Zeit und Wandel

Leseprobe "Das vorliegende Buch versucht Einblicke in die schmerzlichen und beunruhigenden Herausforderungen zu vermitteln, mit denen Europa heute konfrontiert ist, und die wichtigsten Ursachen zu benennen."
Foto: Dan Kitwood/Getty Images
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Einleitung

Das Jahr 2016 wurde in den Hauptstädten Europas als »annus horribilis« für den Kontinent bezeichnet. Eine Welle von Flüchtlingen des syrischen Bürgerkrieges drohte den Kontinent zu überfluten. Eine Folge von Terroranschlägen militanter junger Muslime, die dem sogenannten Islamischen Staat Treue schwören, führten zu massiven Sicherheitsvorkehrungen. Russland unternahm mehrere aggressive Aktionen gegen den Westen, indem es seine militärische Präsenz im mittleren Osten ausweitete und das Assad-Regime durch heftige Bombenangriffe unterstützte, verstärkt Vorbereitungen für einen möglichen Konflikt mit den baltischen Staaten traf und ein Sperrfeuer von Cyberattacken begann, das den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf störte.

Eine wirtschaftliche Rezession mit miserablen Wachstumsraten und Arbeitsplatzverlusten, unter der ein Großteil Europas litt, ging nunmehr in ihr sechstes Jahr. Im Juni schockierte Großbritannien seine europäischen Partner mit der Entscheidung, die europäische Gemeinschaft nach 43 Jahren verlassen zu wollen. Und im November alarmierte die Wahl von Donald Trump zum 45. amerikanischen Präsidenten die europäischen Verbündeten, die fürchteten, er würde vielleicht amerikanische Sicherheitsgarantien nicht einhalten und dem Rechtspopulismus in ihren Ländern Auftrieb geben.

Die Aussicht noch größerer Instabilität taucht am Horizont auf. Wähler und Wählerinnen in den Niederlanden machen sich darauf gefasst, dass Geert Wilders, der Vorsitzende der fremdenfeindlichen, rechtsextremen Partei der Freiheit, möglicherweise der nächste Premierminister des Landes werden könnte. Italien könnten vorgezogene Neuwahlen bevorstehen, die vielleicht die anarchistische 5-Sterne-Bewegung an die Macht bringen, die die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen des Landes zerstören will. In Frankreich rückte der rechtsgerichtete Front Nationale unter der Führung Marine Le Pens, einer der populärsten Rechtspopulisten Europas, seinem Ziel näher, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen und sein radikales Gesetzesprogramm gegen Einwanderung und einer antieuropäischen Politik umzusetzen.

Nur ein Vierteljahrhundert nachdem die liberale internationale Ordnung freier Märkte, freier Meinung und demokratischer Wahlen die Kräfte des Kommunismus besiegt hatte, drohen die westlichen Demokratien jetzt zusammenzubrechen, denn als Gegenreaktion auf die Globalisierung treten erbitterte Gegner von Einwanderung, freiem Handel und interkultureller Toleranz auf. Wie in den Dreißigerjahren schwächelt der weltweite wirtschaftliche Handels- und Investitionsfluss und politische Demagogie nimmt zu. Da Einkommensunterschiede stärker denn je Arm und Reich spalten, werden Demokratien anfällig für fremdenfeindliche und autokratische Tendenzen unter Wortführern, die die nationale Karte spielen.

Die Idee zu diesem Buches erwuchs aus meinen Erfahrungen als Journalist in der aufregenden Zeit, als die Kräfte der Freiheit in einer, wie es schien, entscheidenden Schlacht zwischen Gut und Böse den Totalitarismus überwunden hatten. Als Tausende von Ostdeutschen, darunter die zukünftige Kanzlerin Angela Merkel, vor einer Generation über die bröckelnde Berliner Mauer strömten, um zum ersten Mal die frische Luft der Freiheit im Westen zu atmen, war ich beeindruckt von ihren fassungslosen Gesichtern, als sie staunend durch die glitzernde Konsumwelt des Kurfürstendamms gingen.

