Brisante Aussichten

Leseprobe "Man muss kein Prophet sein, um die Probleme vorherzusagen, die auf Nigeria zukommen können. Der Boko-Haram-Aufstand zeigt, dass die Uhr tickt und dass die Zeit knapp wird."
Brisante Aussichten

Foto: AFP/Getty Images

Vorbemerkung

Viele der Informationen in diesem Buch sind das Ergebnis meines mehr als dreijährigen Aufenthalts in der nigerianischen Stadt Lagos, wo ich zwischen 2010 und 2013 als Büroleiter der Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) für einen Teil Westafrikas tätig war. Wann immer ich mich auf Berichte von Kollegen oder die Arbeit von Wissenschaftlern stützen konnte, habe ich dies angegeben. Im Rahmen meines Berichts über den Aufstand bin ich viermal nach Maiduguri und mehrmals in verschiedene andere Gebiete Nordnigerias wie Kano, Sokoto, Kaduna und Zaria gereist.

Ich habe beschlossen, in diesem Buch den Begriff «Boko Haram» zu verwenden und nicht den vollständigen Namen der Gruppe (Jama’atu Ahlus-Sunnah Lidda’Awati Wal Jihad, «Vereinigung der Sunniten für den Ruf zum Islam und den Dschihad»), weil die Welt die Gruppe als Boko Haram kennt und die Nigerianer, einschließlich der Sicherheitskräfte, sie weiterhin so nennen. Außerdem ist es aufgrund der undurchsichtigen Natur der Rebellion möglich, dass neben Abubakar Shekaus Fraktion noch mehrere andere Gruppen oder Zellen operieren. Boko Haram dient als Sammelbegriff, der den gesamten Aufstand umfasst.

Die Beschreibung der Ereignisse am Tag des Anschlags auf das UN-Hauptquartier in Kapitel 1 basiert vor allem auf meinen Telefoninterviews mit den UN-Mitarbeitern Geoffrey Njoku und Soji Adeniyi sowie einem persönlichen Bericht von Vinod Alkari, der intern an seine Kollegen verteilt wurde. Er hat mir erlaubt, daraus zu zitieren, und ich habe in manchen Fällen kleine Schreibfehler korrigiert, die den Leser ablenken würden. Ich habe auch ausführlich mit Alkari am Telefon gesprochen. Ein anderer anonymer Gewährsmann, der die Bänder der Überwachungskameras gesehen hat, hat mir Details des Anschlags beschrieben. Außerdem habe ich den Schauplatz besucht, um mir ein Bild von den Örtlichkeiten zu machen.

Ich habe eine Auswahlbibliografie angefügt, möchte jedoch einige Bücher hervorheben, die besonders hilfreich waren. Für meine Forschungen zu Kapitel 1 waren die Bücher des verstorbenen Autors Mervyn Hiskett über den Islam in Westafrika und das Leben von Usman dan Fodio von unschätzbarem Wert. Einen hervorragenden Einblick in diese Zeit bot mir auch Murray Lasts Geschichte des Kalifats von Sokoto. A History of Nigeria von Toyin Falola, und Matthew Heaton diente ebenso wie Michael Crowders The Story of Nigeria als nützlicher Überblick. Bei meinen Ausführungen zur Eroberung Nordnigerias durch die Briten habe ich mich stark auf Frederick Lugards Aufsätze gestützt, die in der Bodleian Library of Commonwealth and African Studies in Oxford archiviert sind, wie auch auf seine Jahresberichte.

Zur Beschreibung des Aufstiegs von Mohammed Yusuf habe ich, wie aus den Anmerkungen ersichtlich, zahlreiche Quellen zurate gezogen, doch besonders dankbar bin ich einem Wissenschaftler, der Tonbandaufzeichnungen von Predigten und Reden der Boko-Haram-Führer ausführlich analysiert hat. Dieser Wissenschaftler, mit dem ich telefoniert habe, möchte aus Angst um seine eigene Sicherheit anonym bleiben, und ich habe diesen Wunsch akzeptiert.

