Alles Genossen

Leseprobe "Auch andere Küchenfenster standen offen, und die Stimmen überlagerten sich: Roses überreichliche Feinde, die wenigen Freunde, andere, so viele andere, einfach geduldet. Aber alles Genossen."
Alles Genossen

Foto: AFP/Getty Images

1. Zwei Prozesse

Fick keine schwarzen Cops mehr, oder du fliegst aus der Kommunistischen Partei. Da stand das Ultimatum, die absurde Endsumme der Nachricht, die die in Rose Zimmers Küche in Sunnyside Gardens versammelte Clique ihr übermittelt hatte. Spätherbst 1955.

Sol Eaglin, bedeutender Kommunist, hatte sie angerufen. Ein »Ausschuss« wolle sie sehen; nein, sie wären glücklich, entzückt, zu ihr nach Hause zu kommen, heute Abend, nach ihrer eigenen Besprechung, ebenfalls in den Gardens – war zehn zu spät? Das war ein Befehl, keine Bitte. Ja, Sol wusste, dass Rose schwer arbeitete, was ihr Schlaf ihr bedeutete. Er versprach ihr, sie würden nicht lange bleiben.

Wie war das bloß passiert? Leicht. Eigentlich Routine. Das passierte jeden Tag. Man konnte aus der gemeinsamen Sache ins Exil getrieben werden, weil man sich die Nase geputzt oder in verdächtigen Abständen geblinzelt hatte. Und jetzt war nach all der Zeit eben Rose an der Reihe. Sie hatte das Küchenfenster gekippt, um sie kommen zu hören. Kaffee gekocht. Geräusche aus den Gardens sickerten herein, Raucher, Pärchen, Teenager, die auf den kommunalen Wegen schmollten. Eine winterliche Dunkelheit hielt die Nachbarschaft zwar schon seit Stunden fest gepackt, aber der frühe Novemberabend war unheimlich mild und verlockend, der letzte Puls der Erde, die sich an den Sommer erinnerte. Auch andere Küchenfenster standen offen, und die Stimmen überlagerten sich: Roses überreichliche Feinde, die wenigen Freunde, andere, so viele andere, einfach geduldet. Aber alles Genossen. Die Rose selbst in Form ihrer Ablehnung Respekt erwiesen. Respekt, den der Ausschuss, der gerade ihre Küche betrat, ihr rauben würde.

Mit Eaglin waren sie zu fünft. Sie waren zu fein angezogen, mussten mit Westen und Jacketts irgendetwas kompensieren, verteilten sich auf Roses Stühlen wie auf einem sowjetischen Ölbild und posierten, als hätten sie einen intellektuellen Auftrag. Der Chimäre des Dialektischen Dingsdas auf den Fersen, dabei gab es hier keine Dialektik. Nur Diktatur. Und die Entgegennahme von Diktaten. Trotzdem bemühte sich Rose um Nachsicht. Bis auf Eaglin waren die Männer zu jung, um wie sie die intellektuellen Saltos der Dreißiger überlebt zu haben, den Ausbruch des europäischen Faschismus und die Volksfront; im Krieg waren sie noch Kinder gewesen. Das waren Drohnen, Männer im Kostüm unabhängigen Denkens, die Sklaven der Gruppensprache der Partei geworden waren. Niemand zählte in diesem Raum mit Ausnahme des einzigen unabhängigen oder denkenden Mannes unter ihnen, einem echten und berühmten Agitator, einem Mann der Fabrikhallen, Sol Eaglin. Rose Zimmers Exliebhaber. Eaglin mit seiner Fliege und dem Haaransatz inzwischen hinter der hohen Schädelwölbung wie die sinkende Wintersonne. Eaglin, der als einziger in der Gruppe Manns genug war, ihr nicht in die Augen zu sehen, der einzige, der bei dem Ganzen einen Anflug von Scham spüren ließ.

Das war eine kommunistische Gewohnheit, ein kommunistisches Ritual: der Wohnzimmerprozess, der respektable Lynchmob, der sich erst an deiner Gastfreundschaft ergötzte und dein Engagement dann mit einer Granate der Parteipolitik bombardierte, mit dem Buttermesser eine Scheibe Toast bestrich und dich damit dann von heute auf morgen von allem trennte, wofür du dein Leben gegeben hattest. Aber bloß weil es unter Kommunisten Gewohnheit und Ritual war, hieß das nicht, dass diese Jungen sich darauf verstanden oder sich dabei wohlfühlten: Rose war die Veteranin. Sie war schon vor acht Jahren Opfer eines solchen Prozesses gewesen. Die Männer schwitzten; Rose fühlte sich nur erschöpft, wenn sie hörte, wie sie hüstelten und sich räusperten.

