Alte Ängste

Leseprobe "Die Germanophobie, die neuerdings wieder aufflammt, geht mit der Dämonisierung der Deutschen einher und lässt auch alte Stereotype und böswillige Vorurteile wieder aufkeimen."
Alte Ängste

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Einführung

Zwanzig Jahre später

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Friedrich Hölderlin, Patmos, 1808

Angesichts der schwersten Krise, in der sich das kosmopolitische Projekt Europäische Union je befand, habe ich beschlossen, mich nach 20 Jahren noch einmal dem Thema der Beziehungen von Deutschland zu Europa zu widmen. Denn ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer und der wiedererreichten nationalen Einheit sitzt Deutschland, das sich endlich im Frieden mit sich und der Welt wähnte, erneut auf der Anklagebank und sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, den Europäern sein Wirtschaftskonzept und sein Gesellschaftsmodell aufzwingen zu wollen. Parteiführer des linken wie des rechten Spektrums, progressive gleichermaßen wie konservative Kommentatoren – sie alle blicken erneut, vereint in einem überraschenden antiteutonischen Bündnis, mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Neid auf Deutschland: feindselig, weil sie vieles als inakzeptable Einmischung, wenn nicht gar als eisernes Diktat wahrnehmen; neidisch angesichts der Erfolge einer Wirtschaft, die sich unerwartet gegenläufig zu den katastrophischen Entwicklungen, wie sie im Mittelmeerraum zu beobachten sind, präsentiert. Grundlage des heute in Europa verbreiteten Ressentiments gegenüber den Deutschen ist also nicht mehr (nur) die historische, aus der Vergangenheit erwachsene Schuld, vielmehr sind es die Entscheidungen der Gegenwart: Deutschland, seiner Stärke bewusst, fordere – so der allgemeine Tenor –, seine zur Obsession gewordenen Vorstellungen von Haushaltsdisziplin und Währungsstabilität in der materiellen Verfassung Europas zu verankern, und nehme dabei eine Bedrohung der wirtschaftlichen Stabilität einzelner Länder, ja sogar der sozialen Errungenschaften und des demokratischen Systems, billigend in Kauf.

Die Germanophobie, die neuerdings wieder aufflammt, geht mit der Dämonisierung der Deutschen einher und lässt auch alte Stereotype und böswillige Vorurteile wieder aufkeimen. Deutschland habe, so argwöhnen viele, versucht in der Vergangenheit seine Herrschaft über Europa mit Panzern durchzusetzen und verfolge heute das gleiche Ziel mithilfe des Euro, obwohl dieser doch eine Gemeinschaftswährung sein sollte. Unfassbare Parolen sind zu vernehmen, in denen von der Gefahr einer möglichen »Germanisierung« Europas die Rede ist. Sie erinnern an Äußerungen einiger französischer Philosophen, die sich zu intellektuellen Wortführern jener Bewegung aufschwangen, die 1977 im Namen der Autonomia Operaia (»Arbeiterautonomie«) halb Italien unter Beschuss nahm. Zugleich wirft man Deutschland mangelndes Engagement für Europa vor, ja sogar insgeheim einen Alleingang anzustreben und Europa dabei hinter sich zu lassen. Kurzum, viele Menschen in Europa wissen nicht recht, was sie mehr fürchten sollen: von Deutschland im Stich gelassen oder von Deutschland dominiert zu werden.

Das geopolitische Trauma des Falls der Berliner Mauer und die »unerhörte Begebenheit« (Wolf Lepenies) der deutschen Wiedervereinigung haben Anfang der neunziger Jahre eine Frage aufgeworfen, die Europa und die Deutschen selbst – in Ost und West gleichermaßen – vollkommen verdrängt hatten oder für endgültig gelöst hielten: die deutsche Frage. Bald kamen alte Vorurteile, Ressentiments und historisch bedingte Ängste zum Vorschein. Sogar das Schreckgespenst eines drohenden Vierten Reichs wurde beschworen.

