Montag, 31. Dezember, Neujahrsansprache
Da sitzen wir, einander gegenüber, nur wir beide, sie und ich, getrennt durch eine Glasscheibe. Wir sind so selten auf diese Weise für uns, unsere Blicke treffen sich nie, und manchmal, wenn ich sie irgendwo sehe, frage ich mich, ob sie von den Meinen weiß, ob wir eine Rolle spielen in ihren Überlegungen, wenn sie »Sorge« sagt oder »Verantwortung«.
Ich suche in ihrem Gesicht, in ihren Gesten, die sie so gern im Scharnier der Raute einrasten lässt. Wer wollte sie sein, als sie sich zum heutigen Anlass für diese futuristische Silberweste entschied? Steif und fern, wie sie da sitzt, wirkt sie nicht, als müsse sie mir dringend etwas sagen. Eine Mediengesellschaft sollen wir sein, wählen Menschen mit dem Privileg, zum Volk zu reden – und dann reden sie so? Vielleicht ist es umgekehrt: Wer an der Macht nicht auffällt und sich mit dem Volk auf Gemeinplätzen verabredet, kann immer weiter herrschen.
Herrschen? Sie spricht. Was für ein Redetyp ist dies? Eine Ansprache? Eine Gardinenpredigt? Ein Märchen? Warum nicht? In früheren Jahrhunderten hat man gepredigt: »Mensch, werde wesentlich.« Der Kanzlerin sagte man: »Wesen, werde menschlich«, und so darf sie mir heute persönlich kommen, matriarchalisch, die gute Hirtin, Trümmerfrau, Mutter, Lehrerin, Oberärztin, Hüterin des Schutzmantels.
Sie sitzt neben einem Gebinde, das an Begräbnisse erinnert, vor einem Tannenbaum, flankiert von einem Flaggen-Ensemble für Deutschland und Europa, also zwischen Emblemen und Mythen. Jetzt erzählt sie die Geschichte vom verhinderten Schulabbrecher, vom Zusammenhalt, von »Freunden und Nachbarn«, von »Familien, die sich Tag für Tag um ihre Kinder und Angehörigen kümmern«. Doch dies sind sämtlich Dinge, die sie aus freien Stücken tun, und nicht, weil die Regierung ihnen diese Freiheit schenkte. Sie erzählt von »Gewerkschaftern und Unternehmern, die gemeinsam für die Sicherheit der Arbeitsplätze arbeiten«, aber nicht dafür arbeiten sie, sondern für Geld, sie lobt, wie wir alle beitragen, »unsere Gesellschaft menschlich und erfolgreich« zu machen, aber das tun wir nicht, denn das »Erfolgreiche« und das »Menschliche« sind nur in Sonntagsreden und Neujahrsansprachen versöhnt.
Sie weiß, was wir hören wollen, spricht deshalb von der »sicheren Zukunft«, an die ich nicht glauben kann, von dem »kleinen medizinischen Wunder« der mitwachsenden Herzklappenprothese bei einer jungen Frau, woran ich durchaus glauben kann. Doch ist dies ein Beispiel mit Kalkül, und dies schmeckt vor. Zur Kultur außerhalb der Wissenschaft kein Wort, an ihrer Stelle prunkt »die Bereitschaft zur Leistung und soziale Sicherheit für alle«, und weil es der Bogen der Rede so verlangt, müssen schließlich die Begriffe »menschlich und erfolgreich« noch einmal zusammentreten, ehe mir die Kanzlerin »Gottes Segen« wünscht. Dann geht sie wieder ihren Geschäften nach, und ich bleibe zurück.
Was war das? Warum war das? Die Neujahrsansprache hat keine Funktion. Die Ausstellung der Funktionslosigkeit ist ihre Funktion. Also ist sie eine Manifestation ritueller Zwecklosigkeit im interesselosen Raum. Es wird zwar gesprochen, doch man kann nicht widersprechen, nicht eingreifen. Die Verwaltung des Landes hat die Lippen bewegt, und sie war nicht nur menschlich, sie hat auch alles Menschliche vereinnahmt als etwas, das mir die Regierung schenkt. Zugleich hat sie mehr Krise angekündigt, jetzt aber sicher. Denn nach neun Monaten einer Krise, die immer bloß von der Akropolis herunterdrohte, mussten neue Leidenshorizonte aufgerissen werden, weil die alten verblassten. In dieser Krise war nämlich das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands um drei Prozent gestiegen, das Staatsdefizit gesunken.