Für Übersetzungen von Boko-Haram-Videos und -Aussagen aus dem Haussa ins Englische war ich oft auf Aminu Abubakar angewiesen, den AFP-Korrespondenten in Nordnigeria, der in den meisten Fällen der erste Journalist einer internationalen Nachrichtenagentur war, der Zugang zu diesem Material erhielt. Aminu übersetzte viele der Videos noch schnell vor Redaktionsschluss, während wir gemeinsam Berichte dazu für unsere Nachrichtenagentur vorbereiteten, und ich habe mich zum größten Teil an diese ursprünglichen Übersetzungen gehalten. Professor Abubakar Aliyu Liman von der Ahmadu Bello University in Nigeria hat auf meine Bitte hin für dieses Buch zwei Texte übersetzt: Yusufs Verhör vor seinem Tod und seine in Kapitel 2 zitierte tafsir (Koranauslegung).

Als wichtige Quellen zu den mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte dienten, wie die Anmerkungen zeigen, Dokumentationen von Human Rights Watch, Amnesty International sowie der von der Menschenrechtsaktivistin Chidi Odinkalu geleiteten nigerianischen National Human Rights Commission.

Wie im Prolog und Epilog berichtet, habe ich Wellington Asiayei persönlich interviewt, und zwar sowohl im Krankenhaus in Kano nach den Anschlägen von 2012 als auch in Warri 2013. Auch telefonisch habe ich mit Wellington gesprochen, ebenso mit seiner Frau, seinem Bruder, seinem Sohn und seinen Ärzten in Kano, Indien und Warri.

Wiederholt habe ich nigerianische Regierungsbeamte und Militärangehörige um Interviews gebeten, um ihnen die Möglichkeit zu geben, auf Anschuldigungen und Kritik zu antworten. Interviews für dieses Buch wurden mir leider nicht gewährt, doch ich habe Interviews mit Regierungsbeamten und Militärangehörigen als Teil meiner Arbeit für AFP in Nigeria geführt. Ich habe Einzelheiten aus diesen Gesprächen wie zum Beispiel die Dementis des Militärs zu Misshandlungen in dieses Buch aufgenommen und mich, wenn nötig, auf öffentliche Stellungnahmen von Regierungsbeamten gestützt.

Mike Smith, 2015

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Zweites Kapitel

«Er predigte über Dinge, mit denen sich die Leute identifizieren konnten» Nigeria und Mohammed Yusuf, bis 2009

«Westliche Bildung verboten»: Ein Gespräch mit Mohammed Yusuf, 2009

Im Juli 2009 hatte es seit fast einer Woche viel Gewalt gegeben. Mohammed Yusuf steht ohne Hemd da, mit einem Verband am linken Arm; zu seiner Rechten ein Soldat im Tarnanzug, der einen Armeehelm mit Kinnriemen trägt. Andere Anwesende halten ihre Mobiltelefone hoch, während jemand, der nicht im Bild zu sehen ist, ihm Fragen stellt und das unrühmliche Ende seines gewalttätigen und kurzlebigen Aufstands filmt. Der meistgesuchte Mann Nigerias ist gefangen genommen worden; man hat ihn in der Scheune seines Schwiegervaters gefunden. Seine Moschee wurde in Schutt und Asche gelegt.

Yusuf antwortet ruhig und sachlich. Er sieht allerdings wesentlich mitgenommener aus als noch vor ein paar Tagen, als er in seiner Moschee vor einer Gruppe Menschen saß und, angetan mit einer weißen Robe und einer Fes-artigen Kappe, genau die Sicherheitskräfte, die ihn jetzt umstehen, anprangerte. So stachelte er die Wut seiner Gefolgsleute an, die ihm mit «Allahu Akbar!»-Rufen antworteten. Vielleicht ahnte er, dass er diesen Tag nicht überleben würde, aber er lässt sich das nicht anmerken, während er die Fragen des Mannes beantwortet, der ihn verhört.

