Unser kleines Dorf

Leseprobe "Auch das ist eine Zahl, die wir uns nur schwer vorstellen können. Wir haben deshalb die Verhältnisse auf der Welt auf ein Dorf mit 100 Menschen heruntergerechnet, um sie anschaulich zu machen."
Unser kleines Dorf

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Kapitel:

1 Ernährungsbeschiss – Essen und Trinken

2 Arbeitsbeschiss – Arbeit und Wirtschaft

3 Verteilungsbeschiss – Arme und Reiche

4 Verschuldungsbeschiss – Schulden | Bildung | Gesundheit

5 Geschlechterbeschiss – Frauen | Männer | Kinder

6 Migrationsbeschiss – Moslems und Migrantinnen

7 Demokratiebeschiss – Demokratie und Medien

8 Naturbeschiss – Natur | Rohstoffe | Konsum

9 Klimabeschiss – Energie und Klimawandel

10 Verkehrsbeschiss – Öl und Mobilität

11 Rüstungsbeschiss – Krieg und Frieden

12 Glücksbeschiss – Glück und Unglück

Vorwort:

Staatsschulden von weltweit fast 50 Billionen Dollar? Beinahe 12 Billionen Dollar, die in Steueroasen parken? Und wie viele Milliarden oder Billionen umfasst noch mal der Euro-Rettungsschirm? Im Zeichen der Finanz- und Eurokrise fliegen einem Millionen, Milliarden und Billionen nur so um die Ohren – und werden dabei immer abstrakter und unvorstellbarer. Fatalerweise werden wir währenddessen immer gleichgültiger gegenüber diesen Summen.

Sagen Sie mal »eins, zwei, drei«. Wenn Sie in diesem Tempo bis zu 1 Million zählen, sind Sie 11,5 Tage lang beschäftigt – ohne zu essen, zu trinken oder zu schlafen. Um bis zu 1 Milliarde zu kommen, müssen Sie 32 schlaflose Jahre lang ununterbrochen zählen. Für 1 Billion benötigen Sie 32 000 Jahre – ebenfalls unvorstellbar. Menschen können sich eigentlich nur Zahlen vorstellen, die in ihrem Alltag vorkommen – also zum Beispiel den Preis ihres Hauses. »Wir Menschen sind einfach nicht dafür gemacht, uns solche großen Zahlen vorstellen zu können, das ist weder in unseren Genen angelegt, noch haben wir das durch die Evolution gelernt«, sagt der Mathematiker Albrecht Beutelspacher. Und er setzt warnend hinzu: »Wir Menschen sind auch nicht dafür gemacht, mit 100 oder 150 Stundenkilometern zu fahren, deswegen brauchen wir sichere Autos mit Bremsen (...) Und so müsste man es mit den Zahlen auch machen. Dass hier sozusagen per Mausklick irgendwelche Leute Milliarden oder noch mehr verschieben können und damit Volkswirtschaften gefährden – das geht meines Erachtens nicht. Das ist so gefährlich wie ein Atomtransport oder eine Rakete.« Man kann nur hoffen, dass der Kasinokapitalismus sich genauso höflich und anständig verabschiedet, wie es der real existierende Sozialismus getan hat – er war ja so nett, sich weitgehend ohne Gewalt zu verabschieden und einfach zusammenzubrechen.

In diesem Buch versuchen wir, Zahlen und komplexe Zusammenhänge sinnlich erfassbar darzustellen. Nicht mit den üblichen statistischen Säulen und Tortendiagrammen, sondern mit Illustrationen. Sie sollen deutlich machen, wie wir beschissen werden von den Reichen, Mächtigen und Privilegierten diese Welt. Sie sollen aber auch zeigen, wie wir selbst die Bescheißenden gegenüber Schwächeren oder auch der Natur sind – oftmals unfreiwillig, weil wir die Verhältnisse zu wenig durchschauen. Als Maßstab dient uns dabei gefühlte Gerechtigkeit. Was Gerechtigkeit genau ist und wie groß Unterschiede zwischen Menschen sein dürfen, darüber haben kluge Menschen ganze Bibliotheken voll geschrieben; es wäre vermessen, das auch nur ansatzweise referieren zu wollen. Experimente der Spieltheorie zeigen indes, dass Menschen ein intuitives Gefühl für Fairness und gerechtes Teilen besitzen. Wer in Spielen nur nimmt und kaum gibt, wird als unfair angesehen, wer sich Privilegien auf Kosten anderer aneignet, ebenso. Wir haben uns bei der Auswahl der Buchinhalte an diesem intuitiven Gerechtigkeitssinn orientiert und glauben, dass wir damit richtigliegen.