Die Krise aber festigt die Anhänglichkeit der Regierten an die Regierenden. Immer wieder habe ich sagen hören, »gemeinsam« könnten wir »es« schaffen. Aber was ist dieses »es«, wo ist der Schauplatz für dieses »gemeinsam«, und wie belastbar ist diese Rhetorik? Als im afghanischen Kundus nach einer von Deutschen verantworteten Bombardierung 142 Menschen, darunter viele Kinder, starben, die weitaus größte Opferzahl in der Geschichte der Bundeswehr, hatte die Kanzlerin gesagt: »Wenn es zivile Opfer gegeben haben sollte, dann werde ich das natürlich zutiefst bedauern.« Das konjunktivische Mitleid: Wenn tot, dann traurig, wenn traurig, dann »zutiefst«, und wenn »zutiefst«, dann »natürlich«! Jetzt also stattdessen das Wunder von der mitwachsenden Herzklappenprothese.
Es ist ein ordinärer Impuls, sich von der Kanzlerin, ihrer Rhetorik, ihrer Erscheinung, ihrem Gefühlshaushalt, sich von der Volksvertretung insgesamt nicht vertreten zu fühlen. Es ist der billigst zu habende Dünkel, sich als das Individuum zu verstehen, das im Kollektiv nicht aufgeht. Was ich aber über meine Repräsentation im Parlament weiß, beziehe ich aus sekundären Quellen des Nachrichtenjournalismus. Ich unterstelle ihnen Absichten, eigene Interessen, unterstelle mich trotzdem ihrer Autorität. Welche Autorität aber besitzt das Entscheidungszentrum der Demokratie, wenn ich es mit eigenen Augen sehe?
Montag, 7. Januar, 9 Uhr, Ortstermin
Der Reichstag sieht immer noch aus wie ein Planungsrelikt auf der »Grünen Wiese«, ein Denkmal. Abseits vom Brandenburger Tor, unverbunden mit den großen Verkehrsadern ringsum, ist das Gebäude ein Solitär, umgeben vom »Cordon sanitaire« der Wachhäuschen, Pavillons, Käsekästchen der Absperrungsgitter.
In weit mehr als der Hälfte der Zeit seit seiner Vollendung stand der Bau ungenutzt, verlegen herum, hätte mehrfach zerstört werden sollen, erhob sich dreißig Jahre lang marginalisiert im Schatten der Mauer. Selbst nach der Vereinigung dachte zunächst kaum jemand daran, ihn zum Parlamentssitz zu erheben. Doch mit der künstlerischen »Verhüllung« von 1995 änderte sich der Blick auf den Bau, den man pathetisch, kolossal, überheblich, anmaßend gefunden hatte. Bald richtete man Tage der offenen Tür selbst im Rohbau ein, und das Brandenburger Tor fiel auf Platz 2 der symbolischen Attraktionen Berlins zurück. Das Äußere des Reichstags ist immer noch schwer wie ein Eichenmöbel, überwölbt von der luftigen Kuppel, dem Publikumsliebling. Vor dem alten Haupteingang ist noch der Kaiser vorgefahren. Die heutigen Abgeordneten nehmen den Osteingang.
Es hatte gerade geschneit, als ich ankam. Die meisten Besucher waren Touristen, asiatische vor allem, die Foto-Posen ausprobierten vom Hitlergruß bis zur Kommunistenfaust. Sie standen schelmisch vor der Repräsentationsarchitektur und ketzerten gegen die Monumentalität des Gebäudes.
Der Palast ist Direktor, Schutzmann, König. Die realen Polizisten dagegen haben gelernt, eine schläfrige Bereitschaft auszustrahlen, von der nach Jahren nur noch die Schläfrigkeit bleibt. Sie ächzen, wenn sie aufstehen, belastet von ihrer persönlichen Materialermüdung. Wenn man die Sicherheit des Landes an dem polizeilichen Aufwand rund um das Parlament ablesen will, dann war das Land nie so gefährdet.