Das Ölbild machte Smalltalk. Einer beugte sich vor und hantierte an Roses Abraham-Lincoln-Schrein herum, dem dreibeinigen Tischchen, auf dem ihre Originalausgabe von Carl Sandburgs sechsbändiger Biographie stand, ein in einem gerahmten Ständer steckendes Foto von ihr und ihrer Tochter vor der Statue im Memorial von Washington D.C. sowie eine falsche Gedenk-Centmünze vom Umfang einer Leberwurstscheibe. Der junge Mann war blond wie Roses erster Ehemann – ihr einziger Ehemann, aber Roses Hirn erlaubte sich ständig diese kleine Abweichung, als läge ein zweites Leben noch vor ihr und wartete auf Aufzählung. Der Mann wog das Medaillon und legte auf idiotische Weise den Kopf schief, als fragte er sich, ob das beeindruckende Gewicht ein aussichtsreiches Gesprächsthema abgäbe.
»Der ehrliche Abe, was?«, sagte er.
»Legen Sie das hin.«
Er sah sie gekränkt an. »Uns ist bekannt, dass Sie für die Bürgerrechte eintreten, Mrs. Zimmer.«
Es war typisch für einen solchen Abend, dass jede Bemerkung direkt zur Sache kam, gewollt oder ungewollt. Das war also das Verbrechen, das die Partei für Rose erfunden hatte: übertriebener Eifer für die Sache der Negerrechte. In den Dreißigern war sie das gewesen, was Kommunistenfresser später eine verfrühte Antifaschistin nennen sollten. Und jetzt? Pochte sie übersensibel auf Gleichmacherei.

»Ich hatte ein paar Sklaven«, sagte Rose. »Aber ich hab sie alle freigelassen.« Bestenfalls ein Seitenhieb in Richtung Sol Eaglin. Dem jungen Mann unter Garantie zu hoch.

Eaglin schaltete sich ein, schließlich war es von vornherein seine Aufgabe, sie zu »bearbeiten«. »Wo ist Miriam denn heute Abend?«, fragte er und tat so, als könnte die Kenntnis des Namens ihrer Tochter das Ungereimte seiner Rolle in Roses Leben abschwächen: weder Freund noch Feind, obwohl sie in der Dunkelheit unendlich oft die Formen des anderen ertastet hatten. Eaglin war einfach nur ein farbloser Funktionär, ein Erfüllungsgehilfe der Parteipolitik. Der heutige Abend war der endgültige Beweis, sofern sie noch Beweise brauchte. Man konnte einen Mann im eigenen Bett und im eigenen Körper beherbergen, auf seinem Nervensystem spielen wie Paderewski auf der Tastatur, ohne sein Gehirn nur einen Zoll aus dem Beton des Dogmas herauszulösen. Oder, was das anging, aus dem Beton der Polizeiarbeit. Notabene hatte Rose beide Männer nicht von ihren Frauen trennen können.

Rose zuckte zur Antwort mit den Schultern. »In ihrem Alter geht es mich anscheinend nichts mehr an, wo sie ist.« Miriam, das Wunderkind, war fünfzehn. Hatte eine Klasse übersprungen, war im zweiten Jahr an der Highschool und praktisch eine Ausreißerin. Miriam lebte in den Häusern anderer Leute und im Speisesaal des Queens College und flirtete mit jüdischen und nicht-jüdischen Möchtegern-Intellektuellen, Jungen, die sich noch wenige Jahre zuvor auf Drehhockern in der Eisdiele oder in den Zügen der Hochbahn am Sack gekratzt und mit zusammengerollten Comic-Heften aufeinander eingedroschen hatten, Jungen, die schlagartig verstummten, ja zu zittern anfingen, wenn sie sich auf demselben Gehweg wie Rose Zimmer fanden.

»Füßelt mit Vetter Lenny?«
»Sol, das Einzige, was ich mit Gewissheit sagen kann, ist, dass sie ganz entschieden nicht mit Vetter Lenny unterwegs ist.« Das war Lenin Angrush, Roses Vetter zweiten Grades, der ihr, nebenbei bemerkt, den riesigen falschen Penny geschenkt hatte. Er gab sich als Numismatiker aus. Lenny, der sich von der fünfzehnjährigen Miriam auch nur die Uhrzeit sagen ließ? Da träumte der von.