Auf beiden Seiten des Atlantiks suchten nun Historiker und Politologen in einer mehr ängstlichen denn wissbegierigen Haltung nach Antworten auf die beunruhigende Frage: »Was für eine Macht wird Deutschland sein?« Wird der neue deutsche Nationalstaat den demokratischen und friedlichen Weg fortsetzen, den die Bonner Republik fast ein halbes Jahrhundert lang beschritten hatte? Oder würde die neue Berliner Republik erneut zur Beute jener »Verirrungen und Unruhen« werden, die Deutschland nach Bismarck in den »fatalen geistigen Zwiespalt« mit Europa (Benedetto Croce) gedrängt hatten und in der Katastrophe von 1945 endeten?

Danach aber drehte der Wind. Die Situation wurde mit Sicherheit dadurch entschärft, dass Deutschland seine Souveränität als Nationalstaat nicht »mit Blut und Eisen«, sondern friedlich und demokratisch wiedererlangt hatte – und, was noch wichtiger war, im Konsens mit allen benachbarten Nationen, insbesondere mit Polen sowie (wenn auch nicht ohne starke Vorbehalte) mit den europäischen Bündnispartnern Frankreich, Großbritannien und Italien. Es begann sich sogar eine Überzeugung durchzusetzen, die am Abend und in der Nacht des 9. November 1989 einer Provokation gleichgekommen wäre: Europa könnte sich möglicherweise nur durch die deutsche Wiedervereinigung aus der demütigenden Lage befreien, in die es sich im Zweiten Weltkrieg hineinmanövriert hatte – nämlich als Geisel der Supermächte ein halbes Jahrhundert lang »unter den Augen von Russen und Amerikanern« leben zu müssen.

So paradox es klingt, ausgerechnet Deutschland, in dessen Geschichte das »Zeitalter der Extreme« seinen Ursprung hatte, sollte nun den Europäern das Recht zurückgeben, iuxta propria principia zu handeln – ein Recht, das sie durch ebendiese Nation eingebüßt hatten. Und nicht nur dies: Dank der Befreiung der Länder des Ostblocks aus der babylonischen Gefangenschaft, in die sie, ihrerseits unschuldig, durch die Beschlüsse der Konferenz von Jalta geraten waren, konnte sich endlich ganz Europa dem Aufbau seiner politischen Einheit widmen. Zweifel gab es zwar weiterhin, aber diese gingen in eine andere Richtung. Denn nun war nicht mehr die Stärke Deutschlands der Grund für den Argwohn und die Vorbehalte ihm gegenüber – wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, sondern eher seine offensichtliche Fragilität und politische Schwäche: also weniger der alte »Wille zur Macht« als vielmehr eine unheilvolle Machtlosigkeit, gepaart mit einem sakrosankten, historisch bedingten Schuldgefühl. Gewiss, die Bedenken hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Wiedervereinigung waren legitim und verständlich, handelte es sich doch um ein historisch einzigartiges und politisch überaus ehrgeiziges Experiment.

Sollte es also doch möglich sein, jenen großen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, indem man, in den Worten Willy Brandts, »zusammenwachsen« ließ, »was zusammengehört«, und dabei die Regionen der ehemaligen DDR in »blühende Landschaften« verwandelte, wie es Helmut Kohl den Bürgern der neuen Bundesländer versprochen hatte? Oder würde sich die alte geopolitische Grenze, die sich im Herzen Deutschlands und Europas zwischen westlicher Welt und »real existierendem Sozialismus« herausgebildet hatte, nun in eine neue, soziale Mauer verwandeln und die Regionen des Ostens dazu verdammen, ein deutscher »Mezzogiorno ohne Mafia« zu werden, wie Helmut Schmidt ebenso hart wie provokant prognostizierte?

