ein Morgen – frisch, wie geschaffen für Kinder am Strand.
Virginias Paradies der frühen Jahre wird in London von der Wirklichkeit überschattet. Das hochsensible Kind hatte erst mit drei Jahren Sprechen gelernt. Aber dann versetzt sie ihre Geschwister in Panik, denn sie kann ihr Gesicht vor Wut purpurrot anlaufen lassen. Und mit dieser furchterregenden Maske prophezeit sie, dass gleich aus einer riesigen Wolke Blitze auf sie niederschießen würden. Am brennenden Kaminfeuer aber erzählte sie leckere Geschichten von Riesenportionen Ham and Eggs, und dass im Kinderzimmer ein Goldschatz versteckt sein soll, entzückt Vanessa, Thoby und Adrian.
In eine Schule ist Virginia nie gegangen. Brauchen Mädchen nicht, meint der Vater Sir Leslie Stephen, Herausgeber des »Dictionary of National Biography«. Mädchen sind für ihn in erster Linie zum Dienen da. Aber lernen sollen sie natürlich schon ein bisschen. Die Mutter unterrichtet sie in Latein, Geschichte, Griechisch und Französisch, der Vater in Mathematik. Aber Rechnen hat Virginia nie begriffen. Ihr Leben lang wird sie alles an ihren zehn Fingern abzählen. Lesen dagegen ist ihr schönstes. Sie liest Shakespeare, Dickens, Henry James, Christopher Marlowe und natürlich den großen Thackeray, der ja quasi zur Familie gehört, denn ihr Vater war einmal Thackerays Schwiegersohn. Und wenn sie den Geschwistern aus Romanen der viktorianischen Autorin Charlotte Yonge vorliest, macht sie eine Strichliste über die vielen Toten.
Doch in Hyde Park Gate lauert auch der richtige Wahnsinn. Da ist der Exhibitionist, der sich an einem Laternenpfahl vor Virginia und ihrer Schwester Vanessa bloßstellt. Da ist Laura, die Halbschwester aus der ersten Ehe ihres Vaters. Sie ist geistig zurückgeblieben, bockig und bösartig, spricht krampfhaft quiekend, quasselt ununterbrochen, spuckt beim Essen rum, heult und kräht in teuflischen Tönen und wird später in eine Anstalt für Geisteskranke gebracht. Da ist der Vetter, ein intelligenter Eton-Student, der nach einem Unfall mit Kopfverletzung verrückt geworden ist, seinen süßen Cousinen nachstellt und mit einem Stockdegen in ihr Zimmer stürmt und die Butterbrote aufspießt.
Und da ist George, der 14 Jahre ältere Halbbruder, Sohn ihrer Mutter aus erster Ehe. Virginia ist 13 als er sie missbraucht. Er liebkost und küsst sie, bringt sie ins Bett und fummelt an ihr herum. Was immer am Ende passiert sein mag, wie weit der Inzest bei ihr und der drei Jahre älteren Vanessa ging, bleibt unklar. Virginia aber, dieser ohnehin ängstliche, scheue Teenager, ist von seinen erotischen Wünschen zwar irgendwie elektrisiert, aber dann von Schuldgefühlen wie erstarrt. Zu dieser Zeit beginnt ihr Herzrasen. Ihr Puls schießt so in die Höhe, dass der Hausarzt den Unterricht verbietet und lange Spaziergänge verordnet.
Zwei Jahre vor ihrem Selbstmord wird Virginia Woolf in einem biographischen Bericht über George schreiben: Er war in einer Position, uns seinen Stempel fest aufzudrücken. Und er war reich. Er hatte tausend Pfund im Jahr, und ich hatte fünfzig. Schon die hatte Sir Leslie seinen Töchtern nur widerwillig zugestanden. Doch damit konnte man natürlich keinen Staat machen. George, der sie in den nächsten Jahren in die Gesellschaft einführt, macht sich über ihre Kleider aus billigen Stoffen lustig, was Virginia verletzt und unsicher macht. Aber sie ist auch verführbar. George nämlich macht luxuriöse Geschenke. Sie bekommt Schmuck und Kleider und Opernkarten, Vanessa sogar ein Araberpferd. Doch auf den Festen fühlt Virginia sich wie eine Ausgestoßene. Dabei sieht sie hinreißend aus. Aber sie kann nicht richtig tanzen, und das findet sie so bitter, dass ich all mein Griechisch dafür geben würde, gut tanzen zu können.