»Verschwenden wir hier doch nicht unsere Zeit«, sagte der junge Mann, der an den Lincoln-Sachen herumgefummelt hatte. Rose sollte die brutale Autorität der Jugend nicht unterschätzen: Er hatte einige. Sol war nicht der einzige Machtfaktor im Raum, bloß weil er der einzige war, den Rose als Machtfaktor akzeptierte. Der junge Kerl wollte sich unbedingt hervortun, wahrscheinlich rivalisierte er mit den anderen Anwesenden um den Rang als Eaglins Günstling. Was nur der Auftakt war, Eaglin irgendwann hinterrücks zu erdolchen. Mit Sicherheit ging es darum. Wirklich, der arme Sol. Immer noch bis zum Hals in der Jauche der Paranoia.

Rose schenkte der wackeren Kohorte, die gekommen war, um ihr zu verkünden, dass sie sich den falschen Neger ausgesucht hatte, Kaffee ein. Die Männer übernahmen das Reden; sie sollte eigentlich nur das Urteil über sich ergehen lassen. Abgesehen davon, dass man ihr die Parteizugehörigkeit kappte, würde sie auch das Privileg verlieren, bei Treffen mit Gewerkschaftsfunktionären als Protokollsekretärin zu agieren, und das galt auch für die Gewerkschaft an ihrem eigenen Arbeitsplatz, Real’s Radish & Pickle. Ihre letzte Aufgabe in der Partei wurde ihr genommen. Bei Real’s genoss Rose die Ehre, in entsetztem Schweigen zu dienen, während ihre tollpatschigen Genossen die Arbeiter einschüchterten, die im Alltag nebeneinander bis zu den Ellbogen in Fässern mit kalter Salzlake steckten und dabei Solidaritäten schmiedeten, die den weltfernen Posen der Agitatoren Schande machten, die in ihren schmucken Hosenträgern und faltenlosen Plaids aufmarschierten und zu wenig Ahnung hatten, um sich dieser Proletarierkostüme einer Halloween-Heuwagenfahrt zu schämen. Es verstand sich von selbst, dass sich die Männer in ihrer Wohnung zum Teufel scheren konnten.

Roses übliche Wut entsprach jedoch nicht ganz dem Anlass. Die moralischen Banditen in ihrer Küche, selbst Eaglin, erschienen ihr wie in weiter Ferne, hatten gedämpfte Stimmen. Die Ereignisse im Raum spulten sich wie nach einem Drehbuch vor ihr ab, einer anderen widerfuhr hier etwas, nicht ihr. In Roses Küche wurde ein Einakter inszeniert, der der sozialistischen Theatertruppe von Sunnyside würdig gewesen wäre und in dem ihr Körper auftrat – bestimmte Verhaltensweisen ihres Körpers standen ja zur Debatte –, sonst aber nichts. Falls in ihrer Brust noch ein Herz klopfte, war es jetzt nicht zugegen. Rose wohnt hier nicht mehr. Eine Exkommunikation, die schon vor langer Zeit abgeschlossen worden war. Sie wärmte Kaffee auf und schenkte nach, gestattete ihrem Lynchmob, das Meißner Porzellan ihrer Schwiegermutter zu benutzen, wobei sie mit Ausdrücken, die gerade verhüllt genug waren, dass die Scham nur Rose übermannte, nicht aber die Männer, auf ihr Sexleben anspielten. Erdreisteten sich, ihr zu sagen, wen sie zu ficken hatte. Genau genommen, wen sie nicht zu ficken hatte. Dass sie gar nicht mehr zu ficken hatte. Dass Rose keine Schlafzimmersolidarität mit Männern zu begründen hatte, die im Gegensatz zu ihnen die Statur und die Selbstbeherrschung hatten, Rose zu wollen und ihr respektlos entgegenzutreten.

