Vorwort
von Helge Malchow
Als vor 35 Jahren, im Jahr 1977, Günter Wallraffs »Der Aufmacher« erschien, sah die Welt politisch ganz und gar anders aus als heute. Mitten durch Deutschland verlief eine Mauer, die für jeden sichtbar den Ostblock von der westlichen Welt trennte. »Drüben« in der DDR wurde jede Form von politischer Opposition brutal unterdrückt – und in der Bundesrepublik wurden radikale Kritiker der herrschenden Verhältnisse spätestens seit den Aktionen der Studentenbewegung 1967/68 fast reflexartig verdächtigt, nichts als die »fünfte Kolonne« des Sowjetkommunismus oder Sympathisanten des RAF-Terrorismus zu sein. Heinrich Bölls »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« von 1974 (und Volker Schlöndorffs anschließende Verfilmung) zeigen die Atmosphäre dieser Jahre mit bis heute beklemmender Genauigkeit. Die Zentralen der wirtschaftlichen und politischen Macht in der Bundesrepublik operierten mit groben obrigkeitsstaatlichen Repressionen wie den berüchtigten Berufsverboten gegen linke Kritiker, waren selbst aber jederzeit bereit, über alte Nazis (wie den ehemaligen NS-Richter Hans Filbinger) in den eigenen Führungsetagen hinwegzusehen oder sich mit Militärdiktaturen, wo immer auf der Welt (Griechenland, Chile, Argentinien, Spanien), oder dem Apartheitsregime in Südafrika zu verbünden, weil man im »Kalten Krieg« auf derselben Seite stand.
Das wichtigste Sprachrohr gegen jegliche gesellschaftliche Liberalisierung war spätestens seit 1967 die im Springer Verlag erscheinende BILD-Zeitung. Auf der Basis ihres Meinungsmonopols auf dem Feld der Boulevardzeitungen betrieb sie eine Art Dauermobilisierung der Stammtische und verstieß Tag für Tag gegen alle Prinzipien eines demokratischen und ethischen Journalismus. BILD kannte keine Skrupel, wenn es darum ging, Auflage zu machen mit reißerischen Geschichten auf Kosten unschuldiger Betroffener.
In diese Atmosphäre schlug Günter Wallraffs Enthüllungsreportage »Der Aufmacher« ein wie eine Bombe, die sofort zu heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen führte. Der Springer-Verlag versuchte mit allen juristischen Mitteln gegen das Buch vorzugehen, das mit seinen Folgebüchern zusammen in mehreren Millionen Exemplaren verkauft wurde und zu einem der großen Bücherbestseller in der Geschichte der Bundesrepublik wurde. In mehr als 20 presserechtlichen Verfahren wurden in den verschiedensten Instanzen Verbote gegen über 60 Textstellen ausgesprochen, gegen die sich der Autor und sein Verlag Kiepenheuer & Witsch juristisch wie publizistisch wehrten.
Als Antwort auf die Verbote wurde zuerst eine zweite Auflage mit geschwärzten Stellen publiziert (daneben tauchte plötzlich ein ungeschwärzter Raubdruck auf), und am Ende der Prozess-Serie stand ein historisches Urteil des Bundesgerichtshofs, in dem dieser Günter Wallraffs Enthüllungsmethoden weitgehend rechtfertigte. Die Methoden der BILD-Zeitung, so der BGH, seien »mit den Aufgaben der Presse schwerlich in Einklang zu bringen und verdienen die besondere Beachtung der Öffentlichkeit, auf die die »BILD«-Zeitung starken Einfluss nimmt.« Und er bescheinigte BILD »eine Fehlentwicklung im deutschen Pressewesen« zu sein. Entscheidend an diesem Urteil bis heute: Bei der Güterabwägung zwischen dem (berechtigten) Interesse einer Zeitungsredaktion an Vertraulichkeit bei internen Vorgängen und einem »besonderen Informationsinteresse der Öffentlichkeit« überwog angesichts der geschilderten gravierenden Fehlentwicklungen bei »BILD« das Interesse der Öffentlichkeit.