Die Weltwirtschaft gleicht gegenwärtig einer irrwitzigen Umverteilungsmaschine von den Armen zu den Reichen. Das einzige Gegenmittel heißt: Rückkehr zur Idee der Gleichheit. Es folgt eine WARNUNG. Trauen Sie keiner Zahl, hinterfragen Sie jede! Bei der Auswahl und Überprüfung der Fakten und Daten in diesem Buch haben wir uns viel Mühe gegeben. Aber auch wir können Fehler gemacht haben. Und, noch entscheidender: Was wir nicht überprüfen konnten, sind die Methoden, wie die hier zitierten Zahlenverhältnisse, Umfragen, Messungen und Rankings zustande gekommen sind. Wissenschaftler verrechnen sich, Forscher vergleichen Äpfel mit Glühbirnen und Zwergzwetschgen, Auftraggeber veröffentlichen nur ideologisch erwünschte Ergebnisse, Umfragen ergeben je nach Fragestellung sehr unterschiedliche Resultate, Messungen basieren auf falschen Maßstäben und Vorannahmen. Beispiel internationale Rankings für Universitäten: Die für Studierende so wichtige Lehre wird oftmals gar nicht bewertet, sondern nur die Forschungsleistungen. Die Ranking-Ermittler errechnen diese über bibliometrische Datenbanken, indem sie die Menge englischer Veröffentlichungen von Angehörigen der jeweiligen Unis in naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften messen. Das sagt über die Qualität einer Hochschule nicht viel aus – und verzerrt das Ergebnis zudem zugunsten von Naturwissenschaften und englischsprachigen Universitäten.

»Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast«, soll Winston Churchill einmal gesagt haben. Der Satz fasst das berechtigte Misstrauen gegenüber Zahlen aufs Schönste zusammen – und ist doch wahrscheinlich selbst gefälscht. Bisher hat niemand das Zitat in Churchills Werken gefunden. Wenn wir Gäste beherbergen, wünschen wir uns, dass sie Räume, Toilette und Badezimmer so hinterlassen, wie sie sie vorgefunden haben. Die Welt in einem ebenso guten Zustand zu hinterlassen, wie wir sie vorgefunden haben, das ist eine – zugegebenermaßen verkürzte – Definition des leider sehr verbrauchten Wortes »Nachhaltigkeit«. Weil inzwischen auch ein Konzern wie die Lufthansa sich als nachhaltig darstellt, indem er Kranichschutzstationen unterstützt, während er gleichzeitig das Klima durch Abgase und Treibhausgase lustig weiterverpestet, ist das Wort eigentlich nicht mehr zu gebrauchen. Wir benutzen deshalb lieber »Zukunftsfähigkeit« oder »Enkeltauglichkeit«.

Alles, was unseren Enkeln die Welt genauso gut hinterlässt, wie wir sie vorgefunden haben, finden wir gut. Alles, was Natur, Wirtschaft und Gesellschaft auf kurze oder längere Sicht zerstört, finden wir schlecht – und an diesen Kriterien haben wir uns bei der Zusammenstellung des »Beschissatlas« orientiert. Aber was heißt das angesichts von 7 Milliarden Erdbewohnern? Auch das ist eine Zahl, die wir uns nur schwer vorstellen können. Wir haben deshalb die Verhältnisse auf der Welt auf ein Dorf mit 100 Menschen heruntergerechnet, um sie anschaulich zu machen. Hilfreich war dabei das Buch »Unser kleines Dorf« dreier österreichischer Autoren, die das schon vor uns getan haben. Die folgenden Zahlen stammen entweder aus diesem Buch oder wurden mit Material aus dem Internet aktualisiert.

