Gegen das Vergessen

Leseprobe "Die löchrige Quellenüberlieferung darf den Versuch nicht scheitern lassen, an Bruno Blau zu erinnern, wie auch ähnliche Quellenlagen kein Hindernis sein sollten, dies für andere deutsch-jüdische Intellektuelle 'der zweiten Reihe' zu unternehmen."
Gegen das Vergessen

Foto: Fred Ramage/Keystone Features/Getty Images

Vorwort

Diese Studie ist das Ergebnis eines 2011/12 von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten kleinen Forschungsprojekts über „Bruno Blau und die Statistik des Judentums“. Der akademische Alltag und andere Verpflichtungen haben ihren Abschluß verzögert; in dieser Zeit verschob sich auch der Fokus von der Sache (Statistik) auf die Person (Blau). Wenngleich reiches, aber oftmals fragmentiertes Quellenmaterial vorliegt, zunehmend auch dessen Digitalisierung viele Archivgänge erspart, droht eine ganze Generation deutsch-jüdischer Intellektueller der zweiten Reihe im Dunkel des Vergessens zu verschwinden. Hin und wieder tauchen Namen dieser Generation auf im Zusammenhang mit einzelnen ihrer Leistungen, die noch gültig sind (bei Blau: die Sammlung und Dokumentation statistischer Daten und Rechtsquellen zur Geschichte der Juden und zur Geschichte der NS-Verbrechen an den Juden). Ihren Lebensgeschichten insgesamt aber, und damit ihren Persönlichkeiten nachzuspüren, fällt nicht immer leicht, mag vielleicht auch nicht der Mühe wert erscheinen, zählten sie doch eben nicht zu den herausragenden Gestalten der Baeck- oder Buber- oder Scholem-Kategorie. Dieser Eindruck täuscht jedoch, denn viele dieser Akteure prägten den vielstimmigen deutsch-jüdischen Diskurs nach der Jahrhundertwende, während und nach dem Ersten Weltkrieg, bis sie vom Unglück des Nationalsozialismus getroffen, vertrieben oder gar umgebracht wurden. Einige von ihnen, die überlebten, kehrten – aus unterschiedlichsten Motiven – nach 1945 aus dem Exil nach Deutschland zurück, so auch Blau. Wie war die Rückkehr motiviert und wie haben die Rückkehrer sie verkraftet, mit ihrem Anspruch und auf der Suche nach einer, wie auch immer gearteten „Wiedergutmachtung“?

Geboren in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, wuchsen diese deutschen Juden, die nicht mehr um die rechtliche, sehr wohl aber um die soziale Gleichstellung kämpfen mußten, in die innerjüdischen, aber auch die übergreifenden Debatten um Selbstverständnis, Stellung und Stellenwert der deutschen jüdischen Minderheit innerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft hinein. Der aggressive völkische Antisemitismus bildete dabei die Negativfolie, vor der sich, befeuert durch die jüdische Massenmigration aus dem östlichen Europa, durch jüdische Renaissance und zionistische Bewegung, die sehr fluiden Positionen über jüdische Realität, jüdische Identität und jüdische Existenz insgesamt herausbildeten. Von mindestens so großer Bedeutung wie Literatur und Publizistik waren im Kontext dieser Debatten die Wissenschaften, vor allem die neuen soziologischen und nationalökonomischen „Zahlenwissenschaften“. Dies war die Domäne Blaus und seiner Mitstreiter im „Verein für jüdische Statistik“, seinerseits wiederum nur ein kleiner Ausschnitt einer großen, sich international weit verästelnden jüdischen wie allgemeinen Statistik, die nach der Jahrhundertwende allerorten zu einem wissenschaftlichen Leitparadigma wurde.

Zum Trauma der Blau-Generation wurde der Weltkrieg; für Juden brachte er neben der Traumatisierung durch den Schützengraben eine zweite, durch „Judenzählung“ und die antisemitischen Untertöne der „Dolchstoßlegende“. Sollten diese Wunden über die Jahre der Weimarer Demokratie hinweg vernarbt sein, wurden sie durch die Entrechtung nach 1933 um so schonungsloser wieder aufgerissen. Blaus Existenz in „Not und Schrecken“, die zwar nicht in den gewaltsamen Tod führte, aber sein gesichertes und korrektes bürgerliches Leben buchstäblich zertrümmerte und den Rechtsanwalt und Notar auf zynische Weise demütigte, endete in einem aberwitzigen Langzeitaufenthalt im Jüdischen Krankenhaus in Berlin zwischen Herbst 1942 und dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ Ende April/Anfang Mai 1945. Hier überlebte er als Teil eines Häufleins letzter, noch in Berlin verbliebener Juden.

Wie Blau mit all diesen Zumutungen fertig wurde, läßt sich im Detail nicht mehr durchweg rekonstruieren. Ein Tagebuch, wie andere, hinterließ er nicht, immerhin aber einen knappen, lediglich zu einem Teil veröffentlichten Bericht über die Leidensphase seines Lebens zwischen 1931 und 1945. Außerdem publizierte er im Prager Exil 1938, kurz vor der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei unter Pseudonym eine Broschüre mit autobiographischen Notizen. Während das Typoskript des ersten Textes „Vierzehn Jahre Not und Schrecken“ heute digital zugänglich ist, wird dieser zweite Text mit dem Titel „An den Rand geschrieben“, von dem in den Bibliotheken nur noch drei Exemplare nachweisbar sind, im Anhang des vorliegenden Bandes zum ersten Mal vollständig wiedergegeben und mit dem wirklichen Namen seines Autors verknüpft.

Die löchrige Quellenüberlieferung darf den Versuch nicht scheitern lassen, an Bruno Blau zu erinnern, wie auch ähnliche Quellenlagen kein Hindernis sein sollten, dies für andere deutsch-jüdische Intellektuelle „der zweiten Reihe“ und dieser Generation zu unternehmen. Auch wenn die deutsch-jüdische Geschichte, zumal des Jahrhunderts zwischen 1850 und 1950, mittlerweile breit erforscht ist, klaffen gerade im Bereich der Biographik noch große Lücken.

Bruno Blau ging seinen individuellen Weg, der gleichzeitig ein exemplarischer ist: ein deutsch-jüdisches Leben zwischen Recht, Wissenschaft, Verfolgung und Selbstbehauptung.

Wir danken der Fritz-Thyssen-Stiftung für die Förderung des seinerzeitigen Forschungsprojekts sowie der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer für großzügige Hilfe bei der Drucklegung; außerdem den Damen und Herren Archivaren und Mitarbeitern der Landes- und Standesämter, die uns bei den personenbezogenen Nachforschungen behilflich waren. Namentlich genannt seien Dr. Gotthard Klein vom Diözesanarchiv Berlin, Barbara Welker und Stephan Kummer vom Archiv des Centrum Judaicum sowie Marie Ch. Behrendt (Potsdam) für die Mitarbeit an Literaturverzeichnis und Register, aber auch für ihre Mithilfe bei den Schlußrecherchen mit wertvollen Hinweisen auf Bestände im Nachlaß von Ernst Gottfried Lowenthal. Ein besonderer Dank gilt Dr. Diana Schulle, die vielleicht gar nicht weiß, daß sie es war, die dieses Projekt angeregt hat.

Thomas Brechenmacher
Christoph Bothe

20.12.2018, 12:28

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