«Wir sind gestern in dein Haus gekommen. Wir haben viele Haustiere gesehen; wir haben medizinische Einrichtungen gesehen; wir haben Material gesehen, das du zusammenbaust [eine andere Stimme spricht von Material, aus dem man Sprengsätze bauen kann]. Was willst du mit diesen Sachen machen?», wird Yusuf in Haussa gefragt.

«Wie gesagt: Ich verwende diese Dinge, um mich zu schützen», antwortet Yusuf.

«Um dich zu schützen – gibt es etwa keine verfassungsmäßige Autorität, um dich zu schützen? Gibt es keine verfassungsmäßige Autorität, um dich zu schützen?»

«Es ist ja gerade die verfassungsmäßige Autorität, die gegen mich kämpft.»

«Was hast du getan, dass die Autoritäten hinter dir her sind?»

«Ich weiß nicht, was ich getan habe. Man verfolgt mich, weil ich den Islam verbreite.»

Als der Vernehmer Yusuf sagt, auch er selbst sei Muslim, antwortet Yusuf: «Dann weiß ich nicht, warum Sie meinen eigenen Islam ablehnen.»

«Du hast gesagt, dass westliche Bildung verboten ist?»

«Ja, westliche Bildung ist verboten.»

Zu diesem Zeitpunkt war Yusuf für seine Gefolgschaft schon zu einer Art Volksheld geworden – und für die Sicherheitskräfte zu einem Mann, den sie im Blick behalten mussten. Er war neununddreißig Jahre alt und bereits mehrfach festgenommen worden, war aber jedes Mal wieder freigelassen und in seiner Nachbarschaft in Maiduguri von begeisterten Menschenmengen in Empfang genommen worden. Manche Beobachter beschrieben ihn als widerwilligen Kämpfer, dem es genügte, seine Bewegung aufzubauen, indem er über die Übel westlicher Einflüsse predigte, die Evolutionstheorie verdammte und bestritt, dass die Erde eine Kugel sei. Ganz gleich, ob er wirklich schon früher, als es ihm lieb gewesen wäre, zur Gewalt gedrängt worden war – zum Zeitpunkt seiner Festnahme war er zweifellos gewaltbereit, nachdem Maiduguri in den vorangegangenen Tagen durch Schießereien in den Straßen und einen erbarmungslos brutalen Gegenschlag des Militärs erschüttert worden war. Die völlig verängstigten Anwohner hatten die Flucht ergriffen, wie Vertriebene. Dieses Mal kam eine Freilassung Yusufs nicht infrage.

Inmitten einer Gruppe von Soldaten, die in einem trostlosen Raum um Yusuf herumstehen, setzt der Vernehmer sein Verhör fort. Er versucht, Yusuf dazu zu bringen zu erklären, warum er westliche Bildung ablehnt, obwohl er sich doch zugleich andere Elemente westlicher Kultur zu eigen macht.

«Wieso ist sie verboten? Was ist mit dieser Hose [im westlichen Stil], die du trägst?»

«Es gibt mehrere Gründe, warum westliche Bildung verboten ist. Diese Hose ist aus Baumwolle, und Baumwolle ist das Eigentum Gottes», sagt Yusuf.

Es war die Art von Logik, die Yusuf seit Jahren predigte und die ihn immer stärker in Konflikt mit seinen frühen Mentoren gebracht hatte. Trotz ihrer offenkundigen Widersprüche sprachen seine Philosophie und seine manchmal seltsam anmutenden Auslegungen des Korans die jungen Männer in Maiduguri an, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno, die einst als Verkehrsknotenpunkt, wichtiger Handelsplatz und weithin bekannte Hochburg der islamischen Lehre bekannt war. Inzwischen galt Borno als eine Gegend, deren rastlose, unter hoher Arbeitslosigkeit, politischer Korruption und erbarmungsloser Armut leidende Jugend den Nährboden bildete für einen gewaltsamen Aufstand einer grotesk anmutenden, von Yusuf angeführten religiösen Sekte.

Sein Vernehmer setzt das Verhör mit Fragen fort, die in die gleiche Richtung zielen.

