Ein Bollwerk der Ruhe
Die Yale Universität ist nicht nur ein Zentrum des Geistes, sondern auch ein Bollwerk der Ruhe im Zentrum eines Orkans, und der ruhigste Punkt inmitten dieses Zentrums, der absolute Ruhepunkt, ist der Innenhof der Bibliothek, umgeben von meterdicken, efeubewachsenen Mauern. An diesem Ort saß ich auf einer Bank und las. In einem entlegenen Winkel des Hofes: der Umriss eines Menschen, einer jungen Frau, die unter einem Torbogen stand und aus einem Buch las. Sie las laut. Vielleicht ein Gedicht, ein langes Gedicht, ein sehr langes Gedicht, denn nach einer halben Stunde hörte ich ihre Stimme immer noch. Eine merkwürdige Stimme, zweifellos schön, auch wenn die Stimme nicht unbedingt schön sein wollte, so wie alles an ihr auf eine beiläufige Art und Weise schön war, ihr Gesicht, ihr Rock, ihr schwarzes Haar, ihre weißen Arme – ohne im Geringsten schön sein zu wollen. Ohne es zu wollen, war sie die schönste Frau, die ich in der Neuen Welt gesehen hatte.
Nichts von dem, was sie las, konnte ich zunächst verstehen. Nur ihre Stimme. Ich hörte ihre Stimme.
Sie sprach ruhig, bestimmt, nicht besonders laut, aber auch nicht verschüchtert leise. Jedes Wort, das sie sprach, war mit Bedacht gesprochen, als ob sich damit eine eigene Welt verbinde, mit Bedacht, ohne dabei zu sehr zu betonen. So stand sie da und las.
Ich bewahrte mir dieses Bild, ging in die Bibliothek oder einkaufen, und als ich wieder zurückkam, stand sie immer noch da und las aus demselben Buch. Die Seiten offenbar eng bedruckt – man konnte das, wenn schon nicht sehen, so doch zumindest erahnen. Vielleicht Shakespeare, die gesammelten Werke, oder ein anderes Buch. Was immer sie auch las, sie las es akribisch, ohne aufzuschauen oder abzuweichen oder zurückzuweichen.
Ich hielt Abstand, wollte sie nicht stören oder ihr zu nahe kommen, und ich wollte ihr deshalb nicht zu nahe kommen, weil ich mir nichts mehr als ihre Nähe wünschte. Deshalb saß ich stundenlang auf einer Bank. Oder kehrte immer wieder zu dieser Bank zurück. Wer immer sie auch war: Schauspielschülerin, Buchliebhaberin, Vorleserin ...
Irgendwann konnte ich sogar einzelne Wörter verstehen. Es waren keine Wörter, sondern Namen. Sie las Namen, einfach nur Namen, und dies in alphabetischer Reihenfolge: Nachname, Vorname; Nachname, Vorname ... Sie las aus einem Telefonbuch. Ich sah deutlich die gelbe Farbe. Und das stellte alles Bisherige infrage.
Keine Dramen, keine Gedichte; nicht einmal Dichternamen. Nur die Allerweltsnamen eines Telefonbuchs. Name auf Name.
Ich hörte sogar die alphabetische Reihenfolge. Oder zumindest Ansätze einer solchen Reihenfolge, während sie ruhig weiterlas, als wäre nichts geschehen: Nachname, Vorname; Nachname, Vorname ...
Die ganze Nacht dachte ich an sie. Das Telefonbuch war in der Tat eine Enttäuschung. Eine Verschwendung von Talent, Zeit und Kraft. Eine Verschwendung ihrer selbst. Was will sie damit zeigen? Dass sie nicht nur Gedichte oder Romane, sondern auch Telefonbücher vorlesen kann. Ohne zu ermüden. Oder will sie damit sagen, dass die Welt nur aus Namen besteht? Nichts als Namen. Names are just names are just names ... Oder dass es eine Kunst ist, all diese Namen mit Bedacht auszusprechen. Nicht zu schnell, nicht zu langsam; weder zu laut, noch zu leise.