Sie findet auch diese ganzen Gesellschaftsdamen eher schrecklich und wird sich später mit Mrs Dalloway eine liebenswürdige Lady erfinden, die eine glänzende Soiree gibt: Sie fühlte sich sehr jung; gleichzeitig unaussprechlich betagt. Sie schnitt wie ein Messer durch alles; war gleichzeitig außerhalb und sah zu. Wie Virginia. Auch sie steht immer irgendwie am Rand und guckt zu. Und wenn sie spät am Abend mit George nach Hause kommt, wundert sich niemand darüber, dass er sie in ihr Zimmer bringt. Wer ahnt denn, dass er sie dort auskleidet, sich zu ihr aufs Bett legt, zudringlich wird und sie überall berührt und küsst. Manchmal kommt er auch mitten in der Nacht noch mal reingeschlichen. Da kann sie doch nicht schreien und Krach schlagen. Und wer hätte ihr, der Geschichtenerzählerin, die schon damals meint, diese schrecklichen Stimmen zu hören, überhaupt geglaubt.
Aber was macht es mit einem, wenn solche Erlebnisse verheimlicht bleiben? Sie werden in die Träume gezwungen. Und so verderben sie den Schlaf, weil die Träume zu Albträumen werden. Auch ihr sexuelles Leben ist kaputt gegangen noch bevor es begonnen hat. Sie ist frigide und fühlt sich früh zu Frauen hingezogen. Die etwas überspannte, leidenschaftliche Madge Symonds, mit der sie so wunderbar über Literatur reden kann, wird genau in der Zeit von Virginia, wie sie schreibt, angebetet.
Und verliebt ist sie auch in Violet Dickinson, die temperamentvolle, leicht verrückte, viel zu lange, dürre Dame der High Society; immer sprach sie, lachte sie, ging sie mit jugendlichem Eifer auf alles ein, schreibt Virginia über die 37jährige und schickt zärtliche, leidenschaftliche, auch herrlich verrückte Briefe an sie, ihr Weib, das sie Känguru nennt mit einem Beutel für kleine Kängurus zum Unterkriechen. Das kleine Känguru ist sie natürlich. Sie hört das Herz der Freundin durch die Rippen pochen, wenn sie sich an sie schmiegt, sie ist bis in heiße Vulkantiefen aufgewühlt und schreibt: Meine Speise ist Liebe! Die bedrückenden Gesellschaftserlebnisse mit dem Stiefbruder bleiben aber der Stoff, den sie später in ihren Romanen verarbeitet. Nicht nur Mrs Delloway steht da am Rand und beobachtet alles, auch in »Jacobs Zimmer« heißt es: Das Amüsante an einer Gesellschaft ist, die Leute zu beobachten. Und in ihrer frühen Erzählung »Das Mal an der Wand« wirken Tänzer auf eine quälende Weise wie Fliegen, die in einem Teller mit klebriger Flüssigkeit zappeln.
Und immer wieder hält der Tod Einzug in Hyde Park Gate. Die Mutter stirbt, als Virginia 13 ist, die Stiefschwester Stella zwei Jahre später mit 28 Jahren. Sie hatte gerade geheiratet und war schwanger. In diesen zwei Jahren zieht Virginia sich völlig zurück. Ich hatte schreckliche Angst vor Menschen – pflegte zu erröten, wenn man mich ansprach. Pflegte oben in meinem Zimmer zu sitzen und vor Wut zu toben – auf Vater, auf George, und las und las und las. Aber sie schreibt nicht. Schreibt zwei Jahre lang kein Wort. Ich hatte die Lust verloren. Und dann stirbt der inzwischen taube Vater an Darmkrebs. Aber wie langsam! Monate, Jahre. Alles fing mit Schwindelanfällen und Stürzen an. Vater stürzend, & ich dachte, er stehe in Flammen. Tag für Tag kommen Verwandte, Freunde, Besucher, wallfahrten ins Sterbezimmer und sitzen dann im Salon und wollen unterhalten werden, was Virginia grauenvoll findet. Und Leslie Stephen lebt und lebt. Das Warten ist unerträglich, schreibt sie an Violet. Es wird Winter, Weihnachten, Januar. Warum muss er sterben? Und wenn er sterben muss, warum kann er nicht sterben? fragt sie. Erst im Februar geht es zu Ende, und nun träumt die 22jährige nachts vom Vater. Nun möchte sie ihm sagen, was sie im Leben nie gesagt hat – wie gern sie ihn gehabt. Ja, er war ein Tyrann. Ja, er war autoritär. Und wenn er wütend war, sollten seine Töchter weinen. Aber nun fühlt sie sich schuldig. Schuldig, ihn nicht genug geliebt zu haben, schuldig, ihm in seiner Einsamkeit nicht geholfen zu haben. Sie sieht sich auf einem schmalen, absturzgefährdeten Lebensweg davongaloppieren. Und hinter ihr galoppiert die Angst. Der Schock seines Todes paralysiert sie. Sie glaubt, verrückt zu werden. Ja, verrückt. Und da möchte sie sterben.
