Eine Art Freund

Leseprobe "Ihr Freund?, fragte er. Nein. Obwohl, dachte ich, in seltenen, flüchtigen Augenblicken waren wir sogar befreundet. Ich schluchzte noch einmal auf. Der Taxifahrer sah erschrocken zu mir hinüber."
Eine Art Freund

Foto: Keystone/Getty Images

Der 31. Oktober 2002 war ein kühler Tag. Es regnete ein wenig.

Julian Augstein rief an und sagte, seinem Vater gehe es sehr schlecht. Nachmittags zwischen vier und sechs Uhr könne ich ihn aber besuchen. Im Israelitischen Krankenhaus. Julians Stimme, die am Telefon sonst immer der kräftigen Stimme seines Vaters ähnelte, klang dieses Mal anders. Heiser und wehmütig.

Vor dem Haupteingang des Krankenhauses stand Rudolf Augsteins Auto mit geöffnetem Kofferraum. Sein Fahrer packte Taschen und Tüten hinein. Unschlüssig ging ich einen schmalen Waldweg hinter dem Krankenhaus entlang bis zu einer Baustelle. Ich erinnerte mich, dass Rudolf von seinem behandelnden Arzt einmal um eine größere Geldspende für eine neue Abteilung dieses Krankenhauses gebeten worden war. Rudolf hatte ihm gesagt, da sei er leider die falsche Adresse, da müsse der Professor Salomon Heine fragen. Der Professor habe seinen Witz nicht begriffen, hatte Rudolf gelacht, als er mir davon erzählte. Vielleicht kannte er die Geschichte seines eigenen Krankenhauses nicht: Der reiche Bankier Salomon Heine, Heinrich Heines berühmter Hamburger Onkel und Mäzen, hatte es im neunzehnten Jahrhundert zum Andenken an seine Ehefrau Betty gestiftet.

Mir war kalt.

Entschlossen kehrte ich um, ging in das Klinikgebäude hinein und suchte die Station, auf der Rudolf lag.

Als ich klingelte, fragte eine Schwester über die Sprechanlage, ja bitte, wer ist da?

Ich sagte meinen Namen. Es dauerte ein wenig, und die Tür wurde aufgedrückt. Anna Augstein stand vor mir. In ihrem halblangen dunklen Haar fielen mir einige graue Strähnen auf. Sie war sehr blass, fast wie damals vor zwanzig Jahren, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Was machst du hier?, fragte sie überrascht. Kann ich bitte Rudolf noch einmal sehen?, sagte ich. Plötzlich fühlte ich mich fehl am Platz. Wie eine störende Bittstellerin. Woher weißt du, dass Rudolf hier ist?, fragte Anna misstrauisch. Von Julian, antwortete ich etwas verunsichert. Er meinte, ich könne Rudolf um diese Zeit besuchen. Na gut, komm rein, sagte Anna freundlich. Sie wolle nicht, dass jemand erfährt, wo er ist. Wegen der Bild-Zeitung. Ich solle meine Jacke ausziehen und mir die Hände waschen. Sie holte einen Kittel aus dem Regal: Ziehst du den bitte an?

Ihre Fürsorglichkeit rechnete ich Anna hoch an. Das war ihre Stärke, dachte ich. Mir kamen die Tränen, weil ich aus dem Nebenzimmer Rudolfs immer wieder stockenden Atem hörte.

Er ist sehr schwach, sagte Anna leise. Als sie merkte, dass ich mir über das Gesicht wischte, sagte sie: Weine aber nicht.

Eine hübsche Schwester mit kurzgeschnittenem Haar kam mir aus Rudolfs Zimmer entgegen. Es kam mir vor, als ginge sie auf Zehenspitzen. Aber vielleicht tat ich das selbst auch.

Rudolfs abgedunkeltes Krankenzimmer war wie eine warme Höhle.

Anna nahm Rudolfs Hand, beugte sich über ihn und sagte: Wir haben Besuch, mein Liebling. Dann sagte sie meinen Vornamen und winkte mich zu sich.

Ich ging dorthin, wo Anna gestanden hatte, und nahm vorsichtig Rudolfs Hand. Es schien, als wolle er sich aufrichten. Eigentlich sah er aus wie immer. Nur die Haut spannte sich fast durchsichtig über die Wangenknochen. Er lag auf der Seite. Seine Augen waren geschlossen.

Rudolfs Atem rasselte wieder, und ich hörte meinen Namen.

Wenn ihm früher jemand eine solche Situation geschildert hatte, dann sagte Rudolf sofort: Das bilden sich die Leute doch alles nur ein. Einer, der stirbt, der reagiert nicht mehr.

Damals war ich auch dieser Meinung gewesen, obwohl ich vom Sterben keine Ahnung hatte. Rudolfs Atem stockte hin und wieder. Ich strich ihm vorsichtig über den Kopf. Ich hörte wieder meinen Namen. Anna war hinausgegangen. Ich setzte mich auf einen Stuhl neben Rudolfs Bett. Irgendwann sagte ich: Es war doch alles so schön.

Rudolf hat wirklich recht, dachte ich. In so einer Situation bildet man sich wirklich manches ein. Wäre er gesünder gewesen, hätte ich ganz sicher nichts dergleichen gedacht. Rudolf versuchte zu husten. Diese Laute waren mir vertraut.