Denn die Besatzer ihrer Küche zeigten selbst beim Vollzug des Auftrags ihres Henkers einen erbärmlichen Respekt: vor Roses Kraft, ihrer Geschichte und ihrer Brust, die doppelt so ausladend war wie ihre. Sie, die am Protestmarsch auf der Fifth Avenue gegen Hitlers New Yorker Geburtstagsparty teilgenommen hatte und von amerikanischen Braunhemden mit verfaultem Gemüse beworfen worden war. Sie, die für die Schwarzen demonstriert hatte, praktisch bevor die selber demonstriert hatten. Den Negern die Revolution zu bringen, na gut. Einen bestimmten schwarzen Cop zwischen den eigenen Laken zu haben, nicht so gut. Oh diese Heuchler! Ihre unaufhörliche, schönfärberisch durch den Wortnebel geleierte Verwendung des Begriffs »Umgang«. Sie machten sich Sorgen wegen ihres Umgangs. Dabei meinten sie natürlich den Umgang ihrer rasant alternden jüdisch-kommunistischen Vagina mit dem prallen und liebevollen Penis des schwarzen Lieutenants.

Und doch nahm Rose Bestellungen entgegen wie eine verrückte Kellnerin nach der Lobotomie: Milch oder Sahne dazu? Mit Zucker? Ach, Sie mögen ihn lieber schwarz? Ich auch. Aber sie biss sich auf die Zunge und ließ den Witz nicht raus. Als Protokollsekretärin protokollierte sie. Stenographierte ihr eigenes Tribunal wie eine Unbeteiligte auf dem Notizblock eines distanzierten Verstands. Stenographie, eine geistige Stenographie, bei der die Finger über eine Seite fuhren, die der Verstand selbst kaum wahrnahm. Hier war Rose Zimmer, geborene Angrush, die Geißel von Sunnyside, die sich wie eine Boxerin gegen die nachgiebigen Schatten in ihrer Küche zur Wehr setzen sollte, diese grausigen Totengeister der Doktrin, und ihr war alles egal. Dieser zweite Prozess war eigentlich nur eine lausige Parodie des ersten.

Der erste, der war noch was gewesen! Damals war Rose im amerikanischen Kommunismus noch wichtig. Damals führte sie eine wichtige Kommunistenehe und stand vor einer wichtigen Kommunistenscheidung. Damals war sie jung gewesen. Das war sie nicht mehr. Jetzt kratzte der geistige Stift nicht mehr über den geistigen Notizblock. Rose grenzte sich innerlich noch weiter von den Ereignissen ab, deren Zeugin sie gerade wurde und die ihr ganzes bisheriges Leben über den Haufen werfen würden. »Eaglin?«, sagte sie und unterbrach eine leiernde Unterstellung. »Ja, Rose?« »Komm mal mit raus.« Eaglin bezwang die unruhigen Blicke mit der Augenbraue, die er nutzte wie ein Dirigent seinen Stab, um das Instrumentestimmen der Musiker zu beenden. Und dann traten er und Rose, den Aschenbecher in den Händen, hinaus in die Frischluft der Gardens.

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Der Aschenbecher war ein reiner Fetisch: abgeplatteter, schwarzer, glattpolierter Granit, schwer genug, um als Stopper einer Tür mit Druckscharnieren zum Einsatz zu kommen oder um einem Mann den Schädel zu verbeulen. Wenn er wieder einmal mit Pall-Mall-Stummeln voll war, schleppte man ihn mit beiden Händen in die Küche und leerte ihn in Alma Zimmers Mülleimer aus. Dann spülte man ihn unter dem Wasserhahn aus, denn Alma, Roses Schwiegermutter wider Willen, hatte unmissverständlich klargestellt, dass sie ihn glänzend zurückzuerhalten wünschte – auch wenn man zurückkam und dann schon drei oder vier Raucher, Alberts Genossen, darauf warteten, ihre Asche abzustreifen. Wenn man sich vorstellte, dass sie bei der Flucht aus Lübeck den Aschenbecher im Fluchtgepäck untergebracht hatten! Alma hatte Prioritäten gesetzt. Wer weiß, wer das Gepäck geschleppt und wessen Gelenke der Aschenbecher und das in Seidenpapier verpackte Meißner Porzellan belastet hatten? Bestimmt nicht Almas. Gepäckträger, sagte sich Rose, und wenn es keine Gepäckträger gab, Almas Bruder Lukas oder Almas Sohn Albert. Albert Zimmer. Roses späterer Ehemann, ein reicher Jude, der sich noch für einen Deutschen hielt, als bereits die Nazis aufmarschierten.