Virginia Woolf war eine normale Frau, die eine Krankheit hatte, schreibt Hermione Lee in ihrer großen, klugen Biographie. Sie war oft leidend, aber sie war kein Opfer. Sie war weder schwach noch hysterisch, noch in Selbsttäuschungen befangen, noch schuldig, noch unterdrückt. Ihre Krankheit aber ist eine Hypothek: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Herzschmerzen, Nervosität, Depressionen, Schüchternheit, Erschöpfungszustände, Furcht vor Menschen und dieser Widerwille gegen alles Essen. Ja, sie war dünn, aber nicht, weil sie magersüchtig war, sie konnte, mochte einfach nicht essen.
So kommt es, dass sich ihre Schuldgefühle nach dem Tod des Vaters zu einer regelrechten Phobie entwickeln. Und da bricht sie dann zusammen. Die Krankenschwestern, die sich um sie kümmern, hält sie für Teufel. Und die Stimmen, die sie jetzt deutlich hört, wiegeln sie, wie sie glaubt, zu Wahnsinnstaten auf. Ihre Schwester Vanessa ist völlig überfordert, und so holt Violet Dickinson sie zu sich in ihr Haus. Und da unternimmt Virginia ihren ersten Selbstmordversuch. Sie springt aus dem Fenster. Für den Tod war es nicht hoch genug. Aber sie hat sich verletzt, liegt im Bett, hört die Vögel draußen singen und glaubt, sie reden Griechisch, und zwischen den Azaleen im Garten sieht sie König Edward VII. herumschleichen, den exzentrischen Sohn der toten Queen Victoria, der da draußen ziemlich obszönes Zeug redet. Den ganzen Sommer über dauert die Geistesverwirrung, und als Virginia wieder zu Hause ist, schreibt sie an ihre Freundin: O Violet, wenn es einen Gott gäbe, würde ich ihn preisen dafür, dass er mich von dem Elend der vergangenen sechs Monate erlöst hat.
Die Geschwister ziehen um. Raus aus dem Totenhaus, weg von Kensington ins weniger feine Bloomsbury. Da sind auch die Mieten billiger, denn die Stephen-Kinder haben nicht allzu viel vom Vater geerbt. Der Umzug ist wie eine Flucht, der Einzug ins neue Haus wie eine Befreiung. Niemand maßregelt sie mehr. Kein Aufpasser, kein Halbbruder. Sie leben zum ersten Mal ungezwungen. Ziehen sich zum Abendessen nicht mehr um. Warum sollten sie. Sie wollen sich ihren eigenen Kreis am Gordon Square suchen. Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler. Thoby bringt aus Cambridge Leonard Woolf mit und den Schriftsteller Lytton Strachey. Aber Woolf ist bereits auf dem Weg nach Indien, in den Dschungel. Ob er je wiederkommen wird, weiß der Teufel. Dann stoßen Desmond Mac Carthy, Saxon Sydney-Turner, Roger Fry und Clive Bell dazu, der Vanessa heiratet und mit Virginia rumflirtet. Ihre geselligen Donnerstagabende sind berühmt, ihre Künstler der Nabel der Welt, ihre Dispute sind scharf und heftig, und manchmal geht man sich auch ziemlich auf die Nerven.