An jenem schicksalhaften Tag im November 1989 war ich gerade nach einem langen Flug von Thailand in Berlin gelandet. Als Auslandsredakteur der Washington Post war ich in Asien unterwegs gewesen. Es war bezeichnend für die schonungslose Art meines Chefs, des legendären Chefredakteurs Ben Bradlee, mich nachts um drei in meinem Bangkoker Hotel anzurufen. »Sie reißen die Mauer ein«, sagte Bradley mit seiner Reibeisenstimme. »Beweg deinen Arsch nach Berlin!«Als ich schließlich in Berlin ankam und die Massen von Tagesausflüglern aus dem kommunistischen Osten über die Berliner Grenze spazieren sah, wusste ich von früheren Begegnungen, wohin ihre materialistische Neugierde sie führen würde: zum mondänen Kaufhaus KaDeWe.

Als ich sie durch die Gänge des Kaufhauses bummeln sah, an denen sich Delikatessen bis zur Decke türmten, verwandelte sich ihr Staunen in Wut und Frustration. Sie beschimpften ihre kommunistischen Machthaber als Lügner, die sie mit der Lüge gefangen gehalten hatten, dass der westliche Überfluss ein Mythos sei. Als sie über die verminte Pufferzone, vorbei an Panzersperren und Betonmauern, die Ost- und Westberlin trennten, zu ihren trostlosen Wohnungen zurücktrotteten, war ich überzeugt, dass an diesem Tag sowohl der Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus als auch der Sieg von freier Marktwirtschaft und Demokratie besiegelt waren. Innerhalb von Monaten entwarf Kanzler Kohl eine Roadmap für die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Bald stürzten weitere kommunistische Regime, weil demokratische Bewegungen von Prag bis Moskau sie kippten. Der Kalte Krieg war beendet, ohne dass ein einziger Schuss abgegeben worden war, und das westliche Modell demokratischer Wahlen, freier Meinungsäußerung und offener Märkte wurde als Vorbild für den Rest der Welt gepriesen, das ein neues Zeitalter der Aufklärung einleiten sollte.

Das hochgesteckte Ziel eines »vereinten und freien« Europas schien schließlich zum Greifen nahe. Die beiden wichtigsten Institutionen des Westens, die NATO und die Europäische Union, traten in eine Phase der Erweiterung, um die neuen Demokratien in Zentral- und Osteuropa einzubeziehen. Abgesehen von der Aufnahme ehemaliger kommunistischer Staaten in die westlichen Organisationen bestanden Kanzler Kohl und Frankreichs Präsident François Mitterand darauf, dass es für den Aufbau Vereinigter Staaten von Europa weiterer Maßnahmen bedurfte, um die Integration zu fördern und die Europäer näher zusammenzubringen. 1992 setzten sie den Maastricht Vertrag durch, der auf eine einzige europäische Währung, den Euro, hinauslaufen würde, sodass die Menschen ihre Lire, Francs und Deutsche Mark nicht tauschen müssten, wenn sie in andere Länder reisten. Drei Jahre später einigten sich die europäischen Regierungschefs durch die Unterzeichnung des Schengener Abkommens darauf, die europäischen Grenzkontrollen abzuschaffen, sodass Reisende sich frei in einem grenzfreien Kontinent bewegen können.

Diese drei Initiativen – die Erweiterung von NATO und Europäischer Union in Richtung Russland, die Schaffung einer europäischen Währung und das passfreie Reisen innerhalb Europas – sollten die Grundlagen für einen großen Sprung vorwärts in Richtung des Ziels eines vereinten, prosperierenden und friedlichen Europas sein, das Jean Monnet, Robert Schumann und andere Visionäre in den Ruinen, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, vorschwebte. In der aufregenden Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch des Kommunismus vor einem Vierteljahrhundert gab es fast unbegrenzte Unterstützung für solche Maßnahmen, denn der Einsatz für ein vereintes Europa schien unaufhaltsam an Schwung zu gewinnen. Ja, die Grundsätze westlicher Demokratien – einschließlich freier Wahlen, freier Meinungsäußerung und freier Marktwirtschaft – schienen die Herzen und Köpfe von Menschen auf der ganzen Welt gewonnen zu haben, in einem Maße, dass Francis Fukuyama in seinem Buch "Das Ende der Geschichte" die These wagte, dass die großen ideologischen Kämpfe der Vergangenheit überwunden seien, da die ganze Welt inzwischen von den westlichen Werten überzeugt sei.