Das Parlament steht den Bürgern nicht einfach offen. Sie kommen in Gruppen, Teil organisierter Busreisen, denen sich vor allem Senioren aus dem ganzen Land anschließen. Oder sie kommen zu Schulausflügen oder Klassenfahrten. Ein Mädchen erzählt mir, dass sie sich ehemals eine Fahrt nach Berlin nur leisten konnten, weil man für einen Parlamentsbesuch eine Kopfprämie erhielt. Heutzutage sitzen meist Senioren oder Halbwüchsige auf den Tribünen. Sie dürfen für eine Stunde bleiben. Danach werden sie wieder hinauskomplimentiert.
Ich selbst muss einen komplizierteren bürokratischen Weg gehen, meine Daten hinterlegen, meine Absichten erklären, in jeder neuen Sitzungswoche einen neuen Ausweis beantragen, denn, so wurde mir geflüstert, man müsse sehr auf den Ruf des Hohen Hauses achten. Fehler könnten Entlassungen nach sich ziehen. So oft bekam ich das zu hören, dass ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, dieses öffentlichste aller Gebäude habe etwas zu verbergen – etwas, das Kameras nicht zeigen, Stenographen nicht verzeichnen? Es ist mein Parlament, dachte ich, es verhandelt meine Sache, wird von mir bezahlt, warum sollte ich es nicht besuchen dürfen, so oft und so lang ich möchte? Glaubt man vielleicht, dass Bürger, wenn sie das Parlament besser kennten, es weniger schätzten?
Der Rest sind Sicherheitsvorkehrungen: Ich muss zwei Ausweise zeigen, wenn ich nur den Platz samt Fuhrpark am Ostflügel überqueren will. Es folgen eine Ausweiskontrolle am Nordeingang, dann die Schleuse für Gepäck und Person in jener Zone, in der sich Jenny Holzers Installation befindet: eine Säule, auf der in Leuchtschrift eine Auswahl großer Parlamentsreden in die hohe Decke läuft. Dann bin ich im Innern mit seinem prononcierten Gegensatz zwischen dem Sandsteinmantel über den alten Ziegelwänden des historischen Reichstags auf der einen, den skandinavisch leuchtenden Farben der Türen, Rahmen und Paneele auf der anderen Seite. Man passiert die steinernen Friese und Skulpturen im Gewölbe, lauter Relikte aus der Kaiserzeit mit musealer Anmutung. Die farbenfrohen Akzente bei Rahmen, Flächen und Türen dagegen verdankt der Bau dem dänischen Designer Per Arnoldi, der kontrastierend Blau und Rot, viel Orange, Grün und Ocker einsetzte. Frische Farben ohne Patina sind das, überraschend unfeierlich, ja profan.
Schon als Paul Wallot 1882 den Wettbewerb um das Reichstagsgebäude gewann, so schreibt der amerikanische Historiker Michael S. Cullen, stand das künstlerische Ausstattungsprogramm des Hauses und schloss Skulpturen, Wand- und Deckenbilder ein. Die renommiertesten deutschen Künstler sollten beitragen, in der Nordeingangshalle war außerdem eine Galerie mit Standbildern deutscher Geistesgrößen geplant. Da aber am Tag der Abstimmung zu viele Katholiken in der Kommission saßen, wurde eine Luther-Skulptur aus dem Programm herausverhandelt. Aus Protest ließ der Architekt die Reihe dann ganz fallen.
Das heutige Kunstkonzept ist mutiger: Im Eingangsbereich etwa finden sich neben den großen Malereien von Gerhard Richter und Georg Baselitz auch Sigmar Polkes ironische Arbeiten zur deutschen Parlamentsgeschichte – ein mit dem Spazierstock drohender Adenauer, eine spöttische Visualisierung des Hammelsprungs. Im ersten Obergeschoss liegen der Andachtsraum, der Plenarsaal, der Clubraum mit einer Bar; im zweiten Obergeschoss die Büros und Empfangsräume für Bundestagspräsidenten und Ältestenrat, dazu der Große Sitzungssaal, der Bundesratssaal und die Konferenzsäle; im dritten Obergeschoss die Fraktionssäle.
Mein Arbeitsplatz in diesem Jahr wird im zweiten Stock liegen, auf der Besucherebene. Hier passiert man die Sicherheitsbeamten und Garderobieren, läuft auf die große Glasscheibe zu, hinter der man den Bundesadler und die Rückenlehnen der obersten Tribünenplätze erkennt, und hört, wie im Entree-Bereich vor dem parlamentarischen Amphitheater die Saaldiener die Besuchergruppen auf den Verhaltenskodex einschwören: keine Fotos, kein unziemliches Verhalten, keine Zwischenrufe und kein Applaus, kein Nickerchen, keine Nahrungsaufnahme, auch keine Kaugummis, keine Handys. Dann öffnen sich die Türen, und man tritt ein.