Gelegentlich trinkt Virginia im Golfclub Tee mit Henry James. Über die Umständlichkeit des berühmten Schriftstellers macht sie sich in einem Brief an Violet lustig. Liebe Virginia, hatte er zu ihr gesagt, wie ich höre, wie ich höre, wie ich höre – immerhin bist du ja die Tochter deines Vaters, ja sogar die Enkelin deines Großvaters, der Nachfahr sozusagen eines ganzen Jahrhunderts, Jahrhunderts von Federkielen und Tinte, Tintenfässern, ja, ja, ja, – wie ich höre – ähemm – schreibst du. Ja, Virginia schreibt wieder, macht sich Gedanken, wie sie den Roman reformieren kann, sucht neue Formen, aber ich weiß, morgen werde ich wieder über den alten leblosen Sätzen sitzen.
Den Bloomsbury Club findet Henry James, der ein Herr alter Schule ist, schrecklich. Die jungen Leute sind ihm einfach zu frech und taktlos, führen Gespräche über Sex und Beischlaf, und das Wort Arschficker geht ihnen tatsächlich ganz leicht über die Lippen. Was für eine Generation! Sie proklamieren sogar die freie Liebe, auch Nacktbaden bei Mondschein gehört zur Emanzipation. Und auf einem Impressionistenball sollen Vanessa und Virginia – wie entsetzte Damen der Gesellschaft erzählten – halbnackt als gauguinsche Südseemädchen aufgetaucht sein.
Eines Tages macht Lytton Strachey Virginia einen Heiratsantrag, und sie nimmt ihn an. Das erschreckt den Freier. Die Vorstellung, sie könnte in ihn verliebt sein, ihn sogar küssen wollen, irritiert ihn derart, dass er den Antrag am liebsten gleich wieder zurückziehen würde. Seine Homosexualität ist für Virginia aber eher beruhigend. Da würden wenigstens keine erotischen Ansprüche gestellt. Sie würden wie Bruder und Schwester leben. Und Intellektualität ist ihr doch wichtiger als alles andere. Vanessas Sohn Quentin Bell wird 1972 eine Biographie über seine Tante publizieren, und ihm stand damals alles Material zur Verfügung: ungedruckte Texte und Briefe und Tagebücher der ganzen Familie. Virginia hatte also zu Lytton gesagt, dass sie ihn nicht liebe, und das tat sie wohl auch nicht, schreibt der Neffe. Sie war, wie sie später einmal gestand, sexuell immer ein Feigling gewesen, und ihre bisherige Erfahrung mit männlicher Sinnlichkeit war erschreckend und abstoßend. Aber sie wünschte sich, verheiratet zu sein; sie war siebenundzwanzig Jahre alt und war es leid, allein zu leben.
Mit neunundzwanzig Jahren ist sie noch immer unverheiratet. Dabei hat auch Walter Lamb aus der Bloomsbury Group ihr einen Antrag gemacht. Sie mag ihn, schreibt aber an ihre Schwester: Ich bekannte mich zu meinem Egoismus, meinen Scheuklappen, meiner Eitelkeit und meinen sonstigen Untugenden. Sie lehnt also ab. Und dann kommen die Kopfschmerzen wieder, die Depressionen. Ich konnte nicht schreiben, und die ganzen Teufel – haarige schwarze – krochen hervor. Neunundzwanzig sein und unverheiratet – ein Versager – kinderlos – dazu geisteskrank und kein Schriftsteller.
Das schreibt sie im Juni 1911. Es ist der Monat, in dem Leonard Woolf aus Ceylon zurückkommt. Der künftige Verleger und politische Autor macht ihr den dritten Heiratsantrag. Und sie zögert und zögert und schreibt ihm erstmal, dass sie aus der Ehe nun wirklich keinen Beruf machen möchte, und natürlich ärgert mich manchmal die Stärke Deines Begehrens. Möglicherweise spielt auch die Tatsache mit, dass Du Jude bist. Du erscheinst so fremd. Und dann bin ich schrecklich unbeständig. Ich wechsle in einem Augenblick von heiß zu kalt, ohne jeden Grund. Er müsse auch wissen, dass sie scheu und reserviert sei, und neulich habe sie ihm ja auch mit brutaler Offenheit gesagt, dass sie ihn körperlich nicht anziehend fände, und als er sie küsste, habe sie nicht mehr gefühlt als ein Stein. Ein Jahr geht das so mit vielen Besuchen, Briefen und Bedenken. Dann endlich kann sie ihm sagen, dass sie ihn sehr mag, ja liebe und heiraten wolle. Meine liebe Violet, schreibt sie, ich muss Dir etwas beichten. Ich werde Leonard Woolf heiraten. Er ist Jude und hat keinen Pfennig. Aber sie ist glücklich wie nie zuvor, versteht nur nicht, dass die Leute um Heirat und Beischlaf einen solchen Wirbel machen. Das mit dem Orgasmus sei wirklich übertrieben. Und Mrs Woolf spielt nach der Hochzeit offenbar auf ihre Frigidität oder gar Jungfräulichkeit an, wenn sie schreibt, sie könnte eigentlich noch immer Miss S. sein.