Gleichwohl blieben eine Reihe von Textstellen verboten. Erst mit dieser Ausgabe liegt nun wieder die ursprüngliche Fassung vor. Aber auch mit anderen Mitteln versuchte man Günter Wallraffs historische Leistung zu torpedieren: Durch Spitzel und Detektive, durch immer wieder gescheiterte Versuche, Günter Wallraff als Person und Autor zu diffamieren. Am Ende ging Günter Wallraff auf Grund einer unvergleichlichen Energieleistung als Sieger aus diesen Auseinandersetzungen hervor, weil sich der deutsche Presserat und große Teile der publizistischen Öffentlichkeit auf seine Seite stellten, weil zwei Fortsetzungsbände erschienen (»Zeugen der Anklage«, 1979 und »Das Bild-Handbuch bis zum Bild-Ausfall«, 1981), weil der Autor in hunderten öffentlichen Veranstaltungen über viele Jahre seine Erfahrungen als exemplarische Erkenntnisse über Fehlentwicklungen in den Medien nicht nur bei BILD und Springer vermitteln konnte.
Die 70-er Jahre und die politischen Kämpfe dieser Zeit sind lange vergangen – sodass der Verdacht aufkommen könnte, dass auch das Buch selbst historische Patina angesetzt hat. Eine heutige Lektüre dieses jahrzehntealten Klassikers der politischen Literatur aber zeigt das Gegenteil – und das ist nicht nur eine gute Nachricht über die dauerhafte literarische Qualität dieses Buchs, sondern auch eine schlechte Nachricht über den Zstand der Medien in unserer Zeit. Denn nach einer Phase der zynischen Umdeutung der BILD-Zeitung zum moral- und wahrheitsfreien »Entertainment-Medium« überwiegen heute wegen der zahllosen, nie abreißenden Beispiele von Wahrheitsverdrehungen, Skandalisierungen, Diskriminierung von Minderheiten im Inneren wie im Ausland (»Die Pleite-Griechen wollen unser Geld«) wieder die berechtigten moralischen Zweifel an dem mächtigen Boulevardblatt.
Freilich fungiert es heute nicht mehr im selben Maße wie in der Vergangenheit als Kampfblatt eines festen politischen Lagers. Statt dessen explodieren – auch wegen der neuen Konkurrenz durch triviale TV-Angebote und Internet- Trash – die Angriffe auf die Privat- und Intimsphäre von Prominenten, die ihre Karriere nicht selten BILD verdanken, um anschließend umso härter gestürzt zu werden. Für all das finden sich im »Aufmacher« Beispiele – Bestechungen, Erpressungen, Gefälligkeitslügen – für die Günter Wallraff als Hans Esser Zeuge war und an denen er sich in seiner Rolle sogar beteiligen musste. Eine Überraschung für den heutigen Leser aber ist die erzählerische Rasanz des Buchs und die Komik, die in vielen Geschichten neben der Tragik steht. Eine kürzlich erschienene, etwas flaue Persiflage eines FAZ- Reporters, der sich in die Rolle »Günter Wallraff« begab, reichte leider bei weitem nicht an die Qualitäten seines ›Modells‹ heran, das man z.B. hier im »Aufmacher« in Hochform erlebt. Das Entscheidende aber sind die analytischen und die politischen Dimensionen seiner Arbeit, die der Autor nie aus den Augen verliert: Zuerst die banale Frage nach dem Warum: Was treibt Redakteure zum Verrat an ihrem Beruf, inwieweit sind sie selbst Opfer von Repressionen, denen sie sich bereitwillig oder widerwillig unterwerfen? Und dann: Wie kann es den Opfern der Berichterstattung gelingen, sich zu wehren, und wie den Tätern in den Redaktionen, nein zu sagen. Die vielen Fortschritte, die es hier seit Jahren gibt, sind der historische Verdienst Günter Wallraffs.