Im Wettstreit

Leseprobe "Nur unter den Umständen der deutschen Teilung und der besonderen Situation Berlins konnten sie sich so entwickeln. Beide Zoos waren Symbole ihrer Stadt und verkörperten das jeweilige System."
Im Wettstreit

Foto: Keystone/Hulton Archive/Getty Images

Prolog:
ÜBER TIERMENSCHEN

Großstädter im allgemeinen und Berliner im besonderen lieben Tiere mehr als ihresgleichen.
Wolfgang Gewalt, im Interview mit der Zeit, 1966

Es gibt diese Anekdote aus den späten Achtzigern, jener Zeit, als sich die Welt auf ein Leben am Abgrund eingerichtet hatte. Als die Berliner Mauer noch mindestens hundert Jahre vor sich zu haben schien und der Zoo im Westen sowie der Tierpark im Osten nicht nur die beliebtesten Freizeiteinrichtungen, sondern auch die Statussymbole zweier Systeme waren: Die Stadt ist seit fast 30 Jahren geteilt, nur die beiden Zoodirektoren sind vereint – in inniger Abneigung gegeneinander. Ob es nun ein Rempler oder nur ein angedeuteter Schubser war und wer von beiden angefangen hat, lässt sich nicht mehr sagen, auf jeden Fall ging es wie so oft darum, wer den größten hat – in diesem Fall Elefanten.

Schauplatz ist der Zoo, wo Direktor Heinz-Georg Klös vor kurzem erst das Gehege seiner Elefanten vergrößert und aus diesem Anlass gleich ein paar neue Tiere gekauft hat, die er nun präsentiert. Klös ist ein leidenschaftlicher Tiersammler und sein Zoo der artenreichste der Welt. Er legt viel Wert darauf, mehr Elefanten als sein Gegenüber im Osten zu haben. Denn in der Zoo-Welt sind Elefanten Prestigeobjekte. Und mehr davon zu besitzen bedeutet für Klös, »eine Schlacht gewonnen« zu haben. Damit ist er nicht allein. Bereits in den sechziger Jahren soll ihm West-Berlins damaliger Bürgermeister Willy Brandt über den Kopf seines Finanzsenators hinweg das nötige Geld für weitere Elefanten besorgt haben, nur um dem Ost-Berliner Tierpark und dessen Direktor die Stirn bieten zu können. Zumindest ist das die Erinnerung von Klös.

Die Höflichkeit gebietet es, dass Heinrich Dathe, der Direktor des Ost-Berliner Tierparks, ebenfalls eingeladen ist. Doch dessen Anwesenheit bringt Klös einen ganz eigennützigen Vorteil – so kann er sichergehen, dass Dathe auch sieht, wie sehr er übertrumpft worden ist. Immerhin kämpft dieser drüben schon seit mehr als zehn Jahren gegen die Mühlen der Mangelwirtschaft für ein neues Elefantenhaus.

Dathe hält nicht allzu viel von Klös – fachlich nicht und menschlich schon gar nicht. Und der um 16 Jahre Ältere lässt den Jüngeren das durchaus spüren, mal unbewusst, mal bewusst – etwa wenn er sich bei einem Treffen in seinem Tierpark einen Spaß daraus macht, zum Essen »Klößchen« aufzutischen.

Nun bemängelt Dathe, dass die neuen Elefanten »doch ein bisschen mickrig« aussähen. Das kann Klös wiederum nicht auf sich sitzen lassen, so ergibt ein Wort das andere, bis schließlich die beiden älteren kleinen Herren – beide kaum größer als 1,70 Meter – anfangen, sich zwischen den grauen Riesen zu schubsen.