Das Ehepaar verbringt ihren Honey Moon in Frankreich, Spanien und Italien. Leonard wird sie kaum anrühren, wird ihr auch sagen, dass es klüger sei, keine Kinder zu bekommen. Er führt Tagebuch über ihren Gesundheitszustand: Gute Nacht, leidliche Nacht, schlechte Nacht, Wahnvorstellung, heiterer Tag … Alles ist möglich, und alles wird notiert. Sie leben in London zwischen Asham House in Sussex – mit Plumpsklosett und Petroleumlicht – und Hogarth House in Richmond, wo sie auf ihrer Druckerpresse die bedeutendste Belletristik ihrer Zeit publizieren. Sie machen Reisen durch die Gesellschaft, gehen in die Oper, ins Theater, ins Ballett. Auf dem Lande wird gewandert und geritten, geschrieben, gelesen und Besuch empfangen.
Aber dann ist der Ekel wieder da. Warum isst man eigentlich, wenn das ganze Essen auf so unappetitliche Weise wieder ausgeschieden wird. Da isst sie lieber nichts mehr oder viel zu wenig und wird dünn und dünner. Sie spricht mit ihrer toten Mutter, und die schlaflosen Nächte, die Depressionen, die Schuldgefühle sind noch immer da. Sie braucht Schlaftabletten, ist ja längst abhängig, und Leonard fürchtet einen neuen Suizidversuch. Der passiert auch. Sie findet die Dose, in der ihr Mann das Veronal aufbewahrt. Sie nimmt eine tödliche Dosis, wird bewusstlos in ihrem Bett gefunden, ins Krankenhaus transportiert, der Magen wird ihr ausgepumpt, sie überlebt. Und kaum scheint sie einigermaßen in Ordnung zu sein, werden die Stimmen wieder laut, und die Wahnvorstellungen steigen erneut in ihr hoch. Ist sie tatsächlich geisteskrank? Muss sie in eine Irrensanstalt? Nein, sagt der Arzt. Ein paar ausgebildete Pflegerinnen und der Ehemann könnten es auch so schaffen.
Als 1915 ihr erster Roman »The Voyage Out« – »Die Fahrt hinaus« – erscheint, wird er von vielen Kritikern gefeiert. Was hatte im »Observer« gestanden? Verglichen mit anderen Romanen ist dieser ein wilder Schwan unter biederen Graugänsen. Ach, das gefällt ihr. Alle Ängste fallen von ihr ab. Sie isst wieder, nimmt zu, wiegt jetzt 152 Pfund, und die Folge ist, dass ich kaum noch einen Berg hinaufkomme. Sie wird langsam, sehr langsam wieder gesund. Und Leonard ist dabei der bad Boy, der jede Aufregung von ihr fernhält. Er hat ihren Tagesablauf festgelegt: Morgens Schreiben, mittags Spazierengehen, oft zehn Kilometer, abends lesen, gelegentlich Freunde besuchen – nicht mehr.
Und da sitzt sie dann in ihrem Arbeitszimmer im zerschlissenen Sessel, aus dem schon die Füllung quillt, immer mit diesem dünnen Holzbrett auf den Knien – und schreibt. Schreibt sich mit »Nacht und Tag«, »Jacobs Zimmer«, »Mrs Dalloway«, »Zum Leuchtturm« oder »Orlando« in den literarischen Zenit. Sie wird berühmt, wird die große Virginia Woolf, aber ihr Mann weiß, dass jeder neue Roman sie wieder an den Rand des Wahnsinns bringen wird, dass sie jedes Mal wieder mit ihren Teufeln kämpfen muss. Durch die letzten zehn Seiten der »Wellen« taumelt sie geradezu, glaubt, nur noch der eigenen Stimme nachzuwanken – bis es geschafft ist. Bis die letzte Zeile steht. Ich hatte beinah Angst, weil ich mich an die Stimmen erinnerte, die mir früher manchmal voraus flogen. Jedenfalls ist es geschafft; und ich habe diese fünfzehn Minuten dagesessen in einem Zustand der Verzückung und inneren Ruhe; auch ein bisschen geweint.
