Vorwort
Hitler verfolgt mich. Ich laufe. Immer schneller. Immer weiter. Bin außer Atem. Ich drehe mich um, aber ich sehe nichts. Ich laufe weiter. Bis an das Ende meiner Kraft. Bis ans Ende meiner Angst. Immer weiter. Ich drehe mich um, meine Augen scannen jeden Winkel und jede Bewegung. Nur ein kurzer Augenblick Pause. Dann wieder weiter. Schneller, über Asphalt und Stein, über Wiesen, durch Wälder, auf Hügel und durch schmale Gassen. Obwohl ich mich anstrenge, komme ich keinen Schritt voran. Die Bedrohung kommt immer näher. Sie hat mich schon fast am Kragen, ich spüre ihren Atem in meinem Nacken. Plötzlich stolpere ich und falle hin. Ich schnaufe, bin vollkommen außer Puste.
Meine Lungen schmerzen, aber mein Verstand ist hellwach. Mein ganzer Körper pulsiert und meine Haut ist wie Pergamentpapier, dünn und zum Zerreißen gespannt. Und dann bohren sich mir Stiefel ins Gesicht. Erst einer, dann zehn, dann Hunderte. Sie treten mir mit voller Wucht auf die Nase, in die Augen. Ich blute, ich röchle, ich stöhne und alles schmerzt. Mein ganzer Körper verkrampft sich und ich spüre, wie mein Bewusstsein schwindet. Die kalten Sohlen streicheln meine Seele, ihr Profil hinterlässt einen Abdruck in meinem Nervensystem. Ich höre Schreie und Gejaule. Wie von einer Hundemeute, die sich auf ihr erlegtes Opfer stürzt, um es zu zerfleischen. Am Ende wird es immer wärmer und dunkel. Ich ergebe mich den Qualen und genieße es, mir vorzustellen, dass es bald vorbei sein wird. Ich verlasse mich darauf, dass es keine Erinnerung gibt, und wache auf. Schweißgebadet. Und das nicht zum ersten Mal.
Wie in einer Endlosschleife träume ich diesen Traum. Hitler verfolgt mich und ich gehe daran zugrunde. Es ist nun schon Jahre her, dass ich mit meinen öffentlichen Lesungen aus Adolf Hitlers »Mein Kampf« auf Tour war und immer noch quält mich ab und zu dieses merkwürdige Überbleibsel aus jener Zeit, entstanden aus der realen Bedrohung, die ich damals fast tagtäglich erlebt habe. Es ist zu einer Bürde geworden, die ich nicht mehr loswerde: Ich habe eine diffuse Angst um mich und mein Leben und die böse Ahnung, dass das, was ich mir in meinen schlimmsten Träumen vorstelle, eines Tages zur grausamen Realität wird. Gleichzeitig aber verstärkt sich in mir mit jeder Sequenz, die ich träume, die Hoffnung darauf, diese Angst beherrschen zu können, sie in den Griff zu bekommen, um sie in Tapferkeit umwandeln zu können. Wie ein Artist, der die Höhe sucht, um den Absturz nicht zu fürchten. Ich balanciere auf einem sehr dünnen Seil, ich sehe das Ziel schon vor Augen, aber ich weiß auch, dass jede falsche Bewegung, jeder ungeplante Moment und jeder Zufall mich zu Fall bringen könnten und ich in den Abgrund falle, den ich selbst gesucht habe.
Eine seltsame Gemengelage ist in mir entstanden und gerade das ist das Besondere, das heute meinen Blick auf das ganze Thema Hitler auszumachen scheint. Ich habe auf der einen Seite die Berührungsangst verloren, die sich einem wie ein unüberwindbares Hindernis in den Weg stellt, wenn man sich mit Hitler auseinandersetzt, und auf der anderen Seite habe ich eine viel diffusere Angst entwickelt, weil ich weiß, wie unberechenbar die Auswirkungen seiner Ideen auch heute noch sein können.