Am nächsten Tag stand sie immer noch dort. Oder wieder dort. Ob das eine oder das andere. Sie stand nicht anders als davor, und las Namen. Namen über Namen. Nach jedem Namen machte sie eine kleine Pause. Und das schien bedeutsam, diese kleine Pause. Als sollte oder könnte man jetzt die Gelegenheit ergreifen ..., ihr etwas zu sagen: Hier bin ich. Hier stehe ich.
Ich hätte sie vieles gerne gefragt. An erster Stelle:
Was sie damit zeigen will? Oder bedeuten will? Dass es unzählige Menschen gibt, die ein Telefon haben? Dass all diese Menschen auf einen Anruf warten? Natürlich warten sie auf einen Anruf, und sie warten auf einen Anruf von einem Menschen wie ihr. Warum ich überhaupt noch das Telefon abnehme? Weil ich auf eine Stimme hoffe, auf eine plötzliche, unerwartete Stimme – auf eine Stimme wie ihre ...
All das (und vieles mehr) hätte ich ihr sagen können, während sie ruhig weiterlas. Als wäre nichts geschehen. Als wäre das eine endlose Sprechübung, deren Sinn ich irgendwann noch verstehen würde. Für Momente schien sie mich anzuschauen – mich zumindest zur Kenntnis zu nehmen: mich als ihrem einzigen Zuhörer weit und breit. Ich saß noch immer auf meiner Bank und las ein Buch, irgendein Buch, während sie aus ihrem Buch vorlas. Ich las Erzählungen. Sie las Namen. Name auf Name auf Name ...
Ich hätte in die Bibliothek gehen und ihr Bücher bringen können. Oder ihr meinerseits etwas vorlesen können, zum Beispiel Romeo and Juliet. »What is in a name?«, fragt Juliet, und sie gibt die Antwort gleich selber: »That which we call a rose by any other word would smell as sweet; so Romeo would, were he not Romeo call’d.«
Warum also Namen? Warum ein Telefonbuch?
Keine zwei Meilen von ihr liegen die ersten Leichen New Havens, und sie liest aus einem Telefonbuch. Ich weiß, dass dieser Einwand nicht gerecht ist, dass auch keine zwei Meilen von mir die ersten Leichen liegen, während ich im Bett liege und nur an sie denke, wie sie dasteht und Namen liest. Vielleicht irgendwann auch meinen Namen, auf den letzten Seiten dieses Buches: für sie nur ein Name, für mich ein großer Augenblick.
Sie stand immer noch im Innenhof, an derselben Stelle, mit demselben Buch, und las mit derselben Stimme, im selben Rhythmus, unermüdlich. Ich war mir nun sicher, dass sie die ganze Nach dort gestanden und gelesen hatte, und ich fragte mich, wie lange das noch gehen könnte? Oder gehen sollte? Wie viele Tage es tatsächlich dauern würde, ein ganzes Telefonbuch zu lesen? Drei oder vier Tage? Oder noch länger?
Es regnete. Sie stand durchnässt, las nicht anders als die Tage davor, nur dass sie nun immer öfter hustete. Und hustete. Sie war unterkühlt. Ihr Husten wurde stärker. Ich hätte sie zum Aufhören bewegen sollen, spätestens jetzt, doch war das völlig undenkbar. Ich legte meinen Anorak über ihre Schultern. Ich legte ihn nicht direkt über ihre Schultern, aber ich zog ihn wenigstens aus – und hätte ihn jederzeit über sie legen können. Jederzeit. Wenn sie das gewollt hätte. Für einen Augenblick deutete sich bei ihr ein Lächeln an.
Ein Name, den sie sprach, und sie hustete – und dann lächelte sie.