Und was für ein Glück, wenn dann die Entwarnung kommt, das Lob der Presse, der Jubel der Freunde, die steigende Auflage, der Verdienst. Und der bringt dann den Luxus, die wunderbaren Erleichterungen für Monk’s House, dem Cottage, das die Woolfs in Rodmell, East Sussex, erworben haben: Zwei Wasserklosetts, und das Plumpsklo im Hof ist Vergangenheit, elektrische Leitungen im ganzen Haus, ein Kühlschrank, ein neues Bett, ein Radio, fließend warmes Wasser in Bad und Küche, ein Grammophon und ein Auto. Ja, Virginia Woolf lernt Autofahren, steuert aber gleich auf eine Hecke zu und fährt hindurch. Also macht lieber Leonard seinen Führerschein. Und sie liebt es, Champagner zu trinken und dabei ein bisschen aufzudrehen. Ich liebe es, an einem heißen Freitagabend nach Rodmell zu fahren und kalten Schinken zu essen und auf der Terrasse zu sitzen und in Gesellschaft von einer oder zwei Eulen eine Zigarre zu rauchen.
Anfang der zwanziger Jahre lernt sie die Autorin Vita Sackville-West kennen – aristokratisch, reich, schön, begabt, verheiratet, zwei Kinder, kennt Gott und die Welt, ist lesbisch und zehn Jahre jünger als sie. Nicht so recht mein Geschmack, glaubt Virginia Woolf am Anfang, bunt wie ein Papagei. Aber schon bald fühlt sie sich enorm von ihr angezogen. Sie bewundert, wie souverän die Lady sich klunker- und perlen- behangen in der Gesellschaft bewegt, wie sie mit Herzögen und Dienern umgeht, wie sie sich kleidet, manchmal türkisch und manchmal unverschämt kess in Hosen. Da ist ihre Reife und ihre Vollbusigkeit; da ist die Tatsache, dass sie mit vollen Segeln die hohe See befährt, wo ich Küstenschifffahrt betreibe. Aber sie weiß auch: Diese Lesbierinnen lieben Frauen; ihre Freundschaft ist nie frei von Erotik. Und das ist sie bald auch nicht mehr bei Virginia Woolf. Wenn ihr Mann nach London zurück fährt, übernachtet Vita schon mal bei ihr in Monk’s House. Es hat wahrscheinlich Zärtlichkeiten zwischen ihnen gegeben, schreibt ihr Neffe Clive Bell, sie sind wahrscheinlich auch miteinander ins Bett gegangen; aber was immer auch zwischen ihnen vorgefallen ist, ich bezweifle, dass es Virginia erregt und Vita befriedigt hat. Vitas Sohn wird später aus einem Brief seiner Mutter an seinen Vater zitieren. Darin steht, dass sie Virginia liebe. Aber wer liebe Virginia nicht! Ja, sie habe zweimal mit ihr geschlafen, das sei alles. Denn: Ich habe tödliche Angst, körperliche Gefühle in ihr hervorzurufen, wegen des Wahnsinns …
Und Virginia Woolfs Gemütszustand ist nun mal labil und unberechenbar. Wachte gegen drei Uhr auf, schreibt sie am 15. September 1926 ins Tagebuch. Oh, es fängt an, es kommt – der Schrecken – physisch wie eine in der Herzgegend anschwellende Woge – die mich hoch schleudert. Ich bin unglücklich, unglücklich! Erledigt – o Gott, ich wünschte, ich wäre tot. Und so geht es weiter: Die Woge kommt, die Woge zerschellt mit immer wechselnden Schrecken. Dann, auf dem Höhepunkt, ebbt der Schmerz ab. Ich nicke ein. Ich fahre erschrocken hoch. Die Woge wieder! Die sinnlose Qual; das Gefühl, ein Versager zu sein.