Der verglaste Plenarsaal unter der Kuppel ist auf einer Fläche von 1200 Quadratmetern elliptisch angeordnet. Von den Tribünen blicken die Zuschauer entweder abwärts in den Saal, auf das Rednerpult, die Regierungsbank, den Bundestagspräsidenten, die Bundesratsbank, den Stenographentisch, das Plenum oder aufwärts in die Filigranstruktur der Kuppel, in der die Touristen auf- und abwärts krabbeln, während manchmal eine Bahn Sonnenlicht direkt in das Zwielicht des Plenarsaals fällt. Und Zwielicht ist immer.
Die Kuppel von unten: dreitausend Quadratmeter verbautes Glas, verteilt auf 408 Scheiben. Keine repräsentative Monstrosität sollte dies sein, sondern eine funktionale Einheit, die Licht und Luft in das Gebäude leitet. Zwei Wochen beansprucht die komplette Reinigung von innen und außen, und das Personal, das diese Arbeit leistet, schaut dabei denen auf die Köpfe, die tief unter ihnen um die Lebensbedingungen aller streiten. Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass die Leistungen am Deutschen Bundestag zu einem Teil von Schwarzarbeitern erbracht wurden, dürftig bezahlt: Vier Mark pro Tag war auch damals nahe am Mindestlohn. Streiks und Arbeitsniederlegungen verzögerten denn auch die Fertigstellung, und da die Arbeiter sozialdemokratisch organisiert waren, wandten sie sich vor allem gegen Arbeitsvermittler und deren Provisionen.
Zum Funktionstest des Plenarsaals ließ man im Februar 1999 1100 Bundeswehrsoldaten Platz nehmen und stellte fest: Auf der Regierungsbank war die Akustik dürftig, anders gesagt: Die Regierung hörte schlecht. Am 7. September 1999 schließlich fand im Reichstag – den »Bundestag« zu nennen vielen besser gefallen hätte – die erste Plenarsitzung statt.
Ich nähere mich dem Plenum von der obersten Stelle. Auf dem Grund des Trichters, zu dem sich die Tribünen senken, steht das Rednerpult. Also hört man, bevor man durch den Kranz der obersten Sitzreihen getreten ist, das Rauschen des Stimmgewirrs, das Schneiden der einzelnen Stimme am Pult: manchmal träge, das verstärkte Organ eines Monologikers, manchmal frisch und kämpferisch wie vor dem Chor der Jasager improvisierend. So weiß man immer gleich, wie die Erregungstemperatur im Saal ist. Willkommen, nie gesehener, altvertrauter Schauplatz unter der Kuppel!
Die sechs Besuchertribünen schweben wie Segmente einer Theatergalerie über dem Plenum. Das Innere des Saals enthält kaum noch Verweise auf das Äußere. Die massige historische Hülle öffnet sich zu einem mehrschichtigen, durchlässigen Innenraum. Auf der gläsernen Ostwand triumphiert der Bundesadler, ehemals heftig umstritten bei den Abgeordneten. Tausende von Skizzen machte Architekt Norman Foster, studierte alles Repräsentationsgeflügel der deutschen Geschichte, reichte allein 180 Entwürfe bei der Baukommission ein. War der Vogel den Abgeordneten zu dünn, so Cullen, dann fanden sie, er erinnere an die »mageren Jahre«. Waren seine Flügelspitzen zu spitz und hoben sie sich, so fanden sie ihn zu bedrohlich. Nein, man ließ den Architekten nicht machen. Genommen wurde am Ende die sogenannte »Fette Henne« aus dem Bonner Bundestag, und Foster zeigte sich tief enttäuscht: »Ein moderner Adler«, meinte er, »wäre ein Zeichen für den Aufbruch gewesen, für Veränderung und Erneuerung.« So liegt der Unterschied zwischen dem tierischen Adler und dem Bundesadler vor allem in der Schnabelpartie, der geraden Mundlinie bei Letzterem.
