Zusammenhänge

Leseprobe "Doch Snowdens Taten haben noch andere interessante Facetten. Wer wissen will, warum er das, was er tat, auf genau diese Weise tat, muss die Geschichte zweier weiterer Männer kennen."
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Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

I. Snowden und seine Lehrer

Inzwischen weiß fast jeder, was Edward Snowden getan hat: Er enthüllte einige der geheimsten Dokumente aller Zeiten. Sie offenbarten, dass die Regierung der USA rund um die Uhr Hunderte Millionen Menschen ausspäht, indem sie Telefonate und E-Mails von beinahe jedem sammelt, der ein Mobiltelefon oder das Internet nutzt – und dass sie dies abstritt.

Snowdens Enthüllungen erschienen zuerst im Juni 2013 in der Zeitung The Guardian. Sie lösten einen weltweiten Medienrummel und eine hitzige politische Debatte aus. Empörte Verfechter der Privatsphäre und der Bürgerrechte monierten, die flächendeckende, ohne richterliche Erlaubnis durchgeführte Überwachung verletze den vierten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten und erinnere an die totalitären Methoden des Big Brother aus George Orwells dystopischem Roman 1984. Ebenso wütende Regierungsvertreter bezeichneten Snowden als Dieb und Verräter, dessen illegale Enthüllungen dem Kampf gegen den Terrorismus massiv geschadet und die Sicherheit der Amerikaner aufs Spiel gesetzt hätten.

Doch Edward Snowdens Großtaten haben noch andere interessante Facetten. Wer wissen will, warum Snowden das, was er tat, auf genau diese Weise tat, muss die Geschichte zweier weiterer Männer kennen.

Einer von ihnen ist Thomas Drake. Wie Snowden arbeitete er für die nationale Sicherheitsbehörde (National Security Agency), jene große staatliche Organisation, welche die umstrittene Überwachungsarbeit durchführt. Drake versuchte schon Jahre früher, genau jene Praktiken offenzulegen, die Snowden später aufdecken sollte. Anders als Snowden benutzte Drake dazu allerdings legale Kanäle. Und das ging nicht gut.

Drake hatte innerhalb der NSA eine weit höhere Position als Snowden. Als Mitglied des »senior executive service« berichtete er an den dritthöchsten Vertreter der Behörde. Nachdem Drake erst innerhalb der NSA, dann gegenüber dem Kongress und schließlich gegenüber der Presse Geheimnisverrat begangen hatte, wurde er mit Waffengewalt festgenommen, in der Presse diffamiert, mit lebenslanger Haft bedroht sowie beruflich und finanziell ruiniert. In den Interviews für dieses Buch resümiert er, dieser Leidensweg habe ihn »vernichtet« und »zerstört«. Zu allem Übel wurden seine Warnungen vor dem Überwachungsprogramm der NSA von den Mainstreammedien weitgehend ignoriert und hatten kaum Einfluss auf öffentliche Wahrnehmung und Regierungspolitik.

Aber sie hatten großen Einfluss auf Snowden. Zwar inspirierte ihn Drake nicht dazu, zum Whistleblower zu werden. Diese Entscheidung scheint er allein getroffen zu haben, getrieben von seiner Überzeugung, insbesondere die Amerikaner hätten das Recht darauf, von ihrer Überwachung zu erfahren und selbst zu entscheiden, ob die Bedrohung ihrer Freiheit und Privatsphäre die angebliche zusätzliche Sicherheit durch die Überwachung wert waren.

Doch Snowden lernte von Drake Entscheidendes darüber, wie man seine Ideen effektiv in die Tat umsetzt. Vor allem lernte er, wie man beim Whistleblowing nicht vorgehen
sollte – insbesondere, dass man keine offiziellen Kanäle benutzen sollte. Später bescheinigte er Drake mehrfach, den Weg vorgegeben zu haben. »Man kann mit Fug und Recht sagen, dass es ohne einen Thomas Drake keinen Edward Snowden hätte geben können«, sagte er 2015 gegenüber Al Jazeera.

Und dann ist da der »Dritte Mann«. Seine Enthüllungen, über die nie zuvor berichtet wurde, fügen Edward Snowdens Geschichte ein faszinierendes Kapitel hinzu – ein Kapitel, das Episode um Episode von doppeltem Spiel, bürokratischen Hinterhältigkeiten und Gesetzesbrüchen geprägt ist.

Die größte Ironie dabei: Die hochrangigen Pentagon-Mitarbeiter, die bei ihren Ermittlungen gegen Drake wiederholt das Gesetz brachen, lehrten Snowden auf diese Weise unwissentlich, wie er ihren Fängen entgehen konnte.