Eines Tages schreibt Virginia Woolf an Vita Sackville-West: Gestern morgen war ich verzweifelt … Ich konnte mir nicht ein einziges Wort abringen und stützte schließlich den Kopf in die Hand, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb die folgenden Worte, wie automatisch, auf ein sauberes Blatt: Orlando: Eine Biographie. Kaum hatte ich das getan, geriet ich in eine Art Ekstase, und die Ideen strömten mir nur so zu. Also was würde Vita sagen, wenn dieser Orlando nun s i e wäre? Und wenn die Geschichte von ihren Lüsten und Verführungskünsten handelte? Würde ihr das etwas ausmachen? Sag ja oder nein. Und Vita sagt vor Schreck und Begeisterung: Ja. Sie weiß doch, dass Virginia jeden, den sie kennt und alles, was sie erlebt, zu Literatur machen kann. Nur über ihren Tod, hat sie einmal zu Vita gesagt, werde sie leider nicht mehr schreiben können. Orlando wird die Geschichte eines unsterblichen, ewig lebenden Jünglings, der sich nach zweihundert Jahren in eine emanzipierte Frau umwandelt und mit Literatur und Erotik – bis in Vitas und Virginias Gegenwart – Spuren hinterlässt. Ja, es ist eine Liebeserklärung an die Freundin, und nie wieder wird Virginia Woolf einen Roman so schnell, so leicht, so lustvoll und mit so lockerer Hand schreiben.
Aber die Einschläge kommen näher. Bei einem Spaziergang mit Freunden im Garten hat sie wieder das Gefühl, ihr Kopf klemmte fest in einem Drahtkäfig. Jawohl, ich bin wahrscheinlich fertig, erledigt, am Ende. Verdammt noch mal! Und in dem Augenblick fällt sie auch schon um und denkt noch: Wie seltsam – Blumen. Sie wird ins Haus getragen, sieht das entsetzte Gesicht ihres Mannes, fühlt noch die rasenden Herzschmerzen – und wird ohnmächtig. Wieder eine neue Erfahrung. Die wird sie am nächsten Tag ihr Scharmützel mit dem Tod nennen. Und sie überlegt, was sie wohl Gott gesagt hätte, wenn sie tatsächlich in seiner Gegenwart mit geballten Fäusten und wutverzerrtem Mund aufgewacht wäre. Sie hätte gerufen: Ich will gar nicht hierher! Und sie fragt sich, ob das vielleicht die Gefühle von Menschen sind, die eines gewaltsamen Todes sterben. Wenn ja, kann man sich vorstellen, wie es im Himmel nach einer Schlacht aussieht.
Ihren lakonischen Witz hat sie nicht verloren. Aber als sie 1937 »Die Jahre« beendet, ist sie wieder am Rand des Wahnsinns angekommen. Und kann wieder keine Nacht schlafen, schielt dauernd nach der Flasche mit dem Chloral – und sagt sich dann doch: Nein, du nimmst nichts. Aber sie kann sich nicht beruhigen. Sie weiß genau, der Roman ist misslungen. Aber wehe, jemand sagt es ihr. Hören will sie das nicht. Von niemandem. Leonard soll ihn lesen. Soll sagen, wie er ihn findet. Sie gibt ihm den Text. Er kann ihn erst spät am Abend lesen. Sie sitzt dabei und beobachtet ihn. Er liest. Nein, der Roman ist wirklich nicht gut. Allerdings nicht so schlecht, wie er fürchtete. Trotzdem kann er ihr die Wahrheit nicht sagen. Er weiß, sie würde sich umbringen. Also liest er nicht zu Ende, legt das Manuskript scheinbar zufrieden zur Seite und sagt: Ich halte es für außerordentlich gut. Und schon fällt die Angst von ihr ab. Leonard belügt sie nicht, denkt sie, ihm kann sie trauen. Sie schreibt ins Tagebuch: Jetzt bin ich vom Tod – oder vom Nichtsein – wieder zum Leben erwacht.
Immer wieder versucht sie in den nächsten Jahren, ihre Empfindungen genau zu beschreiben. Sie fühlt sich, als ob sie bei voller Beleuchtung auf einem hohen Sims zur Schau gestellt würde. Sie findet, dass die Angst, das Nichts, sie wie ein Vakuum umgibt. Sie möchte weinen und kann es nicht. Sie schaut sich im Spiegel an und sieht, dass ihre Augen voller Entsetzen sind. Sie schreibt: Und ich weiß, dass ich diesen Tanz auf heißen Ziegeln weitertanzen muss, bis ich sterbe. Also arbeitet sie. Arbeit sei ihre Waffe gegen den kalten Wahnsinn.