Die Aussicht, Jahrhunderte des Nationalismus, Blutvergießens und der Zerstörung hinter sich zu lassen, − zugunsten eines zusammenhängenden Kontinents, geprägt vom postmodernen Ethos, aus dem Gedanken an Krieg zwischen Nationalstaaten für immer verbannt sind −, schien für Europa ein neues goldenes Zeitalter zu versprechen. In den Augen der Welt wäre Europa Vorbild für das edle Experiment, nationale Souveränität mit neuen, effektiven Formen übernationaler Regierung zu verbinden. Andere Kontinente, darunter Afrika, Südamerika und Teile von Asien begännen darüber nachzudenken, ob sich ihre Staaten zu regionalen Handelsblöcken zusammenschließen und irgendwann Europas Beispiel folgen und eine dauerhafte enge poltische und wirtschaftliche Union anstreben sollten. Es schien fast unvermeidlich, dass ein vereintes Europa sich zur nächsten globalen Supermacht entwickeln würde. Eine, die ihren Einfluss als größter Handelsblock und wohlhabendster Markt der Welt geltend machen könnte und dabei von neuen Mächten wie China und Indien beneidet würde.

Das europäische Projekt schien jedoch auf dem Weg zum kantischen Paradies zu entgleisen. Der großartige Plan, eine Verfassung zu entwerfen, die die westlichen demokratischen Werte für den ganzen Kontinent festschrieb, blieb in gegenseitigem Streit und verfahrener Bürokratie stecken. Nach Jahren mühsamer Verhandlungen wurde das Projekt 2006 verworfen, nachdem es in Referenden in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt worden war. Bald danach führten die drei großen Initiativen, die Europa eigentlich näher zusammenbringen sollten, zu tiefen Spaltungen des Kontinents. Heute hat sich der Traum europäischer Einheit verflüchtigt und die zukünftige Stabilität des Kontinents ist von Unsicherheit überschattet.

Einige der größten Errungenschaften Europas sind in Gefahr. Die Osterweiterung 2004, bei der ehemals kommunistische Staaten in die NATO und die Europäische Union aufgenommen wurden, hat die Feindschaft eines revanchistischen, aggressiven Russlands ausgelöst. Moskau befürchtet, dass der Westen es darauf anlegt, sein Land einzukreisen, und seinen Anspruch, die Stellung einer Supermacht zurückzuerlangen, zu dämpfen. Russlands Besetzung der Krim und seine Unterstützung separatistischer Rebellen in der Ostukraine hat den Westen zu wirtschaftlichen Sanktionen veranlasst. Es hat auch Deutschlands strategisches Ziel einer Verflechtung mit Moskau in Energie und Wirtschaft, was als Säule für die Sicherheit Europas nach dem Kalten Krieg betrachtet wurde, infrage gestellt.

Die europäische Gemeinschaftswährung, der Euro, ist in die Kritik geraten wegen der strengen Sparpolitik, die die enormen Schulden Griechenlands, Spaniens, Portugals und Italiens, zum Großteil bei Deutschland und anderen nordeuropäischen Gläubigern, reduzieren soll. Obwohl die Finanzkrise Anfang 2015, die Griechenland beinahe zwang, die aus neunzehn Staaten bestehende Eurozone zu verlassen, sich beruhigt hat, befürchten Experten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das Nord-Süd-Gefälle in der Eurozone zu einer weiteren existenziellen Krise der gesamten Union führen wird. Es könnte sich zeigen, dass es ohne weitere Schritte zur Integration, wie z.B. eine gemeinsame Steuer- und Bankenpolitik, äußerst schwierig ist, mit neunzehn verschiedenen nationalen Wirtschaften eine einheitliche Währungspolitik zu organisieren. Geschweige denn, diese langfristig aufrechterhalten zu können.

Die durch das Schengener Abkommen zugesicherten offenen Grenzen, die jetzt 26 Länder verbinden, sind heute durch Stacheldrahtzäune gesichert, die in Ungarn und anderswo errichtet wurden, um den Strom der Flüchtlinge aus Syrien und Libyen aufzuhalten. Was als Verwirklichung europäischer Ideale gedacht war und Alltag der Menschen auf dem ganzen Kontinent werden sollte, wurde zum erschreckenden Symbol nationalistischer Rivalität, geschürt von Ängsten vor den Folgen der Flüchtlingskrise. Fast eine Million Flüchtlinge – viermal so viele wie im Jahr zuvor – strömten 2015 nach Deutschland, Schutz suchend vor Krieg und Armut in Afrika und dem Mittleren Osten.