Ich ging ins Innere der Bibliothek und sprach mit einem Mitarbeiter, später dann mit einem Sicherheitsbeamten.
Dass da draußen eine Frau stehe. Er zuckte mit den Schultern. Sie stehe dort schon seit Tagen und lese Namen ... »Yes?« Bei jedem Wetter, Tag und Nacht. Aus einem Telefonbuch lese sie. »Really?«
Wer immer sie dazu beauftragt habe. Oder was immer sie auch damit bezwecke. Die Menschen einer einzigen Stadt beim Namen zu nennen. Von A bis Z.
Achselzucken, Ratlosigkeit und immer weitere Büros, in die ich verwiesen wurde. Für den Innenhof der Bibliothek schien niemand zuständig. Und auch nicht für Telefonbücher. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich wieder zurückkam. Ich sah noch, wie sie aus der Bibliothek geführt wurde. Zwei Sanitäter waren an ihrer Seite. Wer immer die beiden gerufen hatte. Man brachte sie zu einem Krankenwagen, und sie schaute mich an, als wäre ich derjenige gewesen, der die Sanitäter gerufen hatte. Warum ich das gemacht habe? Warum? So schaute sie mich an.
Und dann hörte ich ihre Stimme: »My book. I want my book!« Zum ersten Mal hörte ich keine Namen, sondern Worte. »Would you please bring me my book.« Mehr sagte sie nicht. Und schaute mich dabei an. Als wäre ich dafür nun zuständig.
Im Innenhof fand ich es. Aufgeweicht. Es lag neben einem Busch im Regen. Ich hob es auf und wollte es ihr nachbringen. Doch sie war bereits im Krankenwagen, der sie fortfuhr.
Es war kein Telefonbuch. Die Größe und Farbe eines Telefonbuchs, das war es, doch kein Telefonbuch. Es war ein Buch mit endlosen Kolonnen: von Namen. Namen, Namen und nichts als Namen. Nachname, Vorname; Nachname, Vorname; Nachname, Vorname ... Eng gedruckt. In alphabetischer Reihenfolge. Auf Tausenden von Seiten. Ohne irgendeine Telefonnummer. Kein Telefonbuch. Es war die Liste der Menschen, die in einem einzigen Monat in Auschwitz ermordet wurden.
Deutsch in hundert Tagen
Als wir Deutsche (oder die, die noch übrig waren) uns aufmachten, Deutsch in hundert Tagen zu unterrichten, gab man uns folgenden Rat auf den Weg: Nach jeder Unterrichtsstunde sollten wir unbedingt unsere Tafelanschriebe wegwischen. Warum? Um alle Spuren zu beseitigen, sollte uns je ein Fehler unterlaufen. Wir sollten bedenken, dass andere Lehrer, die nach uns im selben Klassenzimmer unterrichten, unsere Tafelanschriebe studieren und dabei Fehler entdecken könnten. Es sei ein Leichtes, einen Tafelanschrieb, selbst wenn alles richtig ist, gegen einen Lehrer auszulegen, Dinge aus dem Zusammenhang zu reißen, einzelne Wörter aufzuschreiben ... In unserem eigenen Interesse sollten wir deshalb nach jedem Unterricht alles Beweismaterial sorgsam beseitigen, wie nach einem Verbrechen, und die erste Regel hierbei sei eine gut gewischte Tafel – zur Sicherheit besser mit einem nassen als mit einem trockenen Lappen gewischt, zu unserer eigenen Sicherheit besser selbst abgewischt, als diese Aufgabe einem Studenten anzuvertrauen. Dies sei nicht nur ein gut gemeinter Rat, sondern auch ein juristischer Rat:
»Wir wollen nicht, dass irgendjemand Sie rechtlich belangen kann, wegen eines belanglosen Tafelanschriebs.« Es sei deshalb den Studenten zu verbieten, Tafelanschriebe zu fotografieren. Wir sollten die Studenten auch davon abbringen, Tafelanschriebe abzuschreiben. Am besten man verzichte von vornherein auf jede Tafelarbeit. »Schreiben Sie in der ersten Stunde Ihren Namen an die Tafel, und damit genug.« Eine Fremdsprache sei ohnehin nicht für das Auge oder die Hand, sondern für das Ohr und den Mund. Keinesfalls sollten wir, statt der Tafelarbeit, fotokopiertes Unterrichtsmaterial unter den Studierenden verteilen. »Sprechen Sie deutsch, und damit genug. Gehen Sie jetzt.«
Mit diesen Worten im Rücken ging jeder von uns in seine Klasse. Ich machte keine Tafelanschriebe. Ich teilte meine mühsam vorbereiteten Unterrichtsmaterialien nicht aus. Ich sprach deutsch, und ich versuchte es so zu sprechen, schnell, präzise, bestimmt, gewitzt, dass es meine Studenten nach hundert Tagen ebenfalls sprechen konnten. Meine Studenten waren nicht dumm. Sie waren sogar sehr intelligent. Schon nach wenigen Minuten erinnerte ich mich an den Satz einer Mitarbeiterin, die mir nach meiner Ankunft in Yale sagte: »Wir haben die intelligentesten Studenten der Welt.« Ich hielt dies für Prahlerei, aber meine Studenten belehrten mich eines Besseren. In den ersten Stunden stellte ich meinen Studenten noch Fragen, dann fragten sie mich. Ich stellte menschliche Fragen, zum Beispiel: »Wie heißen Sie?« Meine Studenten stellten mir schwierige Fragen: Wie man heißen überhaupt schreibt? Ich buchstabierte es. Was ein sogenanntes scharfes S ist? Wie es aussieht? Wie man es schreibt? Mit einem Messer? Ich solle es an die Tafel schreiben, was ich verweigerte. Später dann: Warum man heißen nicht mit zwei s schreibt, so wie müssen? Ich wusste es nicht. Warum man wissen mit zwei s schreibt, aber heißen mit einem scharfen s? Ich wusste es nicht. Immer wenn ich etwas nicht wusste, sagte ich lapidar: »Es ist idiomatisch.« Auf gut Deutsch: Es ist so, wie es ist. Man muss es eben auswendig lernen. Ich versuchte, die Kontrolle wiederzugewinnen, indem ich anfing, die Studenten zu korrigieren. Einer sagte beispielsweise: »Der Mann fährt nach der Grenze.«
»Ha!«, rief ich, »das ist falsch. Warum ist das falsch?«
Ein anderer Student: »Es heißt: Der Mann fährt zu der Grenze.«
»Richtig!«, antwortete ich.
Warum das so sei, fragten mich die Studenten. Ich solle eine Regel aufstellen, wann man nach und wann zu sagt, und ich möge diese Regel an die Tafel schreiben.
Ich überlegte fieberhaft. Plötzlich kam mir eine Idee in den Sinn, und ich verkündigte folgende Regel:
»Nach ist eine Präposition, die man vor Eigennamen gebraucht. Ich fahre nach Österreich. Ich fliege nach Mexiko.« Ich forderte die Studenten auf, Beispielsätze zu bilden, und sie bildeten Beispielsätze: »Ich fahre nach Zugspitze.«
Ich sagte nichts. Der Student fragte mich: »Ist das richtig?« Es war nicht richtig, leider, warum nur, warum, warum war das nicht richtig? Zum Glück hatte ich die Regel nicht an die Tafel geschrieben.