Ein anderer Wahnsinn kommt über den Kanal von den Deutschen, die Krieg mit der Welt führen. Virginia Woolf sieht in der Zeitung ein Foto mit SA-Schergen, die einen beschnittenen Juden auf offener Straße demütigen, ihn entblößt den Blicken glotzender Passanten ausliefern. Sie weiß doch längst, dass ein jüdischer Sozialist wie ihr Leonard keine Chance hätte, wenn die Nazis auch England besiegen sollten. Sie siegen im Augenblick ja überall. Wenn die Deutschen also kämen, würden sie – das haben beide beschlossen – gemeinsam in den Tod gehen, würden sich im Auto mit Auspuffgasen vergiften. Sie haben in der Garage genug Benzin in einem Kanister bereitgestellt. Für alle Fälle.
Doch dann endet das Leben der 59jährigen ganz anders und ganz allein. Sie merkt, dass die Vergangenheit wieder mächtig in ihr aufsteigt, dass sie nicht mehr schreiben kann, dass die Stimmen wieder laut und drängend werden. Sie erinnert sich an die schreckliche Zeit ihres Wahnsinns. Nein, nicht noch einmal möchte sie so ein Jahr erleben. Und vor allem möchte sie es Leonard nicht noch einmal zumuten. Er wurde ja so oft schon durch sie aus seinem eigenen Leben geworfen. Liebster, schreibt sie ihm, ich spüre genau, dass ich wieder wahnsinnig werde. Und sie glaube nicht, dass sie beide so eine Zeit noch einmal durchstehen könnten. Du hast mir das größtmögliche Glück geschenkt. Du bist mir alles gewesen, was einem einer sein kann. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen haben glücklicher sein können – bis die schreckliche Krankheit kam. Ich kann nicht länger dagegen ankämpfen. Aber eins möchte sie ihm noch sagen: Hätte mich jemand retten können, wärest Du es gewesen … Den Brief behält sie noch für sich. Einen zweiten, sehr ähnlichen, schreibt sie ihm ein paar Tage später, am Morgen des 28. März 1941 im Gartenhäuschen. Alles, was ich sagen will, ist, bis diese Krankheit über mich kam, waren wir vollkommen glücklich. Und das ist alles Dir zu verdanken. Niemand hätte so gut sein können wie Du gewesen bist. Vom allerersten Tag an bis heute. Und weil bei den letzten Wörtern die Tinte ganz dünn geworden ist, taucht sie die Feder noch einmal tief ein und schreibt: Jeder weiß das. V.
Gegen elf Uhr sieht sie Leonard zum Gartenhäuschen kommen. Sie lässt den Brief liegen und sagt ihm, sie wolle jetzt ein bisschen Hausarbeit machen und vor dem Mittagessen noch etwas spazieren gehen. Es sei zwar kalt, aber doch klar und strahlend. Sie gehen zusammen ins Haus zurück, Leonard will im Arbeitszimmer noch bis zum lunch was tun. Und Virginia läuft ins Gartenhaus zurück, faltet den Brief, schiebt ihn in ein blaues Couvert, schreibt Leonards Namen drauf, geht wieder ins Haus und die Treppe hoch in den ersten Stock, legt den Abschiedsbrief im Wohnzimmer auf den Tisch, zieht unten ihren Pelzmantel an, nimmt den Spazierstock und geht durch die Gartentür hinaus.
Hinter der Kirche läuft sie runter zum Fluss, geht noch ein bisschen am Ufer der Ouse entlang, die ziemlich viel Wasser führt und eine starke Strömung hat und irgendwo bei Brighton in den Ärmelkanal fließen wird. Und weil sie nicht in die Versuchung kommen will zu schwimmen, sucht sie sich einen schweren Stein, stopft ihn in die Tasche ihres Pelzmantels, der sich wohl schnell mit Wasser vollsaugen wird, legt den Spazierstock ans Ufer und steigt in den Fluss hinein – hinab in die Erlösung und den Tod.
Ihre Leiche wird erst am 18. April, weitabgetrieben von Rodmell, gefunden. Ihre Uhr war um 11.45 Uhr stehengeblieben.