Obwohl Kanzlerin Merkel weiterhin ihre Politik der offenen Tür als notwendig verteidigt, um die europäischen Vorstellungen von Menschenrechten zu wahren, hat ihre Popularität im Inland stark gelitten. Trotzdem ist sie nach wie vor die geachteste Regierungschefin Europas, und Freunde und Verbündete, darunter Präsident Barack Obama, überredeten sie, bei den Wahlen 2017 für eine vierte Amtszeit als deutsche Kanzlerin zu kandidieren. Die Flüchtlingskrise wird Merkel, Deutschland und Europa jedoch die kommenden Jahre weiter verfolgen. Als am Silvesterabend 2016 am Hauptbahnhof in Köln Dutzende Asylbewerber festgenommen wurden, weil sie junge Frauen belästigt und beraubt hatten, schlug die Stimmung im Land um und richtete sich gegen die unkontrollierte Einwanderung, sodass sich Kanzlerin Merkel veranlasst sah, Grenzkontrollen zu akzeptieren. Das Abkommen über passfreies Reisen in Europa, das einst begrüßt worden war, schien damit tot.

Diese Ballung von Problemen – die neuerliche Aggression Russlands, der griechische Schuldenvergleich, eine massive Flüchtlingskrise und die Aussicht, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen könnte – ist durch eine Welle terroristischer Anschläge verschärft worden, sodass sich eine Stimmung der Angst auf dem Kontinent ausgebreitet hat. Eine Serie von Massakern von Sympathisanten des sogenannten Islamischen Staates hat in Frankreich über hundert Menschen getötet. Ein Anschlag mit Kofferbomben auf dem Brüsseler Flughafen hat mehr als zwei Dutzend Opfer gefordert. Als ein tunesischer Migrant im Dezember 2016 mit einem Lastwagen durch den Berliner Weihnachtsmarkt gepflügt ist, wirkten die Maßnahmen, die Merkel und andere europäische Regierungschefs unternahmen, um ihre Bürger zu schützen, hilflos.

Die zunehmende Atmosphäre der Unsicherheit hat das Vertrauen der Wähler in etablierte Regierungen untergraben und der fremdenfeindlichen Agenda rechtspopulistischer Parteien in Frankreich, Ungarn, in den Niederlanden und Polen in die Hände gespielt. Zudem hat es Misstrauen zwischen Christen und Muslimen gesät, insbesondere beider zweiten und dritten Generation arabischer Migranten aus Nordafrika, die nach Europa kamen, um vorübergehend dort zu arbeiten, und dann länger blieben, als man vorausgesehen hat.

Die schwindende Attraktivität eines vereinten Europas hat viel mit einer stagnierenden Wirtschaft und der Desillusionierung junger Menschen zu tun. Wirtschaftliche Sorgen werden durch Ängste vor den Auswirkungen billiger Arbeitsmigranten verstärkt, selbst aus anderen EU-Mitgliedsstaaten, wie sich an Großbritanniens Entschlossenheit zeigt hat, polnischen Arbeitsmigranten gerechte Löhne und den Zugang zu Sozialleistungen zu verwehren. Die Bedrohung durch Einwanderung mobilisierte eine Mehrheit britischer Wähler, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union aufzugeben und sich auf ihren Inselstaat zurückzuziehen. Insbesondere unter jungen Menschen, die in der Vergangenheit ein grenzenloses Europa begeistert angenommen haben, gibt es eine wachsende Unzufriedenheit mit Europa. Die Generation Y hielt sich für die »Easy-Jet«-Generation, die gerne am Wochenende bei Freunden in fremden Städten pennte, im Ausland lebte, an fremden Universitäten studierte und sich in mehreren Sprachen verständigen konnte. Jetzt zwingt die Schwierigkeit, Jobs zu finden, von denen man leben kann, junge Europäer dazu, Heirat und Kinder aufzuschieben, sie verlieren das Vertrauen in Europa, wo sie Gefahr laufen eine »verlorene Generation« zu werden, ohne Berufsaussichten oder Aussicht auf eine Familie, selbst im mittleren Alter.