«Du weißt, dass Gott uns gebietet, Wissen zu erwerben. Es gibt sogar das Kapitel im Koran, in dem das klar gesagt wird», sagt er zu Yusuf.

«Aber nicht die Art von Wissen, die sich gegen den Islam richtet. Gott erlaubt nicht, dass du irgendeine Art von Wissen erwirbst, die dem Islam widerspricht. Nimm zum Beispiel Magie. Gott hat dieses Wissen erschaffen, aber er lässt es nicht zu, dass du es praktizierst. Der Pfad der Gottlosigkeit beruht auf Wissen, aber Gott missbilligt diese Art von Wissen. Astronomie2ist Wissen, aber auch dieses Wissen hat Gott verboten.»

«Als sie in dein Haus gingen, haben sie Computer gesehen sowie andere Geräte und Einrichtungen, wie man sie im Krankenhaus hat. Sind diese Dinge nicht die Produkte von Wissen?»

«Diese Dinge sind technologische Produkte. Westliche Bildung ist etwas anderes. Westliche Bildung ist Verwestlichung.»

«Wie kommt es, dass du gutes Essen isst – man sieht ja, dass du sehr gesund aussiehst. Du fährst schöne Autos, du isst gutes Essen, du trägst feine Kleidung, aber deinen Anhängern sagst du, sie sollen so etwas tragen [er zeigt auf ein abgerissenes Kleidungsstück], und dann gibst du ihnen nur Wasser und Datteln, dann sagst du ihnen, sie sollen ihren Besitz verkaufen?»

«Nein, nein, so ist es nicht. Jeder Mensch lebt nach seinen Mitteln; jeder hat seine Mittel in der Hand. Sogar ihr seid alle unterschiedlich bemittelt. Jeder lebt nach seinen Mitteln. Jeder, der im Wohlstand lebt, der ein schönes Auto fährt, muss die Mittel dafür haben. Ein anderer hat diese Dinge nicht, er hat einfach nicht die Mittel dafür.»

Yusuf hätte sich einfach weigern können zu antworten; er hätte es ablehnen können, mit einem Mann von den Sicherheitskräften Nigerias zu diskutieren, die gerade erst seine Anhänger zusammengeschossen und seine Moschee zerstört hatten. Stattdessen antwortet er ausführlich und versucht, Zweifler zu überzeugen. Womöglich rechnet er damit, dass die Videoaufzeichnung von seinem Verhör eines Tages an die Öffentlichkeit gelangt.

«Warum hast du das Gelände deiner Moschee verlassen?»

«Weil ihr gekommen seid und die Leute vertrieben habt, die sich dort aufgehalten haben.»

«Du hast Menschen in den Kampf geschickt. Als ihr Befehlshaber hättest du bei ihnen bleiben sollen.»

«Meine Anhänger sind gegangen.»

«Wohin sind sie gegangen?»

«Sie sind gegangen.»

Nach einigem weiteren Hin und Her darüber, wohin seine Gefolgsleute geflohen sind, und Fragen zur Lage seines Hauptquartiers wird Yusuf gefragt, wer ihm «assistiert»:

«Man sagt, dass du Soldaten hast und auch Polizisten, du hast alles und du bist organisiert?»

«Nein, das stimmt nicht.»

Auf die Frage, wer sein Assistent sei, nennt er Abubakar Shekau und ergänzt, er wisse nicht, wo der sich aufhalte.

«Ihr seid alle zusammen mit deinen Anhängern davongelaufen. Wo sind die anderen Leute? Wie viele Menschen sind davongelaufen?»

«Es laufen nicht alle davon.»

«Wer sind die Leute, die dir helfen, intern und extern, in dem Dschihad, den du erklärt hast?»

«Es gibt niemanden von außen.»

«Das kann nicht sein.»

«Bei Gott, ich werde euch nicht anlügen. Bei Gott, ich werde euch nicht anlügen.»

Er wird gefragt, ob er eine Farm habe, was er einräumt, und dann befragen ihn die Vernehmer zur Gewalt: «Also, du hast den Tod von unschuldigen Menschen verursacht, mit deinen Ansichten, die du in der Gemeinschaft geäußert hast.»