Und wer wusste schon, was für andere Schätze zugunsten dieser Gegenstände zurückgelassen worden waren? Der Aschenbecher, ein Andenken an den Bankschreibtisch von Almas verstorbenem Gatten, war ein Klotz deutscher Wirklichkeit und den absurdesten Hindernissen zum Trotz importiert worden, um die Unwirklichkeit von Almas neuen Lebensumständen zu beweisen. Die da hießen: Broadway Ecke 92nd, die Knickerbocker Apartments. Eine Zweizimmerwohnung auf dieser Insel Manhattan, sichtlich möbliert mit allem, was außer dem Aschenbecher hatte gerettet werden können, dem halben Porzellanservice, einigen wenigen gerahmten Fotografien (die Alma neben Kusinen an Urlaubsorten in den Alpen zeigten und für Roses Blick ohne weiteres auch Nazi-Souvenire hätten sein können), Wiener Spitzengardinen. Eine Wohnung, die weniger ein Heim war als die Gedenkstätte eines verlorenen Lebens. Zwei Fenster mit Blick auf den Verkehr am Broadway ersetzten ein Haus, das in Lübecks Nobelviertel so weit oben lag, dass sich das Panorama sowohl der Trave als auch der Hügel vor einem erstreckte, und nebenan lag nichts geringeres als das Familienhaus von Lübecks berühmtem Spross Thomas Mann, das Buddenbrookhaus. Alma und ihr Bankier hatten über die rückwärtigen Veranden hinweg des Öfteren mit dem Autor Konversation gemacht, wenn der zu Besuch gekommen war. Ein anderes Leben. Vor dem Exil. Alma, ehedem eine Opernsängerin auf Lübecks größten Bühnen. Alma, die Blume von Lübeck. (Rose hatte ihr gerüttelt Maß an diesem Wort, diesem heiligen Namen Lübeck bekommen.) Deutscher als deutsch und kaum jüdisch, bis die verdorbenen Söhne Bayerns das Land in Stücke gerissen hatten. All das wusste der Aschenbecher, wahrscheinlich bis hin zu den genauen Summen, die Alma bezahlt hatte, um sich, ihrem Bruder Lukas und ihrem Sohn Albert die Flucht nach New York zu erkaufen, in jener letzten Minute, nachdem der heraufziehende Alptraum schon den Herzinfarkt des Bankiers herbeigeführt und Almas und Alberts Verdrängung durchstoßen hatte: Juden, keine Deutschen. Alma hatte alles verkaufen müssen, und vielleicht war es schieres Glück gewesen, dass sie wenigstens den Aschenbecher hatte behalten können.

Es war im »Salon« in den Knickerbockers gewesen, eigentlich dem einzigen öffentlichen Raum, wo sich Rose beim Teetrinken von Almas Verachtung hatte demütigen lassen, damit sie widerwillig der Eheschließung zustimmte. Albert war ja so ein Muttersöhnchen. Im selben Raum hatte Rose dann auch gelernt, bei ernsthaften kommunistischen Versammlungen die Stimme zu erheben, mit den Männern zu rauchen und zu diskutieren, während Alma, in ihrem Aristokratendeutsch abgeriegelt und unwillens oder außerstande, Englisch zu lernen, bei den Treffen ihrer Zelle erfreulicherweise auf die Rolle der Gastgeberin reduziert worden war. Und dort hatte im Frühjahr ’47 auch Roses erster Wohnzimmerprozess stattgefunden, der, der wichtig gewesen war und alles verändert hatte. Das Treffen, bei dem das unfähige Klatschmaul Albert mit dem klassischen Irrwitz, auf den sich die Partei so gut verstand, fälschlich der Spionage verdächtigt und dann zum Spion gemacht worden war. Der Prozess, in dem die Partei Alberts Flucht vor Familie, Frau und siebenjähriger Tochter Vorschub leistete.

Wo war Miriam? Nebenan. Die Tochter, die Albert zurückließ, war die ganze Zeit in Almas Schlafzimmer. Sie erduldete den Prozess, wie sie frühere Treffen erduldet hatte, und verschlang die aus ihrer Folie ausgewickelten Mozartkugeln, mit denen Alma die Enkeltochter immer versorgte, mit der sie zwar kein englisches Gespräch führen, die sie aber angurren konnte, was das Einzelkind immer deutlicher langweilte. Miriam saß inmitten der Folien, spielte leise mit ihrer Stoffpuppe, schmierte sie wahrscheinlich mit österreichischem Marzipan ein, und Gott allein wusste, wieviel oder wenig sie von dem verstand, was sie mit anhörte. Über den Ausschluss, der die Exilrichtung ihres Vaters umkehrte und ihn für immer aus New York und Amerika vertrieb.

27.02.2014, 02:57

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