Nach und nach jedoch wichen Argwohn und Vorbehalte einem konstruktiven Dialog zwischen den Europäern, und der Einigungsprozess des alten Kontinents setzte sich in östlicher wie in südlicher Richtung fort. Trotz der dramatischen Unsicherheiten, die das Blutvergießen auf dem Balkan und die neuen geopolitischen Herausforderungen mit sich brachten, waren die Europäer in der Lage, die deutsche Wiedervereinigung zu bewältigen. Und den Deutschen gelang es in einem überraschend kurzen Zeitraum und allen Katastrophenvorhersagen zum Trotz, die soziale und wirtschaftliche Vereinigung des Landes in die Tat umzusetzen. Gewiss, zwischen ›Wessis‹ und ›Ossis‹ blieben Ressentiments bestehen, die von der Vergangenheit herrührten. Mit der Zeit jedoch stellte sich heraus, dass sie weit weniger explosiv waren, als man zunächst befürchtet (zum Teil wohl auch gehofft) hatte, wurden sie doch am Ende nur Gegenstand folkloristischer Debatten im Feuilleton.

Als guter Kenner der europäischen Geschichte warnte Helmut Kohl, der Kanzler der deutschen Einheit, in seiner Rede vor dem französischen Senat im Oktober 1993 vor den Gefahren eines übertriebenen Optimismus in weiser Voraus- sicht: »Die bösen Geister konnten noch nicht endgültig aus Europa vertrieben werden. Jede Generation steht erneut vor der Aufgabe, ihre Rückkehr zu verhindern, die Vorurteile zu überwinden und jeden bösen Verdacht fallenzulassen.« Dennoch glaubten viele, dass nun endlich der richtige Weg gefunden sei, die »deutsche Frage« definitiv zu den Akten legen zu können – zusammen mit den totalitären Ideologien, die das 20. Jahrhundert erschüttert hatten. Natürlich war dies nicht »das Ende der Geschichte«. Mit Sicherheit aber fand im Jahr 1990 eine Geschichte ihr Ende – nämlich die Geschichte des »europäischen Bürgerkriegs«. Der beängstigende Konflikt, den Thomas Mann noch in einem seiner letzten Texte thematisiert hatte, als er sich mit Blick auf die Zukunft des alten Kontinents fragte, ob sie ein »deutsches Europa« oder aber ein »europäisches Deutschland« mit sich bringen werde, verlor immer mehr an Brisanz, bis er schließlich vollkommen bedeutungslos geworden war.

Schlagartig änderten sich von Neuem die Rahmenbedingungen, als ab 2007 eine soziale und wirtschaftliche Krise über die Welt hereinbrach, deren Gründe und Ursachen für die Öffentlichkeit nur schwer nachzuvollziehen waren, und eine ebenso tiefgreifende wie alarmierende Verunsicherung auslöste. Längst überwunden geglaubte Feindseligkeiten keimten unter den europäischen Völkern auf, neue Abneigungen kamen hinzu.

Und während sich durch einen epochalen Wandel neue globale Machtstrukturen herausbilden und die demographische Entwicklung einzelner Länder ganze Klassen und Kulturen erschüttert, sind Nationen und Regierungen des alten Kontinents versucht, ihr Heil in irrealen neoisolationistischen Szenarien wirtschaftlicher und mentaler Autarkie zu suchen – ein fataler Irrtum. Identitätsgeleitete Ressentiments bündeln sich mit antiuniversalistischen reaktionären Ideologien zu einer sozialen und politischen Empörung, die ebenso schwammig wie inkohärent ist und daher auf gefährliche Weise außer Kontrolle geraten kann, wie beispielsweise in der Protestschrift »Empört euch!« von Stéphane Hessel oder bei den Aktionen von Beppe Grillo. Und prompt, wie dies seit anderthalb Jahrhunderten stets der Fall ist, wenn Europa in die Krise gerät, erscheint auf einmal der Schatten Deutschlands an der Wand.

Aber die Geschichte fängt nicht wirklich wieder von vorn an, auch wenn es uns manchmal so vorkommt. Der Schein trügt, weil wir mit der uns eigenen geistigen Trägheit dazu neigen, die Wirklichkeit nach altem Muster zu interpretieren. Wir geben uns die größte Mühe, unerwartet oder unvorhergesehen eingetretene Phänomene zu neutralisieren, indem wir sie in die beruhigende, aber irreführende Gewissheit bekannter Paradigmen zwingen. Was polemisch als ewige Wiederkehr der Vergangenheit (Kanzlerin Merkel mit Hitler-Schnurrbart) behauptet wird, ist ein bewusstes Täuschungsmanöver, ein Trick, um zu vermeiden, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen.