«Die Menschen, die gestorben sind, die habt ihr selbst getötet.»

«Was ist mit denen, die deine Gefolgsleute getötet haben?»

«Meine Anhänger haben keine Menschen getötet.»

«Was ist mit all denen, die getötet wurden?»

«Es sind meine Anhänger, die getötet wurden.»

«Tatsächlich?»

«Alle, die sie getötet haben, sind die wirklichen Täter.»

Eine Zeitbombe: Armut und Unbildung im Norden

Der Aufstieg eines Mannes wie Mohammed Yusuf im Nordosten Nigerias mag als vorhersehbar erscheinen. Die einst so stolze Region, eine Hochburg der islamischen Lehre, Heimstatt des alten Kanem-Bornu-Reichs im Osten des Kalifats von Sokoto, hat vor langer Zeit Westafrika dominiert. Ihr Herrschaftsbereich hat sich bis in die arabische Welt erstreckt, bis sie in jüngerer Vergangenheit durch äußere Einflüsse ihre Macht verlor. Die zunehmende Ausrichtung der nigerianischen Wirtschaft auf das Öl hat dazu geführt, dass andere Sektoren vernachlässigt wurden. Zugleich grassierte die Korruption. Der Nordosten sah sich dadurch immer größeren Schwierigkeiten ausgesetzt. Als Yusuf begann, seine Bewegung aufzubauen, waren Bildung und Wohlstand in dieser Region, die so lange ein blühender Knotenpunkt für Ideen und Handel in der Savanne unweit des Tschadsees und der südlichen Sahara gewesen war, gegenüber weiten Teilen des Landes ins Hintertreffen geraten. Im Studienjahr 2000/01 stellte der Nordosten den geringsten Anteil der Studienanfänger an nigerianischen Universitäten – es waren nur 4 Prozent aller Erstsemester des Landes.

Der beklagenswerte Zustand des Bildungswesens im Norden ist das Ergebnis einer Reihe von Ursachen. Er wurzelt in der Geschichte des Landes, etwa im weitverbreiteten Misstrauen gegenüber westlicher Bildung und deren Zielen, aber auch im fehlenden Zugang zu ordentlichen Schulen; viele Familien konnten sich das Schulgeld für ihre Kinder nicht leisten. Zwar gelang es der britischen Kolonialregierung, einige gute Schulen aufzubauen, aber den christlichen Missionaren, die während der Kolonialzeit im gesamten Süden des Landes ein westliches Bildungswesen förderten, wurde der Zugang zum Norden weitgehend verwehrt. Die Gründe dafür waren unter anderem Widerstände von nordnigerianischen Herrschern selbst, aber auch von Lugard, der die Auffassung vertrat, dass die kulturellen und religiösen Gebräuche der Region möglichst intakt bleiben sollten. Koran- und Islambildung bleiben so bis heute ein wichtiger Bestandteil der Kultur. Oft sind sie von hoher Qualität, aber es hat auch Klagen über zweifelhafte Schulen gegeben, die Anlass zu der Sorge geben, dass sie lediglich Straßenbettler und potenzielle Extremisten heranbilden. Das gefährliche Dilemma Nordnigerias ist, dass die Zeiten, als der Handel und die Interessen der Region auf die arabische Welt ausgerichtet waren, längst passé sind, es aber bisher nicht gelingt, sich an die Realitäten des heutigen Nigeria anzupassen. Bis heute sind dort die Strukturen einer feudal geprägten Kultur intakt, mit Emiren, die hinter den Mauern von Palästen leben, während ihr Gefolge draußen bleibt. Die Macht der Emire ist weitgehend zeremoniell, aber in einem Land, in dem Klientelismus und traditionelle Beziehungen eine integrale Rolle spielen, üben sie nach wie vor großen Einfluss aus. Solcher Einfluss kann positiv wirken, wenn traditionelle Herrscher bei Konflikten vermitteln und mit der Stimme der Vernunft sprechen, etwa bei den Bemühungen des Sultans von Sokoto, einen Dialog zwischen Muslimen und Christen in Gang zu setzen. Aber jeder Emir verfolgt einen anderen Ansatz, und das Potenzial für Machtmissbrauch ist groß. Auch die Emire könnten für Boko Haram zu Anschlagszielen werden, wenn sie als Mitglieder derselben Elite wahrgenommen werden, der es an wahren islamischen Werten fehlt und die schon so lange das Land seiner Reichtümer beraubt.