Der »Dritte Mann« war ein hochrangiger Mitarbeiter des Pentagon, dessen weitreichende – und vielfach bekämpfte – Beteiligung an Drakes Fall Snowdens spätere Entscheidung beeinflusste, das Whistleblowing in Form zivilen Ungehorsams zu begehen – wenngleich weder Snowden noch Drake den »Dritten Mann« damals kannten. Während Snowden durch die Aufdeckung geheimer NSA-Dokumente weltberühmt wurde und über Drakes unglückliche Geschichte immerhin teilweise in den US-Medien berichtet wurde, blieb die Identität des »Dritten Mannes« im Dunkeln – bis jetzt. In diesem Buch nennt er seinen Namen und äußert sich zum ersten Mal öffentlich.

Die Lebensgeschichte des »Dritten Mannes« ist außergewöhnlich: Sein Großvater richtete eine Pistole auf Hitler, als dieser im Zuge des Hitler-Putschs 1923 erstmals versuchte, die Macht in Deutschland an sich zu reißen. Daraus zog der »Dritte Mann« die Lehre, man solle »im Leben ungeachtet der Risiken immer versuchen, das Richtige zu tun«. Diese Lektion brachte ihn Jahre später dazu, innerhalb des Systems für einen fairen Umgang mit Drake, Snowden und anderen Whistleblowern zu kämpfen. Dabei wurde er Zeuge illegaler, korrupter und manchmal auf düstere Weise komischer Vorgänge – Erlebnisse, die ihn schließlich selbst zum Whistleblower machten.

Sollten die Aussagen des »Dritten Mannes« von der Justiz bestätigt werden, könnten heutige und ehemalige Pentagon-Mitarbeiter im Gefängnis landen. (Bei Drucklegung dieses Buchs fanden – in aller Stille – bereits offizielle Ermittlungen statt.) Seine Aussagen widersprechen auch grundlegend der gemeinsamen Position Präsident Obamas und dessen ehemaliger Außenministerin Hillary Clinton hinsichtlich des Falls Snowden: Beide hatten wiederholt behauptet, Snowden hätte seine Bedenken über offizielle Kanäle kundtun können, da er durch das US-Gesetz zum Whistleblowing geschützt sei.

Im Gegensatz dazu legen die Aussagen des »Dritten Mannes« nahe, Whistleblowing in Form zivilen Ungehorsams sei Snowdens einzige Möglichkeit gewesen, im öffentlichen Interesse zu handeln – wenngleich er einen fürchterlichen Preis dafür bezahlte.

Betrachtet man die sich überschneidenden Geschichten dieser drei Männer, so erfährt man viel über die Funktionsweise von Whistleblowing, rechenschaftspflichtigem Regieren, Demokratie und sozial gesinntem Journalismus im heutigen Amerika. Was sehen wir, wenn sich der Vorhang hebt, hinter dem das Innenleben der US-Regierung normalerweise verborgen ist? Wer weiterliest, wird es erfahren.

Wie viele Whistleblower vor und nach ihnen wurden auch Snowden und Drake für ihr Handeln stark kritisiert. Am schärfsten verurteilt wurden sie von den Kollegen des nationalen Sicherheitsapparats: Diese verunglimpften die beiden als Kriminelle, Naivlinge und Egomanen. Nicht wenige regierungsnahe Journalisten und Experten stimmten ein. Sie fragten, wie eine Regierung funktionieren und gar die öffentliche Sicherheit inmitten einer gefährlichen Welt gewährleisten solle, wenn jeder Staatsbedienstete seine eigene Einschätzung richtigen und falschen Handelns über die Ansicht seiner Vorgesetzten stellen dürfe.

Der Kolumnist Michael Kinsley nannte Snowden in der New York Times einen »politischen Romantiker ... mit der niedlichen, unschuldig verschwörerischen Weltsicht eines altklugen Teenagers.« Kinsley fuhr fort, Entscheidungen über die Veröffentlichung von Regierungsgeheimnissen müssten »letztlich von der Regierung getroffen« werden.
Allein der Regierung die Entscheidungsgewalt darüber zu überlassen, welche Geheimnisse der Öffentlichkeit mitgeteilt werden, berge allerdings andere Gefahren, entgegnet Ben Wizner von der Amerikanischen Bürgerrechtsunion (American Civil Liberties Union), einer von Snowdens US-Anwälten.

»Stellen Sie sich vor, die Öffentlichkeit hätte (seit den terroristischen Anschlägen des 11. September) nur Zugang zu jenen Informationen gehabt, die uns die Exekutive zu sehen erlaubt«, so Wizner. »Dann wüssten wir nicht, dass die Entscheidung für den Irakkrieg auf Lügen und Falschdarstellungen basierte. Wir wüssten nichts von Abu Ghraib (dem Gefängnis in Bagdad, in dem US-Soldaten Häftlinge gefoltert haben). Wir wüssten nicht, dass die US-Regierung ein außergewöhnliches Auslieferungsprogramm verfolgte und Gefangene folterte. Wir wüssten nicht, dass die Regierung Bush das Gesetz zur Überwachung in der Auslandsaufklärung (Foreign Intelligence Security Act) missachtet und die amerikanischen Bürger sowie Millionen Menschen auf der ganzen Welt um-assend überwacht. Für all diese Aktivitäten galten die höchsten Geheimhaltungsstufen. Die Öffentlichkeit weiß davon nur dank mutiger Whistleblower, die diese Informationen ans Licht gebracht haben. Ich glaube, niemand kann behaupten, es sei für die amerikanische Demokratie besser, die Öffentlichkeit wisse all dies nicht.«