Antworten auf Fragen zur Zukunft Europas, zur Rolle Deutschlands und zu seinen globalen strategischen Zielen finden sich gewiss nicht in den Geschichtsbüchern (geschweige denn in simplen Vorurteilen), sondern eher in der genauen Analyse der tiefgreifenden Transformationen, die sich weltweit vollziehen. Die daraus erwachsenden Veränderungen führen zu einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit und bewirken damit eine echte Metamorphose der europäischen Frage. Mehr noch: Was heute viele Bürger des alten Kontinents schlicht und einfach als ein altes, wiederkehrendes Problem – nämlich die Klärung der Rolle Deutschlands in Europa – erleben, ist in Wirklichkeit eine so noch nie dagewesene Situation mit völlig unerwarteten Herausforderungen. Gut hegelianisch könnte man daher sagen, die deutsche Frage sei – aus der Vergangenheit herausgelöst und in die Gegenwart transformiert – dialektisch aufgehoben. Wie hätte es auch anders sein sollen? Tatsächlich löste der Fall der Berliner Mauer eine bahnbrechende historische und geopolitische Wende aus, setzte er doch nicht nur den Machtverhältnissen der Nachkriegszeit ein Ende, sondern stand zudem auch Pate für die Globalisierung der modernen Welt. Mit dem Mauerfall ging das 20. Jahrhundert zu Ende, und zugleich fing das neue Jahrtausend an. Ein einziges Mal stimmten Geschichte und Kalender nahezu überein.

Um zu verstehen, welche Zukunft dem Kontinent Europa bevorsteht, muss man daher Deutschland denken, sich also in die gesellschaftspolitische Wirklichkeit des heutigen Deutschlands ebenso hineinversetzen wie in seine aktuelle geistig-historische Verfassung. Doch um eine Erklärung dafür zu finden, warum dieses Land noch immer und trotz allem unheimlich wirkt, muss das europäische Bewusstsein einen weiteren Schritt tun – vielleicht den schwierigsten und gewagtesten: »Tatsächlich müsste man lernen, unsere Geschichte aus einem deutschen Blickwinkel zu betrachten.« Wird es Europa gelingen, über den Schatten seiner jahrhundertealten Vergangenheit zu springen? Werden die Anforderungen der Gegenwart die althergebrachten Vorurteile vergessen machen? Wird das Zukunftsverlangen den Völkern Europas dabei helfen, die Erinnerung an die Vergangenheit umzugestalten?

Und noch ein letzter Gedanke. Ich hatte das Glück, von 2007 bis 2011, also vier Jahre lang, als Leiter des Italienischen Kulturinstituts in Berlin tätig zu sein. Intellektuell waren es außergewöhnlich intensive Jahre, konnte ich doch die Metamorphose, in deren Verlauf sich Deutschland zur führenden Macht auf dem alten Kontinent entwickelte, unmittelbar miterleben. Zugleich unterscheidet sich diese Nation, was ihre strategischen Ziele, geopolitischen Interessen und normativen Grundsätze betrifft, fundamental von ihrer Verfasstheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts – teilweise aber auch von der Bonner Republik. So konnte ich feststellen (und mit mir alle anderen, die nach Berlin gekommen waren, um von Italien zu berichten), wie sehr das Bild, das die italienischen und europäischen Medien von Deutschland verbreiteten, von der Wirklichkeit eines einzigartig dynamischen Landes abwich. Ich musste aber auch mit einer gewissen Sorge erkennen, dass die herrschende politische Klasse auf die Aufgaben, vor die sich das »neue« Deutschland durch seine wirtschaftliche Macht und geopolitische Lage gestellt sah, politisch und psychologisch erstaunlich unvorbereitet war. Geradezu störrisch schien sie nur widerwillig bereit, sich der neuen Verantwortung zu stellen – vor allem wenn es um Europa ging.