Neben kulturellen und historischen Faktoren sind jedoch vor allem die legendäre Korruption und Misswirtschaft in Nigeria verantwortlich für den desolaten Zustand des Nordostens und des Landes insgesamt. Nigerianer aus allen Ethnien und Regionen haben jegliches Vertrauen in die Regierung, das Rechtssystem und die Sicherheitskräfte des Landes verloren, das sie vielleicht einmal hatten. Die fantastischen Möglichkeiten des Landes sind von Dieben zunichtegemacht worden, die als Geschäftsleute, Militärs und Politiker auftreten. Allerdings fragt sich auch, ob selbst die wohlmeinendste Regierung die entmutigend großen Herausforderungen hätte bewältigen können, vor die der Kolonialismus das Land gestellt hat. Das heutige Nigeria ist nur dem Namen nach ein Nationalstaat; tatsächlich wurde es jedoch aus diversen traditionellen Gesellschaften und Hunderten von ethnischen Gruppen zusammengewürfelt. Die Folgen dieser Erbsünde sind von einer schier unvorstellbaren Korruption nur noch verschlimmert worden. Dafür nur einige wenige Beispiele: Der aus dem Norden stammende, in den 1990er Jahren herrschende Militärdiktator Sani Abacha hat zusammen mit seiner Familie die Zentralbank des Landes um mehrere hundert Millionen Dollar geplündert, einer gut informierten Quelle zufolge sogar lastwagenweise. James Ibori, der vormals einflussreiche Gouverneur des ölreichen Delta-Bundesstaates im Süden Nigerias, wurde überführt, womöglich über 250 Millionen Dollar unterschlagen zu haben, woraufhin er versuchte, sich aus den gegen ihn laufenden Ermittlungen herauszukaufen, mit einem Beutel voller Schmiergeld, in den er 15 Millionen Dollar gestopft hatte. Der Diebstahl an nigerianischem Öl, an dem vermutlich hochrangige Militärs und prominente Politiker beteiligt sind, ist auf 6 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt worden.

Die Liste ist damit keineswegs zu Ende. Zugleich leben viele Millionen Nigerianer in bitterer Armut, oftmals ohne Zugang zu Elektrizität oder halbwegs brauchbaren Straßen. Die Armutsquote lag 1980 bei 28 Prozent und schnellte bis 1996 – also während der Herrschaft Abachas – auf 66 Prozent hoch. Der Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt, ist seit den finsteren Tagen des Abacha-Regimes zurückgegangen, aber eine Berechnung der Weltbank auf der Basis von Daten aus den Jahren 2009 und 2010 besagt, dass nach wie vor 63 Prozent der Nigerianer von weniger als einem Dollar pro Tag leben. Unterdessen hat die Bevölkerung Nigerias mit atemberaubender Geschwindigkeit zugenommen; es wird erwartet, dass sie von heute 170 Millionen Menschen – der höchsten Bevölkerungszahl aller afrikanischen Länder – auf 400 Millionen im Jahr 2050 anwachsen wird. Man muss kein Prophet sein, um die Probleme vorherzusagen, die auf das Land zukommen können. Einer Studie der Weltbank zufolge sind bis zu 50 Millionen junge Menschen in Nigeria arbeitslos oder unterbeschäftigt – ein Zustand, den der Chefökonom der Weltbank für Nigeria mir gegenüber als «Zeitbombe» bezeichnet hat, falls nichts dagegen getan wird. Der Boko-Haram-Aufstand zeigt, dass die Uhr tickt und dass die Zeit knapp wird.

23.07.2015, 07:16

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