Über vier Monate arbeitete man an dem 6 Meter 80 hohen Aluminium-Vogel mit der Flügelspannweite von 8 Meter 50, einem Gewicht von 2,5 Tonnen und einer Grundfläche von 57,8 Quadratmetern. In drei Teilen zog er schließlich in den Plenarsaal ein. Und doch hat Foster auch hier seine Spur hinterlassen. Die Rückseite des Adlers nämlich, sichtbar von den rückwärtigen Gängen außerhalb des Plenarsaals, zeigt ein anderes Gesicht. Hier grient der Adler. Ja, es ist schon behauptet worden, er schaue spöttisch wie zur Kommentierung dieser ganzen Debatte. So hat im Parlament eben auch der Bundesadler seine zwei Seiten.
Die Besucher, die eben noch in großen Gruppen darauf warteten, hineingeführt zu werden, grimassieren jetzt, als träten sie ins Bild ein: Hier also! Sie drängen sich auf die graubezogenen Bänke, sitzen ein Weilchen, lassen den Saal auf sich wirken, legen die Köpfe in den Nacken, um die zu sehen, die sich in die Kuppel schrauben. Sie überfliegen das Plenum mit den vielen leeren Reihen in »Reichstagsblau«, wie Foster diese Farbe nannte. Ursprünglich hatte er auch einen Plenarsaal-Stuhl entworfen, der aber ebenfalls abgelehnt wurde. Die Abgeordneten beharrten auf ihren Bonner Stühlen, verlangten gleichzeitig, dichter zu sitzen. Das tun sie nun. Ja, in der Gestaltung der Innenarchitektur hat sich das demokratische Kollektiv immer wieder durchgesetzt.
Ich hatte mich darauf eingestellt, eine Institution im Verblassen ihrer Bedeutung zu erleben, und fand was vor? Die Raumwahrnehmung wird bestimmt von den Emblemen, die im Lande alle auf diesen Saal verweisen: die Flagge, der Adler, die Nationalfarben. Die Hoheit der Repräsentationsarchitektur verrät, dass hier eine große Idee beheimatet ist. Es ist der Ort, an welchem dem Grundgesetz, der Verfassung, der Legislative, der Moral des Staatswesens gehuldigt wird, und dieser Saal strahlt aus. Er repräsentiert die Demokratie und in dieser das Land. Was aber verrät der Zustand des Parlaments über den des Landes?
Die Demokratie hat etwas Chimärisches. Wo wäre sie fassbar, wo materialisiert sie sich? Und wenn sie es tut, warum so oft in Ritualen und Floskeln? Ich denke an die Unterwürfigkeit gegenüber dem Lokalpolitiker, die Anerkennung einer Hierarchie, die sich aus der Fiktion der Macht speist, an die Ohnmacht von Demonstrationen. Die Verfassung meint: Die Entscheidungsgewalt liegt bei der Regierung, das Parlament kontrolliert diese Regierung. Die Wahrheit ist: Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun repräsentativ, meist rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser.
Die Besucher schwenken den Raum ab, ordnen die Bänke und Blöcke den Fraktionen zu, ehe sie sich den Personen zuwenden. Den meisten geht es offenbar wie mir: Sie fühlen einen Bann, stellen rasch die Zwiegespräche ein, überlassen sich dem Augenschein. Der Deutsche Bundestag soll zwar das bestbesuchte Parlament Europas sein und besitzt mit 1600 Kubikmetern umbauten Raums auch den größten Plenarsaal. Journalisten aber kommen nicht mehr oft hierher. Lieber verfolgen sie die Sitzungen in ihren Redaktionen auf dem Bundestagskanal, auf »Phoenix« oder in eigenen Schaltungen. Der Besuch des Parlaments »lohne sich nicht«, sagen sie oft, und für die tagesaktuelle Arbeit mag dies zutreffen.
Kein Wunder also, wenn die Pressetribünen oft mit Touristen aufgefüllt werden. Dann bleiben nur die ersten Reihen frei für die Fotografen. Die stürzen gern von hinten an die Rampe, um das Gesicht des Tages festzuhalten, dann noch eine Sequenz auf dem Kameradisplay durchlaufen zu lassen, und manchmal kann man das Resultat schon Minuten später bei einem der Online-Magazine finden. Es kommt sogar vor, dass Fotografen die Abgeordneten von oben bitten, mal eben ... dann drehen die sich da unten ein und sehen eine Pose lang attraktiv parlamentarisch aus.