Die Studenten: ob Zugspitze kein Eigenname sei? »Ja«, antwortete ich, »es ist ein Eigenname.« Warum nach dann falsch sei? Ich wusste es nicht und erklärte, Zugspitze sei eine Ausnahme, eine dumme Ausnahme, die man auswendig lernen müsse, und ich bat um weitere Beispielsätze, und die Studenten schleuderten mir ihre Beispiele um die Ohren: »Ich fahre nach Matterhorn.« Falsch! Warum? Ausnahme. »Ich fahre nach Eiger Nordwand.« Falsch! Warum? Ausnahme. Verflixte deutsche Sprache. Vielleicht hatte Mark Twain Recht. »Ich fahre nach Alpen.« Natürlich falsch! Es war ein Alptraum. Die Studenten kamen mit sämtlichen Gebirgen der Welt. »Ich fahre nach Rocky Mountains.« Falsch! Warum? Ausnahme, alles Ausnahmen, und ich bog diese Ausnahmen schnell zu einer neuen Regel um: »Nach ist eine Präposition, die man vor Eigennamen gebraucht, außer vor Bergen.« Ich bat um neue Beispiele. Nur weg von den Bergen. Warum immer Berge? Warum nicht Flüsse? Also bildeten die Studenten Beispiele mit Flussnamen: »Ich fahre nach Donau.« Falsch! Warum? Ausnahme. Und so ging es weiter: »Ich fahre nach Neckar. Ich fahre nach Elbe.« Dann folgten die Seen (Ich fahre nach Bodensee), dann die Meere (Ich segle nach Atlantik), dann Länder: »Ich fahre nach Schweiz.« Falsch! Warum? Ausnahme. »Ich fahre nach Amerika.« Falsch ..., nein richtig, ja, richtig. Warum? Ausnahme. Die Ausnahme der Ausnahme einer Regel, die ich aufgestellt hatte und die nur noch aus Ausnahmen bestand. Deutsch in hundert Tagen. Es waren erst drei Tage vorbei, und die Studenten lernten schnell, viel zu schnell, und sie lernten vor allem eines: dass ich keine Ahnung von der deutschen Sprache habe.
Am vierten Tag fehlten zwei Studenten. Ich berichtete dies dem Sekretariat der Deutschabteilung, und man beruhigte mich: Aber nein, die beiden Studenten schwänzten nicht. Sie seien vielmehr bei einem anderen Lehrer. »Wir sind ein freies Land. Bei uns dürfen die Studenten ihre Lehrer frei wählen. Ihre Studenten sind nun bei Dr. Schwartz.« Dann bekam ich es zu hören: Was Schwartz in seiner Klasse alles leiste; wie sehr die Studenten Schwartz liebten; was für eine phantastische Persönlichkeit Schwartz sei; ein pädagogisches Naturtalent; welche Begabung und Hingabe; was für eine Leichtigkeit des Denkens und Erklärens schwerster Fragen; der Erfinder einer neuen Lehre der Grammatik, der Grammatologie; der Liebling aller Studenten, besonders der Studentinnen; der erste Deutsche mit Humor. Aus allen Deutsch-Klassen würden die Studenten zu Schwartz überlaufen. Man zeigte auf eine Statistik an der Wand, mit den Teilnehmerzahlen der einzelnen Kurse. Eine steile Kurve trieb den Namen Schwartz täglich zu neuen Gipfeln des Erfolges, in dessen Schatten, tief unten, wie Hügel vor einem Gebirgsmassiv, die Namen und Teilnehmerzahlen der anderen Kurse vermerkt waren, darunter auch mein Name – daneben ein Name, der bereits durchgestrichen war. Ich solle es nicht persönlich nehmen. Es sei nichts gegen mich, sondern Schwartz und dessen Grammatologie, der Beginn einer neuen Betrachtung der Welt, das Schwartze-Weltbild ...; Schwartz, Schwartz, die Stimme einer anderen Pädagogik, das schönste Gesicht Deutschlands, das europamüde Superlativ amerikanischer Träume ... Daraufhin wieder der Fingerzeig auf die Statistik. Ich würde nicht so schlecht dastehen. Ich solle versuchen, Studenten aus anderen Kursen zu erobern. Kopf hoch, Beine hoch ...