Ich habe gesehen, wie sich Berlin zum geistigen Zentrum des alten Kontinents entwickelte, zum neuen Mekka einer avantgardistischen Jugendkultur, an deren Spitze ausgerechnet italienische Künstler standen – ein Berlin, das weit entfernt war von jener hypermodernen Stadt, die in den Bildern von Metropolis und Die Sinfonie der Großstadt verherrlicht wurde, eine Stadt, die ein kritischeres Bewusstsein für die Grenzen des Fortschritts besaß und für die der Mythos Konsum jeden Zauber verloren hatte. Mit schmerzlicher Enttäuschung habe ich den Prozess der zunehmenden politischen wie kulturellen Entfremdung zwischen Italien und Deutschland während der Regierungszeit Silvio Berlusconis mitverfolgt – eine Entfremdung, die an einem bestimmten Punkt zu einem irreparablen Bruch zu führen drohte (ist die Gefahr tatsächlich gebannt?). Dies wäre nicht nur das Ende einer Beziehung, die unsere beiden Länder seit fast zwei Jahrhunderten im Guten wie im Schlechten verbindet, es würde auch das Scheitern des europäischen Projekts besiegeln.

Mit Wehmut kehrte ich in meiner Erinnerung zurück in die siebziger Jahre, als Italien kultureller und politischer Anziehungspunkt für eine ganze Generation deutscher Intellektueller war, die ihre klassische Bildungsreise, manchmal ideologisch motiviert, in das Bel Paese unternahmen. Und Westdeutschland seinerseits, mit der Achse Frankfurt – (West-)Berlin, hatte mir, wie so vielen anderen Vertretern meiner Generation, großzügig die Möglichkeit eingeräumt, die wichtigen deutschen Geistesströmungen des 20. Jahrhunderts kennenzulernen: von der Frankfurter Schule bis hin zu Vertretern großbürgerlichen Denkens. In meinem täglichen Austausch mit der kulturellen Wirklichkeit Berlins sah ich eine epochale Vorahnung jenes italienischen Europagedankens bestätigt, dessen Tradition heute Giorgio Napolitano und mit ihm wenige andere vehement am Leben zu halten suchen – will sagen: Wenn zwischen Frankreich und Deutschland dank des vor 50 Jahren ausgehandelten Élysée-Vertrags aus historischen wie geographischen Gründen eine »besondere Beziehung« besteht, die den Grundstein für das europäische Projekt bildete, so existiert richtigerweise zwischen Italien und Deutschland eine »außergewöhnliche Beziehung«, die es beiden Ländern ermöglichte, ihre jeweiligen historischen Schwächen zu kompensieren. Mehr noch: Diese Beziehung hat sich zu einer regelrechten strategischen Notbremse entwickelt, die verhindert, dass die europäische Einigung auf dem Abstellgleis endet.

Eine Art Reserve also, auf die man in Momenten der Krise zurückgreift. Wird dies auch jetzt so sein? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Sicher ist jedoch, dass die schwere Krise, in der sich Italien seit Jahren befindet, nicht nur eine Bedrohung für seine eigene Zukunft darstellt, sondern auch für die Zukunft Europas. Denn wenn es stimmt, dass das Bündnis zwischen Italien und Deutschland noch vor der »großen Transformation« grundlegend für die Entstehung und den Fortgang des europäischen Projekts war, so trifft es ebenso zu, dass ein dauernder Dissens zwischen beiden Ländern darüber, wie die neuen Herausforderungen der globalisierten Welt strategisch anzugehen seien, sich verhängnisvoll auf das Projekt Europäische Union auswirken wird. Und diese Gefahr besteht heute tatsächlich. Das schlimmste unter allen Szenarien wäre, wenn Italien sich trotz aller Versuche als unfähig erweisen würde, die notwendigen Reformen einzuleiten, während Deutschland nicht den erforderlichen politischen Weitblick besäße, Italien dabei zu helfen, gemeinsam die Zukunft Europas zu bauen.

Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.

Hoffen wir, dass Hölderlin auch diesmal recht behält.

Berlin/Rom, im Mai 2013 Angelo Bolaffi

19.02.2014, 22:05

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