Weshalb ich mich auf dieses Thema eingelassen habe, weiß ich nicht mehr. Ich bin oft danach gefragt worden und ich habe so oft darauf geantwortet, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben. Meistens habe ich eine auswendig gelernte Antwort wiederholt. Es war das Einfachste, nicht darüber nachzudenken, und es war darüber hinaus zu schmerzhaft für mich, in die Tiefe zu gehen und mich zu fragen, wo der Hitler vielleicht in mir sein könnte, den ich allabendlich auf der Bühne rausgelassen habe wie ein Dompteur sein Raubtier. Jetzt, wo er in mir wütet, manchmal gegen mich und manchmal gegen andere, manchmal beherrschbar und manchmal außer Kontrolle, versuche ich zu verstehen.
Ich hatte anfangs nur eine Idee. Einen Gedanken, der sich verselbstständigt und eine eigene Dynamik entwickelt hat. Es ist etwas daraus entstanden, was ich nicht mehr kontrollieren kann und dessen Entwicklung nicht in meiner Macht liegt. Es ist mir weder möglich, diese Idee verschwinden zu lassen, noch kann ich sie in irgendeiner Art und Weise lenken oder nachträglich verändern. Sie ist einfach da. Mir bleibt nur, sie zu akzeptieren und sie so gut wie möglich zu kennen und vielleicht sogar darüber zu erzählen, wie diese Idee heute aussieht, welche Form sie mittlerweile angenommen hat. Die Gestalt dieser Idee einer künstlerischen Auseinandersetzung mit einem der größten Tabus der deutschen Geschichte hat sich im Laufe der vergangenen Jahre immer wieder verändert.
Je nach Lage und Kontext schien es so, als könne der Gedanke immer wieder neue Umrisse und Formen annehmen. Mal ist es die Person Hitler, um die es geht, mal ist es die Faszination, die von ihr ausgeht, dann sind es Entstehung und Auswirkungen der Hitlerzeit oder historische Zusammenhänge und Ursachen. Auch wenn es die naheliegendste Frage zu sein scheint, wie man auf den Gedanken kommen kann, öffentlich aus Hitlers »Mein Kampf« zu lesen, ist es nahezu unmöglich, eine plausible Antwort darauf zu geben. Ich bin davon überzeugt, dass es sein muss. Und während auf der einen Seite die Geschichte in mir mit diesem Buch weitergeht, läuft auch die Geschichte um dieses Buch weiter und offenbart immer spannendere Wendungen. Sie atmet Gegenwart.
Der vorerst letzte Akt steht an, wenn Ende 2015 die Urheberrechte von »Mein Kampf« freigegeben werden und das, was alle befürchten, aber niemand einschätzen kann, eintritt: »Mein Kampf« wird frei erhältlich sein und jeder kann das Werk lesen, ohne dass er dabei ein schlechtes Gewissen haben muss. Womit wir zugleich an den Anfang der Geschichte kommen, die ich erzählen will.
Es geht um die Geschichte eines verbotenen Buches und unseren merkwürdigen Umgang damit. Und es geht um meine Geschichte mit Adolf Hitlers »Mein Kampf«, die mich seit fast 20 Jahren prägt, und um meine Erfahrungen mit unsichtbaren, gegenwärtigen Diktaturen. Es ist eine seltsame und spannende Geschichte zugleich. Voller Verbote und Zwänge, voller Unstimmigkeiten und Ängste.
Es ist der Einblick in meine eigene und die Seele eines ganzen Volkes und seiner Nachkommen, ein genauer Blick auf den Umgang von Menschen mit Schuld und Verantwortung und den gescheiterten Versuch einer ganzen Nation, das kollektive Gewissen zu entlasten, den verzweifelten Versuch, einen Frieden mit etwas zu finden, das man noch nicht einmal kennt, und die Sehnsucht danach, endlich Antworten zu geben auf Fragen, die sich über Generationen wie spitze Pfeile in die Seele bohren, ohne dass man sie abwehren kann.