Die Finanzkrise 2008 forderte einen hohen Tribut an öffentlicher Unterstützung für Europa, denn die Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen stieg in Spanien und anderen Regionen der Mittelmeeranrainerstaaten auf 50 Prozent. Die Attraktivität von Euroskeptizismus und fremdenfeindlichen Parteien in Europa nahm zu, da die etablierten Politiker keine wirksamen Mittel gegen die Krise am Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Stagnation fanden. Da es nicht gelungen ist, fremde junge Muslime zu integrieren, viele von ihnen als europäische Bürger in der zweiten und dritten Generation ohne Hoffnung in Vorstadtghettos leben, wurden einige dazu getrieben, sich dem radikalen Dschihadismus anzuschließen, wie die Attentäter der tödlichen Terroranschläge von Madrid, London, Brüssel Paris, Nizza und Berlin.

Der Traum von der Einheit Europas beginnt heute zu verblassen und die zukünftige Stabilität des Kontinents ist von Unsicherheit überschattet. Angesichts der Verschiedenheit von Kultur, Sprache und Geschichte der EU-Mitgliedstaaten war es vielleicht immer ein Wunschtraum zu glauben, dass ein so disparater Kontinent tatsächlich vereint werden könnte. Dennoch könnten viele der globalen Herausforderungen, denen sich Europa heute stellen muss, gelöst werden, wenn Ressourcen gebündelt und nationale Souveränität aufgegeben würden, was dem Kontinent schon früher ermöglicht hat, mit anderen Krisen der Neuzeit fertig zu werden.

Was die Vereinigten Staaten angeht, so bedeutet ein gespaltenes, geschwächtes Europa eine große Gefahr für ihre globale Führungsrolle. Das atlantische Bündnis ist seit dem Ende der Ära des Kalten Krieges lockerer geworden. Europa und den Vereinigten Staaten fehlt es an Zusammenhalt und einem gemeinsamen Zweck, der sie vor dem Zusammenbruch des Sowjetreiches verband. Viele Europäer hatten bereits schwerwiegende Bedenken, Amerika in die Kriege im Irak und Afghanistan zu folgen. Als Barack Obama zu Beginn seiner Präsidentschaft die Absicht erklärte, sich stärker Asien zuzuwenden, kam es den europäischen Regierungen vor, als würde er einer sieben Jahrzehnte währenden atlantischen Partnerschaft den Rücken kehren, und sie fühlten sich vernachlässigt, wenn nicht verlassen. Obwohl Obama während seiner achtjährigen Amtszeit in Europa beliebt blieb, konnte er bei einigen Verbündeten nicht den Verdacht ausräumen, dass seine häufigen Appelle, Europa müsse größere Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen, lediglich eine verschlüsselte Botschaft dafür waren, dass Amerika seine Beziehungen zur Alten Welt aufkündigen wolle. Obamas Passivität gegenüber dem syrischen Bürgerkrieg verstärkte diese Befürchtungen noch weiter, während Europa allein mit der drohenden Instabilität fertig werden musste, die der Flüchtlingsstrom aus dem Mittleren Osten und Nordafrika auslöste.

Donald Trumps Wahl hat in Europa noch ernstere Zweifel an der Verlässlichkeit amerikanischer Bündnistreue hervorgerufen. In hartem Bruch mit seinen zwölf Vorgängern hat Trump erklärt, dass die NATO vielleicht überholt sei und die Europäische Union mehr als wirtschaftliche Konkurrenz behandelt werden solle. Obwohl viel über die zunehmende Bedeutung Asiens gesprochen wird, hängen die Vereinigten Staaten immer noch stark von einer lebendigen Partnerschaft mit Europa ab, um ihre führende Rolle in der Welt zu behaupten. Selbst mit dem Aufstieg Chinas, Indiens und anderer neuer Mächte machen Handel und Investitionen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa noch für fast die Hälfte aller globalen wirtschaftlichen Aktivitäten aus. Gemeinsame demokratische Werte und militärische Beistandsverpflichtungen der NATO machen die atlantische Allianz noch immer zu einer der wichtigsten Grundlagen globaler Stabilität. Die Zerstörung, die zwei Weltkriege im vorigen Jahrhundert angerichtet haben, sollte eigentlich allen ausreichend Warnung vor den Konsequenzen eines zerfallenden Europas sein.