Platzhirsche hinter Mauern

Im Rückblick stellt sich die Frage, was die beiden Direktoren mehr entzweit hat – ihre Ähnlichkeiten oder ihre Unterschiede? Beide kamen in den fünfziger Jahren in das geteilte Berlin. Heinrich Dathe 1954 aus Leipzig, um in der Hauptstadt der DDR den modernsten und größten Tierpark der Welt zu erschaffen. Klös folgte drei Jahre später aus Osnabrück, um im Westteil dem ältesten Zoo Deutschlands zu neuem Glanz zu verhelfen. Der Tierpark und der Zoo wurden ihre Lebensaufgaben, und schon bald entwickelte sich eine angestrengte Konkurrenz zwischen den beiden Tiergärtnern. Der langjährige Leiter des Berliner Aquariums und spätere Zoodirektor Jürgen Lange hat das Verhältnis zwischen ihnen einmal so beschrieben: »Wenn der eine einen Zwergesel kauft, dann kauft der andere einen Riesenesel.«

Dathe war eine Art Volkserzieher, ein kleiner untersetzter Mann mit rundlichem Kopf und Hornbrille, dem schon früh die Haare ausgegangen waren. Die Glatze versuchte er zu kaschieren, indem er die Strähnen, die ihm noch geblieben wa- ren, über die kahle Stelle oberhalb seiner Stirn kämmte. Seine sächsische Herkunft verbarg er gar nicht erst, wenn er von »Gagadus« und »Gamelen« sprach. Dathe war nicht nur in der Bevölkerung beliebt, sondern auch international hoch angesehen – wegen seiner Fachkenntnisse und weil er die zentrale Quarantänestation für Tiertransporte aus dem Ostblock ins westliche Europa besaß. Zudem gab er die Fachzeitschrift Der Zoologische Garten heraus. An ihm kam man kaum vorbei.

Auf Dathe gingen daher alle zu – alle wollten etwas von ihm. Auf der anderen Seite der Mauer leitete Klös zwar den reichsten und bedeutendsten Zoo der Bundesrepublik, der für seinen Tierbestand bewundert wurde. Aber der Persönlichkeit Dathes war er nicht gewachsen. Während Dathe scheinbar alles zuflog und leichtfiel, wirkte Klös stets bemüht und doch irgendwie gehemmt.

Klös versuchte dennoch, überall mitzumischen. Wenn er erfuhr, dass irgendeine neue Organisation gegründet werden sollte, begann er sich ins Spiel zu bringen.

Klös’ Nachteil war, dass er »nur« Tierarzt war – und die hatten es in der Welt der Zoodirektoren traditionell etwas schwerer als studierte Zoologen. Denn was heute nicht mehr unüblich ist, galt damals mitunter als ein gewisser Makel – auch in Dathes Augen. All das muss Klös noch mehr angestachelt haben. Andererseits war er ein glänzender Organisator und Manager, der Politikern und Wirtschaftsbossen das Geld förmlich aus der Tasche herausquatschen konnte. »Setz dich bei einem Festessen niemals neben Klös, sonst bist du ein Vermögen los«, hieß es damals in West-Berlin. Manch einer be- hauptete gar, Klös könne einem im Laufen die Socken ausziehen. So abgezockt war er, wenn es darum ging, Vorteile für seinen Zoo herauszuholen. Klös wollte die wirtschaftliche und politische Bedeutung seiner Einrichtung steigern und den Anschluss zur Bundesrepublik halten; so hatte er sich vorgenommen, dass jeder Bundespräsident mindestens einmal seinen Zoo besuchte. Er kriegte sie alle, selbst den Tiermuffel Gustav Heinemann. »Darauf kam es im Westen an«, sagt Lothar Dittrich, langjähriger Zoodirektor in Hannover und eng mit Heinrich Dathe befreundet. »Im Osten brauchte man das nicht so sehr.«

Für Dathe im Osten hingegen war es wichtig, Freiräume für sich und seinen Tierpark über die DDR hinaus zu schaffen. Da war es viel wert, wenn man mit den Männern im Rathaus und im Politbüro gut konnte – umso besser, wenn sie auch noch Tierfreunde waren wie Friedrich Ebert oder Günter Schabowski. »Dathe hätte nicht im Westen und Klös nicht im Osten funktioniert«, sagt Dittrich. »Sie waren zwei Platzhirsche – jeder für sich am richtigen Platz.« In der Welt des Anderen wären sie kläglich gescheitert.