Das »Dorf Welt« mit seinen 100 Menschen sieht folgendermaßen aus: 61 Asiaten, 15 Afrikaner, 11 Europäer, 13 Amerikaner, 0 Ozeanier leben darin.

27 Menschen sind Kinder unter 15 Jahren. 65 Personen sind Jugendliche und Erwachsene zwischen 15 und 64 Jahren. 8 Menschen sind 64 und älter.

89 sind Heterosexuelle, 11 Homosexuelle.

20 sprechen chinesische Sprachen, 7 Hindi und Urdu, 7 Arabisch,6 Englisch, 5 Spanisch, 3 Russisch, 3 Bengali, 3 Portugiesisch, 2 Japanisch, 2 Deutsch.

70 sind Nicht-Christen, 30 Christen.

51 Menschen sind normal- und 49 fehlernährt: 21 sind zu dick, davon sind 7 fettleibig. 14 hungern, 14 sind mangelernährt. Zusammen 28 Menschen sind so unzureichend mit Vitaminen und Mineralstoffen versorgt, dass ihre Gesundheit und Intelligenzentwicklung leiden.

52 Personen gehen einer geregelten Erwerbsarbeit nach. Die meisten arbeiteten im Dienstleistungssektor, es folgen Landwirtschaft und Industrie. | 20 haben ein Anrecht auf öffentlich finanzierte Pensionen oder Renten, 80 sind hingegen auf die eigene Vorsorge, auf einen Familienverband oder Almosen angewiesen. | 15 bis 20 Menschen sind unterbeschäftigt, eine unbekannte Anzahl sind Working poor, zählen also zu denen, die vom Lohn ihrer Arbeit nicht leben können. 3 gelten offiziell als arbeitslos, wobei die wirkliche Zahl wesentlich höher liegen dürfte. 10 müssen regelmäßig mehr als 48 Wochenstunden arbeiten.

1 Mann besitzt 44% des Dorfeigentums. | Zusammen mit 9 anderen Personen gehören ihm 84% des Dorfeigentums. | 40 weitere Menschen besitzen 15%. | Den 50 restlichen Bewohnern – mehrheitlich Frauen – gehört zusammen nur 1% des Dorfeigentums, 44 von ihnen haben keinen Zugang zu Bankkonten. | 48 Menschen leben von weniger als 2 Dollar pro Tag. 15 wohnen in einem Slum, 20 haben keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser, 45 keinen ausreichenden Zugang zu sanitären Einrichtungen. | 40 Personen sind von Gesundheitsdienstleistungen fast ausgeschlossen, 30 können im Krankheitsfall nicht damit rechnen, Medikamente zu bekommen. | 10 Menschen sind behindert, davon 8 im armen Teil des Dorfes. 16 Einwohner haben Bluthochdruck und 3 sind zuckerkrank, beides in den reicheren Teilen des Dorfes. 8 Personen leiden unter psychischen Erkrankungen, davon 3 unter Depressionen und 2 unter Alkoholabhängigkeit. 4 haben sich mit Malaria infiziert, 3 mit Tuberkulose, 2 mit Elefantiasis, 1 mit HIV/Aids (im afrikanischen Teil des Dorfes), 1 ist dement (im europäischen Teil des Dorfes). 12 sind Analphabeten , davon 8 Mädchen und Frauen. | Von 16 schulpflichtigen Kindern geht 1 Kind aus Armutsgründen gar nicht zur Schule, 4 besuchen sie nur zeitweise. | 17 der insgesamt 50 Frauen und Mädchen im Dorf sowie 4 Kinder erleiden körperliche oder sexuelle Gewalt, 2 Mädchen wurden genital verstümmelt – die Zahlen sind Schätzungen, die Dunkelziffer ist hoch.

