An die Empörten dieser Erde - Züricher Rede
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Wir stehen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Welches sind nun die Gefahren, über die man sich nicht nur empören, sondern gegen die man sich auch engagieren soll?
Die erste, schlimme Gefahr ist, dass es auf der einen Seite eine kleine Gruppe gibt, eben »ein Prozent«* der Bevölkerung vielleicht, die unglaublich reich ist und die mit ihrem vielen Geld und ihrem politischen Einfluss alle Macht ausübt, während es auf der anderen Seite Leute gibt, die nur wenig oder gar keine Macht haben. So viele von ihnen leiden an Hunger, an Armut, das ist etwas Schreckliches! Es hat immer Arme und Reiche in der Welt gegeben. Es gibt keine Gesellschaft, in der alle gleich sind. Das hat man mit der kommunistischen Revolution 1917 versucht, im Jahr meiner Geburt, und wir wissen, wohin das geführt hat. Aber die Ungleichheit kann so schrecklich werden, dass man jetzt große Angst haben muss, wenn das so weitergeht!
Wir sind jetzt sieben Milliarden Menschen. Gestern kam gerade ein Bericht der Vereinten Nationen heraus, der besagt, dass wir jetzt sieben Milliarden und vielleicht in ein paar Jahren schon bis zu neun Milliarden Menschen sein werden. Von diesen sieben Milliarden Menschen arbeitet mindestens ein Drittel unter unmenschlichen Bedingungen und lebt in völliger Armut und in der Unmöglichkeit, sich richtig ernähren zu können. Das ist eine enorme Gefahr, die wir erkennen und anerkennen und gegen die wir uns engagieren müssen!
Die zweite, ebenso schlimme, ja vielleicht noch schlimmere Gefahr ist die, dass wir unsere Erde, unseren Planeten so ohne jede Angst um die Zukunft ausgebeutet haben, dass es, wenn es so weitergeht, in ein paar Jahren zu spät sein wird, um maßgebende und nachhaltige Korrekturen vorzunehmen! Das Wasser wird nicht reichen, die Zerealien werden zu teuer sein, und der Energieverbrauch wird so ansteigen, dass eine schreckliche Verschmutzung unserer Umwelt die unausweichliche Folge sein wird. Diese Gefahren sind also da.
Man muss sie erkennen, und darauf will das Büchlein Indignez-vous! hinaus. Es zielt beiden Gefahren ins Gesicht und ruft dazu auf, sich darüber zu empören. Das zweite kleine Buch heißt Engagiert Euch!, es ist eine direkte Übersetzung des französi- schen Titels Engagez-vous! und unterstreicht, dass man sich natürlich nicht nur empören, sondern auch engagieren soll, um diesen Gefahren zu begegnen. Die dritte Gefahr, die ich noch kurz erwägen möchte, bevor wir ins Gespräch kommen, die dritte Gefahr ist der Terror.
Wir leiden jetzt seit zehn Jahren unter einer schrecklichen Furcht vor Terror. Es hat immer Terroristen gegeben, die Unangenehmes angerichtet haben, na ja, schlimm genug! Aber was uns seit zehn Jahren, seit dem Fall der beiden Türme in New York passiert, ist, dass wir denken, es gibt eine Terrororganisation – al-Qaida heißt sie, und das eine oder andere Mitglied wurde inzwischen getötet –, die mit dem Islam verbunden ist, und dass der vielleicht so schrecklich gefährlich werden kann, dass wir die vermeintliche Bedrohung von uns abwenden müssen.
Das ist natürlich die falsche Art und Weise, über das Problem nachzudenken, denn so kommt man zu dem Schluss, auf Afghanistan einzuschlagen, um die Taliban umzubringen. Das aber wird den Terror nicht beseitigen! Wir müssen im Terror die Wirkung eines Hasses von Menschen erkennen, die sich ohne Respekt behandelt fühlen und die einen Hass gegen Leute haben, die dieses »eine Prozent« sind, die alles bestimmen.
Diese Menschen leben in größten Schwierigkeiten, und sie werden immer wieder Menschen mobilisieren können, denen sie sagen: »Ihr müsst jetzt gegen diesen schrecklichen Westen schlagen!« Wie können wir diese Situation überwinden? Nur indem wir uns mehr Kenntnisse verschaffen, wie andere Kulturen aussehen. Dafür aber müssen wir die verschiedenen Kulturen unserer Welt respektieren. Wir müssen eine Welt vorbereiten, die auf dem Mitgefühl für alle anderen aufbaut. Dazu gehört eine neue Art der Erziehung, die nicht zum Egoismus, zum »Immer-mehr-Wollen« und »Sich-gegen-die-anderen-Stellen« führt, um der Bessere und der Stärkere zu sein. Nein, wir müssen Mitgefühl empfinden für alle, die auf dieser Erde leben!
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* Anspielung auf den Slogan »OnePercent« der Occupy-Wall-Street-Bewegung, der die wirtschaftliche Elite der Vereinigten Staaten meint, die über den größten Anteil am Bruttosozialprodukt verfügt. Die Bezeichnung geht auf den gleichnamigen Dokumentarfilm (2006) von Jamie Johnson zurück.