Die Mauer war der Schutz zwischen ihren Revieren, in denen sie konkurrenzlos herrschten. Die Existenz des jeweils anderen Zoos war dabei die Daseinsberechtigung jedes einzelnen von ihnen. Nur unter den Umständen der deutschen Teilung und der besonderen Situation Berlins konnten sie sich so entwickeln und ihre Direktoren sich so entfalten. Beide Zoos waren Symbole ihrer Stadt und verkörperten das jeweilige System: Der »Zoo« war der Schatz der Insel West-Berlin, ein Arten-Sammelsurium, in dem an jeder Ecke die räumliche Enge der Mauerstadt spürbar wurde. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs war der »Tierpark« eine Idee von Großzügigkeit und Weite. Am Reißbrett geplant, aber nicht in einem Guss entstanden und nie vollendet. Die sozialistische Utopie als Provisorium.

Der politische und gesellschaftliche Einfluss, den die beiden Zoodirektoren in ihren Stadthälften besaßen, war wohl nur im geteilten Berlin des Kalten Krieges möglich, hing jedoch grundsätzlich mit der besonderen Beziehung der Berliner zu ihren Zoos zusammen. Denn die Berliner sind nicht tierlieb. Sie sind tierbesessen. In kaum einer Stadt haben es so viele Tiere zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gebracht wie hier. Egal, ob »Bobby«, der Gorilla, der Ende der zwanziger Jahre als Erster seiner Art in den Zoo kam, oder das Flusspferd »Knautschke«, das als eines von wenigen Tieren den Zweiten Weltkrieg überlebte. Oder »Knut«, der Eisbär, nach dessen Tod vor dem Haupteingang des Zoos beinah so viele Blumen, Beileidskarten und Plüschtiere lagen wie am Londoner Buckingham Palace nach dem Unfalltod von Prinzessin Diana.

Nach Ansicht der Historikerin Mieke Roscher, die an der Universität Kassel zu Mensch-Tier-Beziehungen forscht, hat »die Isolation Berlins dazu beigetragen, dass eigene kulturelle Merkmale besonders stark hervorgehoben wurden«. Zwar existieren international zahlreiche Zoos, in denen es ähnliche Tierpersönlichkeiten gibt, und meist sind es Innenstadtzoos. Aber im geteilten Berlin war dies besonders ausgeprägt, da hier die »Umgebenheit von Grenze überall spürbar war«, sagt Roscher. »Sowohl West- als auch Ost-Berlin waren in gewisser Weise selbst zwei Zoos.« Tiergärten waren – damals noch mehr als heute – Rückzugsorte, an denen den Besuchern ein Stück heile Welt geboten wurde. Doch innerhalb dieser vermeintlichen Paradiese herrschten starre Hierarchien. Und jene, die sie von innen kannten, sagen, dass es in einem Rathaus, Gericht oder Krankenhaus nicht strenger zugehe.

Der Zoo als politischer Ort

Obwohl Dathe und Klös das Spiel mit den großen Tieren in ihren Systemen jeweils bestens beherrschten, waren beide in gewisser Weise politisch naiv: So glaubte Dathe noch bis zum Ende der DDR, nie von der Stasi beobachtet worden zu sein. Und Klös hatte sich ähnlich unbedarft gezeigt, als er in den siebziger Jahren seinen Vorgänger Lutz Heck, einen alten Nazi und Duzfreund Hermann Görings, als Ehrenmitglied des deutschen Zooverbands vorschlug.

Politik interessierte sie dann, wenn sie für ihre Tiere relevant war. Dathe und Klös waren »Tiermenschen« – eine Beschreibung, die unter Zoo- und auch Zirkusleuten oft gewählt wird, wenn man ausdrücken will, dass jemand besser mit Tieren als mit Menschen umgehen kann.

Für Klös wie für Dathe galt: Zuerst kommt der Zoo, danach alles Andere, auch die eigene Familie. Genau genommen war der Zoo die Familie. Frau und Kinder waren nur ein Anhängsel. Es war eine Zeit, in der Zoodirektor nicht nur ein Beruf war, den man morgens beginnt und abends beendet, sondern eine Lebensaufgabe. Weder Klös noch Dathe kannten so etwas wie Feierabend. Nur Platz für wilde Tiere.

30.03.2017, 10:01

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