Kopf hoch, Beine hoch. Wie absurd. Hätte ich vor meinen Studenten tanzen sollen, wie ein Cheerleader, um sie in meinem Kurs zu halten. Vielleicht hätte ich es machen sollen. Studenten aus anderen Kursen erobern!? Nicht ein neues Gesicht zeigte sich bei mir. Im Gegenteil. Es wurden täglich immer weniger. Ich arrangierte die Tische so, dass dies nicht auffallen sollte. Natürlich fiel es auf. Ich stellte den Studenten witzige Fragen. Die Studenten stellten mir grammatische Fragen: Warum sich kausale und konsekutive Konjunktionen von der Position Null in die Positionen III oder IV des Hauptsatzes verschieben, wenn ein Pronomen im Satz nötig ist? Ich wusste es nicht. Als ich den Konjunktiv behandelte, sprach ich vom Konjunktiv I, die Studenten aber sprachen lieber im Konjunktiv II: »Ich flöge. Er schlüge und du stürbest. Du erführest, dass er stürbe und frörest und äßest und verdürbest dir den Magen.« Grauenhafte deutsche Sprache: »Wenn er das Geld nähme, es in eine Truhe schlösse, sie in den Fluss würfe und ein Freund ihm dabei hülfe, dann ..., dann ...«, dann wäre es weniger um das Geld als um die deutsche Sprache schade, sagte ich meinen Studenten, die von dem Konjunktiv II völlig besessen waren. Sie erklärten mir: Bei einigen starken und gemischten Verben entspricht der Vokal im Konjunktiv II nicht dem Vokal des Imperfekt Indikativs. Wie interessant. Ich versuchte den Studenten entgegenzukommen, indem ich ihnen keine Hausaufgaben aufgab. Dafür stellten sie mir Hausaufgaben: Modalverben mit zwei Infinitiven; Satzstellung mit Pronomen im Akkusativ und Dativ; Satzstellungen mit Objekten und adverbialen Angaben. Wie grammatische Kampfmaschinen bedrängten mich die Studenten mit den entlegensten Rechthabereien der deutschen Sprache: Warum man nach den neuen Rechtschreibregeln Eltern nicht mit Ä schreibe, Ältern, trotz der Stammform alt, wenn die Deutschen mit dieser Rechtschreibreform schon so viele Wörter verumlautet bzw. beäht haben: Gämse, Schänke, Bändel, Stängel, behände, belämmert ... Ich wusste es nicht. Warum man bei dieser Gelegenheit nicht gleich noch das Genus abschaffe? Es waren nur noch wenige Studenten, doch immer noch genug, um mir sehr unangenehme Fragen zu stellen, meist grammatische Fragen, aber auch persönliche Fragen: Ob ich wirklich Deutscher sei? Natürlich. Ich zeigte ihnen meinen Pass. Sie musterten den Pass wie Zöllner, DDR-Zöllner an der deutsch-deutschen Grenze. Sie fragten, ob man Pass mit ss oder mit scharfem s schreibt? Mit einem scharfen s. Warum es dann im Pass mit zwei s geschrieben sei? Ich wusste es nicht.
Wenige Tage später kam ich in den Unterricht und das Klassenzimmer war leer. Ich wartete. Ich wartete weiter. Ich ging zur Tafel, zum ersten Mal, und schrieb: Unterricht muss wegen Krankheit leider ausfallen. Ich ging in mein Loch und legte mich ins Bett. Am nächsten Tag war ich immer noch krank. Ich war lange krank, doch schließlich machte ich mich auf den Weg ins Sekretariat und meldete dort das leere Klassenzimmer. Kopf hoch, sagte man mir. Mit einem Filzstift wurde mein Name an der Wand ausgestrichen. Was nun? Man sagte mir, ich solle mich beim Rektor der Universität melden.