Ohne Vorbehalt

Leseprobe "Wer ohne Vorbehalt denkt und argumentiert, geht den Dingen auf den Grund, stellt Fragen ohne Vor- und Rücksichten, ohne hundert Fußnoten im Kopf. Das wollten wir mit diesem Buch einmal versuchen."
Ohne Vorbehalt

Peter Zudeick (Hg.)

Ohne Vorbehalt

Politik steht grundsätzlich unter Vorbehalt. Parteipolitik sowieso, Regierungspolitik geradezu zwangsläufig. Wenn politische Parteien wahlkämpfen, dann versprechen sie, dass alles besser wird. Irgendwie. Was sie selten dazusagen: Ihre Versprechen gelten immer nur »vorbehaltlich«. Zum Beispiel unter dem Vorbehalt, dass in einer künftigen Regierung der Koalitionspartner mitmacht. Franz Müntefering hat dazu den entscheidenden Satz geprägt: »Wir werden als Koalition von manchen gemessen an dem, was in Wahlkämpfen gesagt worden ist. Das ist unfair.« Genauso unfair fand Müntefering das Gelächter der Journalisten über diese bemerkenswerte Einsicht. Das war im Jahr 2006, als in der großen Koalition allerlei Wahlversprechen von SPD und Union den Bach runtergegangen waren. Was einfach daran liegt, dass eben alle Wahlversprechen nur unter Vorbehalt gelten, unter dem Generalvorbehalt: Wenn’s funktioniert. Es funktioniert halt meistens nicht. Weil der Koalitionspartner nicht will, weil kein Geld da ist, weil die Zeit nicht reif ist und überhaupt.

Helmut Schmidt versprach im Bundestagswahlkampf 1976 sichere Renten und wollte nach der Wahl die nächste Rentenanpassung verschieben und absenken. Dazu kam es freilich nicht, weil die SPD-Fraktion den Coup verhinderte. Den Vorwurf »Rentenlüge« hatte Schmidt trotzdem am Hals. Wie viele Jahre später Norbert Blüm, der im Wahljahr 1994 mit dem Slogan »Die Rente ist sicher« durch die Lande zog. Irgendwie kam dann alles ganz anders.

Vier Jahre vorher hatte Helmut Kohl den Wählern »blühende Landschaften« im Osten versprochen. In drei, vier Jahren.

Nicht mal eben so dahergesagt, sondern zig-fach wiederholt. Möglicherweise nicht einmal in böser Absicht. Norbert Blüm hat 1994 an die sichere Rente geglaubt wie Helmut Kohl 1990 an die blühenden Landschaften. Die glauben da heute noch dran. Kohl hat vielleicht sogar daran geglaubt, dass die deutsche Einheit »aus der Portokasse« zu finanzieren sei. Das hat er nämlich den Westdeutschen versprochen. Ebenfalls 1990, im Wahlkampf der »blühenden Landschaften«. Das ging als »Steuerlüge« in die politische Geschichte ein. Und es war die ansonsten höchst kohlfreundliche Bild-Zeitung, die Kohl auf der Titelseite flachlegte. Als Umfaller, weil er 1991 dann doch die Steuern erhöhte. Immerhin holte die Union mit »blühenden Landschaften« und »Steuerlüge« 43,8 Prozent der Stimmen. Das war die Sache wohl wert.

Nur: Irgendwie können sie nie so richtig was dafür, die Damen und Herren Politiker, weil eben alles, was sie sagen und tun, unter Vorbehalt steht. Am allerliebsten unter Finanzierungsvorbehalt. Jedes Gesetz, dessen Durchführung etwas kostet, steht unter Finanzierungsvorbehalt. Wie Politik insgesamt. Die FDP ist in der schwarz-gelben Koalition vor allem deshalb so grandios gescheitert, weil ihr einzig relevantes Wahlversprechen, nämlich eine spürbare Steuersenkung, das Vorbehaltsschicksal erlitt. Die CDU ließ sich zwar breitschlagen, Steuersenkungen in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Aber auf Druck von Wolfgang Schäuble nur unter Finanzierungsvorbehalt. Damit hat er die Blau-Gelben eine Legislaturperiode lang am Nasenring durch die Regierungsmanege gezogen.

Will sagen: Was Politiker im Wahlkampf versprechen, was sie sich vornehmen, ist selbstredend nicht ernst zu nehmen. Das tun die Bundesbürger in ihrer großen Mehrheit übrigens auch nicht. Müntefering hat recht: Man darf Politiker nur an dem messen, was sie tatsächlich können, nicht an dem, was sie sich wünschen oder uns versprechen. So erspart man sich Enttäuschungen und vor allen Dingen die Aufregung über das, was in Wahlkampfzeiten mal wieder so alles versprochen wird.

Wobei ja ohnehin eher das andere vorherrscht: ein allgemeines Larifari statt konkreter Aussagen, an denen man Politik messen könnte, ein weichgespültes Wenn und Aber und Hättekönntedürftemüsste, ein grauschleieriges Nichts, ein Gaukeln im Ungefähren – alles wie in Watte gebissen. Weil die Sprache des Vorbehalts gilt, wird nur noch rumgeeiert. Und das nicht nur sprachlich, sondern auch gedanklich. Der Vorbehalt ist in die Köpfe eingewachsen wie ein Nagel in den Zeh. Ins politische Handeln sowieso.

Wir Bürger haben mit dem Ritual des grundsätzlichen Vorbehalts nichts am Hut. Wir können sagen: So geht’s, und zwar subito, kommt mir nicht mit Vorbehalten und Ausflüchten, macht Politik so, wie ich das will. Mal ganz apodiktisch, mal eher abwägend, mal mehr, mal weniger radikal. Auf die Politikerantwort »Das kann man so nicht machen« antworten wir mit der Frage: »Warum nicht, zum Teufel?« Auf den Einwand »Das kann man nicht finanzieren« antworten wir höchst ungnädig: »Hört auf mit der permanenten Verschwendung öffentlicher Gelder.« Wer ohne Vorbehalt denkt und argumentiert, geht den Dingen auf den Grund, stellt Fragen ohne Vor- und Rücksichten, ohne hundert Fußnoten im Kopf. Das wollten wir mit diesem Buch einmal versuchen: Gleichsam »politisch naiv« den Berufspolitikern sagen, wo’s langgehen soll auf den politischen Feldern, die wir für zentral halten.

Natürlich haben wir nicht alle Politikbereiche abgedeckt. Wie in jedem Buch, so fehlt auch hier mehr, als drinsteht. Aber wir wollten die Beliebigkeit vermeiden, die politische Programme üblicherweise »auszeichnet«, zugunsten von dem, was wir für exemplarisch halten. Deshalb das schöne geklaute, ausgeliehene Motto: »Das alles und noch viel mehr würden wir machen, wenn wir König von Deutschland wär’n«.

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Mit Beiträgen von Brigitte Baetz, Jens Berger, Mathias Bröckers, Christoph Butterwegge, Jürgen Döschner, Bettina Gaus, Klaus Gietinger, Ulrike Herrmann, Wolfgang Hetzer, Wolfgang Lieb, Claus-Peter Lieckfeld, Wolfang Neskovic, Sven Plöger, Ines Pohl, Stefan Reinecke, Katrin Rönicke, Claudia Roth, Tom Schimmeck, Ulrich Schneider, Rudolf L. Schreiber, Werner Seidel, Hanjo Seißler, Sahra Wagenknecht, Ulrike Winkelmann.

23.05.2013, 10:46

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