Das vorliegende Buch versucht die unzähligen Krisen zu zeigen, die ein gespaltenes Europa zu bewältigen hat. In Deutschland, dem mächtigsten und reichsten Land Europas, wo es noch immer viele Jobs gibt, wächst die Sorge, dass seine gerühmte Stabilität wegen des Zustroms von über einer Million Flüchtlinge, überwiegend aus Syrien, in Gefahr gerät. In Frankreich hat die Ausgrenzung von Europas größter muslimischer Bevölkerungsgruppe für die Zunahme eines radikalen Dschihadismus gesorgt, die etablierten politischen Parteien in Misskredit gebracht und Wähler dazu verleitet, sich dem rechtsextremen Front National zuzuwenden. In Großbritannien ist die Unzufriedenheit mit Europa so groß, dass das Land sich über seine wirtschaftlichen Interessen hinwegsetzte und für den Austritt aus der Europäischen Union stimmte. In Brüssel, der Hauptstadt Europas, wo die NATO und die Europäische Union ihren Hauptsitz haben, hat die schnelle Erweiterung beider Institutionen auf mehr als zwei Dutzend Mitglieder Verwirrung und Durcheinander hervorgerufen, was die Richtung der zukünftigen Politik angeht und die Frage, wie diese behäbigen übernationalen Bürokratien Entscheidungen vollziehen sollen, die europäische Regierungschefs getroffen haben. In Spanien hat eine langwierige wirtschaftliche Krise junge Menschen desillusioniert und das öffentliche Vertrauen in die Politiker der Mitte erschüttert. Spaniens Probleme werden verschärft durch die zunehmende Herausforderung regionaler Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien und dem Baskenland. In Italien zeichnet sich bereits Europas nächste ökonomische Krise ab, das Bankensystem steht am Rande des Kollapses. In Polen haben sich die Bürger einer strengen Rechten zugewandt und werden jetzt von einer populistischen, nationalistischen Partei regiert, die Europa verachtet, obwohl das Land in den letzten beiden Jahrzehnten enorm von der Mitgliedschaft in der EU profitiert hat. In Dänemark, das als glücklichstes Land der Welt gilt, herrscht Besorgnis über die Zukunft seines großzügigen Wohlfahrtsstaates und die Gefährdung seiner Küsten, da die Meeresspiegel mit dem Schmelzen des grönländischen Eisschildes steigen. In Litauen, wo die Hälfte der Hauptstadtbewohner Russen sind, hat Putins Schwur, sich für ihre Interessen einzusetzen, Ängste vor einer Invasion Moskaus geschürt. Und in Griechenland, wo jahrelange Sparmaßnahmen, auferlegt von ausländischen Geldgebern, die Wirtschaft ruiniert und ungeheure Not verursacht haben, überfordern Zehntausende syrischer Flüchtlinge, die nirgendwo sonst hingehen können, die Möglichkeiten des Landes, sich um sie zu kümmern.

Das vorliegende Buch versucht Einblicke in die schmerzlichen und beunruhigenden Herausforderungen zu vermitteln, mit denen Europa heute konfrontiert ist, und die wichtigsten Ursachen der politischen Turbulenzen, wirtschaftlichen Unsicherheit und sozialen Unruhe auf dem Kontinent zu benennen. Europas Fähigkeit, die zahlreichen gegenwärtigen Krisen zu bewältigen, wird einen enormen Einfluss auf die Vereinigten Staaten und den Rest der Welt haben. Die atlantische Allianz bleibt der Eckpfeiler amerikanischer Sicherheitsgarantien. Wie wir mit Russland, der Türkei, dem Iran, dem Großraum Mittlerer Osten und anderen Krisenherden auf der Welt umgehen, wird in hohem Maße von der Zusammenarbeit mit und der Unterstützung durch die europäischen Verbündeten abhängen. Tatsächlich könnte das Schicksal dieses stark gefährdeten, weil zerfallenden Kontinents über das zukünftige Überleben der westlichen Demokratie angesichts überwiegend autoritärer Regierungsformen auf der Welt entscheiden.

12.10.2017, 11:14

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