Ich war froh, dass Anna mich mit ihm allein ließ, und wischte meine nassen Hände an Rudolfs Bettdecke ab. Leise sagte ich immer wieder dasselbe: Dass alles in Ordnung sei und dass nichts Schlimmes passieren könne. Dabei dachte ich, was rede ich da eigentlich, wo Rudolf doch gerade das Schlimmste passiert.

Am liebsten hätte ich ihm jetzt erzählt, es sei alles wie immer: Überall ist es hektisch, und alle sind schlecht drauf. Weil es ihm ja immer gut gefiel, wenn alle Welt schlechte Laune und sich in der Wolle hatte. Stattdessen fiel mir nur ein: Alle sind zufrieden mit dir. Du hast alles gut gemacht.

Dieses Harmoniegesäusel macht ihn bestimmt ganz nervös, dachte ich. Und jetzt kann er dich deswegen noch nicht einmal anpfeifen. Er kann sich gegen nichts und niemanden mehr wehren. Also sagte ich nichts mehr und wischte mit dem Handrücken in meinem nassen Gesicht herum.

Anna kam zurück ins Zimmer. Ich bat sie um ein Taschentuch. Anna ging an den Nachttisch neben Rudolfs Bett und brachte mir ein weißes Taschentuch. Mir fiel auf, dass sie jetzt sehr müde und auch sehr traurig aussah. Ich war froh, dass ich meine nassen Finger trocknen konnte.

Anna ging jetzt ein bisschen im Zimmer hin und her. Sie will sicher, dass ich wieder gehe, dachte ich. Eigentlich habe ich bei Rudolf ja auch nichts mehr zu suchen. Ich stand auf und blieb unschlüssig an seinem Bett stehen. Rudolf fing wieder an zu husten. Ich nahm seine Hand. Sie war federleicht und warm.

Anna stand plötzlich neben mir.

Er ist ja gut versorgt, nicht wahr?, fragte ich, obwohl es die überflüssigste Frage überhaupt war.

Ich stand neben Rudolfs Krankenbett, als klebte ich am Boden fest.

Natürlich, antwortete Anna. Am Wochenende kommt er nach Hause. Er will es so.

Ich riss mich los.

Anna ging zurück zu Rudolfs Bett. Sie nahm seine schmal gewordene Hand und rückte den etwas locker sitzenden Ehering sorgfältig an seinen Platz.

Zögernd stand ich im Türrahmen und sagte, vielleicht komme ich noch einmal, wenn ich kann. Wahrscheinlich aber habe ich gar keine Zeit. Meine Mutter ist krank, murmelte ich verlegen.

Wie schön wäre es jetzt, dachte ich gleichzeitig, wenn Rudolf mich anblaffte: Wer ist schon wieder krank? Deine Mutter? Soll ich ihr meinen Arzt schicken?

Schnell ging ich hinaus. Ich warf den Kittel in den Wäschesack vor dem Krankenzimmer und steckte das nasse Taschentuch in die Jackentasche.

Auf dem Flur holte ich das Taschentuch wieder heraus und sah, dass es eines der feinen weißen Damasttücher war, die Rudolf immer aufgefaltet über sein Gesicht gelegt und dann hineingeschnäuzt hatte. Genau in die Mitte und genau einmal. Es hörte sich an, als trompete ein Elefant. Danach hatte er das Taschentuch zerknüllt und irgendwohin geschmissen. Und irgendwer hatte es weggeräumt.

Zum ersten Mal freute ich mich über eines seiner Taschentücher. Ich dachte, Rudolf hätte jetzt gesagt, du bist wirklich völlig verrückt geworden. Er hätte sich geschüttelt und gekichert und die Geschichte sofort seinem Fahrer und seiner Haushälterin erzählt. Was ich mir alles so einbildete, wenn einer stirbt. Und überhaupt: Wie ich mich wieder einmal benähme!

Ich irrte über den Krankenhausflur und suchte den Aufzug. Erleichtert, dass niemand mitfuhr.

Vor dem Krankenhaus rief ich ein Taxi. Es war ein kleiner Bus. Ich stieg auf den Sitz neben dem Fahrer. Als er langsam losfuhr, fing ich an zu schluchzen, weil das mit Rudolf und dem großen Uhrmacher, von dem er so oft gesprochen hatte, jetzt beschlossene Sache war.

Was Schlimmes passiert?, fragte der Taxifahrer verdutzt. Nein, etwas Normales. Ach so. Jemand krank. Ich schluchzte wieder. Dieses Mal etwas lauter. Schlimm krank, stellte der Taxifahrer fest.

Nein, sagte ich. Es ist nur so, dass ich jemanden nie mehr wiedersehe.

Ihr Freund?, fragte er. Nein. Obwohl, dachte ich, in seltenen, flüchtigen Augenblicken waren wir sogar befreundet. Ich schluchzte noch einmal auf. Der Taxifahrer sah erschrocken zu mir hinüber. Er wollte nun doch genauer wissen, was los sei.

Er fing an zu raten: Schlimmer Unfall? Mit Kind oder so was? Nein, nein. Wirklich etwas Normales. Etwas ganz Normales.

11.02.2016, 13:33

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