12 Menschen aus dem nordamerikanischen und europäischen Teil des Dorfes konsumieren fast 2/3 aller im Dorf verfügbaren Güter und Ressourcen. | 14 Menschen verbrauchen fast 2/3 des Stromes, 27 Menschen haben keinen Zugang zu Strom und elektrischen Geräten, 39 Menschen beziehen ihre Energie praktisch ausschließlich aus Holz und Muskelkraft. | 56 Menschen besitzen ein Mobiltelefon, 23 einen Fernseher, etwa 20 einen Computer oder Laptop, 9 verfügen über einen eigenen Internetanschluss. | 11 Menschen fahren ein Auto. |

2 Menschen sind in gesundheitsschädlichem Ausmaß giftigen Stoffen wie Blei, Quecksilber, Cadmium, Arsen, Pestiziden und radioaktiven Substanzen ausgesetzt, die bei der Rohstoffförderung oder der Produktion von Gütern entstehen. | 11 Menschen, vor allem im nordamerikanischen Teil des Dorfes, besitzen Handfeuerwaffen.

Wenn alle Leute im Dorf so leben würden wie diejenigen in seinem nordamerikanischen Teil, dann könnten nur 22 Personen von den begrenzten Ressourcen des Dorfes leben. Nach europäischem Lebensstandard wären es 48, beim südasiatischen Lebensstandard 240.

Finden Sie das alles gerecht? Wenn ja, dann haben Sie das falsche Buch gekauft.

Kapitel 1 – Ernährungsbeschiss

In Industrieländern schauen wir gerne auf Landwirte und Bäuerinnen herab und bilden uns ein, dass die industrielle Wirtschaft viel wichtiger sei. Was für ein Irrtum: Ohne Lebensmittel und Trinkwasser kann kein Mensch auf diesem Planeten leben. Deshalb beginnt das Buch mit einem Kapitel über Essen und Trinken. Bei der Ernährung werden wir massiv beschissen, etwa durch Großkonzerne, die minderwertige oder falsch deklarierte Nahrungsmittel liefern. Oder durch Spekulanten in Banken, Renten- und Indexfonds, die Preise für Grundnahrungsmittel hochtreiben. Aber wir bescheißen auch andere, indem wir ihnen die Lebensgrundlagen quasi wegessen. Brasiliens und Paraguays Wälder werden abgeholzt, um genmanipuliertes Soja anzubauen, das hier an industriell gehaltene Kühe und arme Schweine verfüttert wird, die dann unsere Wohlstandsbäuche formen. In Lateinamerika vergiftet der damit verbundene Pestizideinsatz die Böden, verursacht Krebs und Missbildungen bei Neugeborenen.

Noch nie haben so viele Menschen weltweit gehungert wie heute. Alle 5 Sekunden stirbt irgendwo ein Kind an Hunger. Ein Skandal ohnegleichen und ein deutliches Indiz für die massive Fehlentwicklung des westlichen Agrarsystems. Fast die Hälfte der Weltbevölkerung ist inzwischen fehlernährt: Diese Menschen sind entweder unterernährt oder zu dick. Die agroindustrielle Landwirtschaft, die auf Dünger, Pestiziden und Gentechnik beruht, zerstört weltweit Lebensgrundlagen von Kleinbauern und ruiniert Böden und Weltklima.

Sie ist in keiner Weise zukunftsfähig, zumal das Öl, aus dem Kunstdünger hergestellt wird, irgendwann zu Ende geht. Auf dieser Basis kann man keine 9 Milliarden Menschen ernähren, die 2050 den Planeten bevölkern werden. Weltweit wächst deshalb die Überzeugung, dass Agroindustrie und Gentechnik Sackgassen sind. Wesentlichen Anteil daran hat der Weltagrarbericht von 2008. Es ist wohl das umfassendste und kenntnisreichste Werk über die heutige globale Landwirtschaft. Mehr als 500 Fachleute aus allen Kontinenten und Wissenschaftsdisziplinen haben 4 Jahre lang daran gearbeitet. Ihre Botschaft lässt sich in einem Satz zusammenfassen: »Weiter wie bisher ist keine Option.«

Man kann ihre Erkenntnisse aber auch positiv formulieren: Es gibt genug Nahrung für alle, die wachsende Weltbevölkerung kann ernährt werden. Aber nur, wenn überall umgesteuert wird auf eine ökologische Landwirtschaft. Vielfalt statt Einfalt. Das muss gefördert werden, und Kleinbauern müssen faire Preise erhalten. Bio, regional und fair – das ist die Zukunft.

25.07.2012, 18:11

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