In 30 Jahren als unabhängiger Journalist und Autor habe ich über viele Whistleblower aus dem privaten wie öffentlichen Sektor berichtet, unter anderem in Vanity Fair, Newsweek, The Nation, The Los Angeles Times sowie in internationalen Medien wie der BBC, Le Monde Diplomatique und Die Zeit. Meine Reportagen führen mich zu der Ansicht, dass Whistleblower – ob man ihre Meinung teilt oder nicht – eine größere Rolle für das öffentliche Leben spielen, als ihnen gemeinhin zugebilligt wird, und dass sie unsere Aufmerksamkeit und unser Verständnis verdienen. Wahrscheinlich wird die Bedeutung der Whistleblower in den nächsten Jahren noch wachsen. Die Mechanismen, die Amerikas Demokratie regeln sollen, funktionieren nicht mehr: Die Exekutive wartet nicht mehr auf einen Parlamentsbeschluss, ehe sie kriegerische Handlungen beginnt. Nachrichtenagenturen sind so gewinnorientiert, dass sie nicht nur investigativen Journalismus, sondern sogar die grundlegende Berichterstattung über Themen des öffentlichen Interesses unmöglich machen. Der Kongress scheint nicht willens, Behörden mit genug Geld auszustatten, um gefährliche oder betrügerische Unternehmensaktivitäten zu unterbinden.

Whistleblower bieten hier ein wichtiges Korrektiv: Sie decken auf, was mächtige Einzelpersonen und Institutionen geheim halten wollen. Das gibt ihnen keinen Freifahrtschein, unbegründeten Verdacht zu schüren oder Rufschädigung zu betreiben. Aber es heißt, dass ihre Möglichkeit, sich frei und ohne Angst vor Strafe zu äußern, geschützt werden sollte. Und wenn sie sich äußern, sollten wir alle aufmerksam zuhören.

Bevor Snowden die folgenreiche Entscheidung traf, hochgeheime Dokumente aus den Datenbanken der NSA zu entwenden und sie den Journalisten Glenn Greenwald und Laura Poitras zu übergeben, war seine größte Sorge, die von ihm aufgedeckten Wahrheiten könnten folgenlos bleiben. Er wusste, dass die Weitergabe vertraulicher Informationen an nichtberechtigte Personen schlicht illegal war und ihm eine hohe Strafe drohte. Ewen MacAskill, ein Reporter der Zeitung The Guardian, der Snowden gemeinsam mit Poitras und Greenwald in Hong Kong interviewte, fragte den jungen NSA-Mitarbeiter, was seiner Meinung nach wohl mit ihm geschehen werde. Snowdens Antwort war schlicht und präzise: »Nichts Gutes.«

Getrieben von der Gewissheit, das Richtige zu tun, war Snowden dennoch bereit, seinen hochbezahlten Job aufzugeben, von seiner Familie und seiner Freundin getrennt zu leben und vielleicht den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen.

»Bei alldem habe ich nur vor einem Angst«, schrieb Snowden in seiner ersten Online-Unterhaltung mit Greenwald, nämlich »dass die Menschen diese Dokumente sehen und mit einem Achselzucken darüber hinweggehen, dass sie sagen: ›Das haben wir uns schon gedacht, das kümmert uns nicht.‹ Ich habe Sorge, dass ich all das für nichts und wieder nichts tue.«

Snowdens Sorge mag im Rückblick seltsam klingen, aber sie war berechtigt. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass es der Mehrheit der Whistleblower nicht einmal gelang, jenes kollektive Schulterzucken herbeizuführen, das Snowden befürchtete. Whistleblower riskieren Karriere, Ruf, Freundschaften, Familienbande, körperliche und geistige Gesundheit und manchmal sogar ihr Leben, indem sie Informationen aufdecken, die mächtige Kräfte geheim halten wollen. Und oft kommt nicht viel dabei heraus. Die Enthüllungen finden keine oder wenig mediale Aufmerksamkeit und stoßen keine richtige Debatte über die kritisierte Politik oder das kritisierte Verhalten an – von Reformen ganz zu schweigen. Zugleich liegt das Leben der Whistleblower danach oft in Trümmern. Die Sache läuft immer ungefähr gleich ab, egal, ob der Whistleblower für die Regierung, ein Unternehmen, eine internationale Organisation, eine religiöse Institution oder andere bürokratische Apparate tätig ist.

»Die einzige Befriedigung, mit der Whistleblower rechnen dürfen, liegt darin, dass sie das Richtige getan haben«, so Thomas Devine, Leiter der Rechtsabteilung von GAP (Government Accountability Project) in Washington DC. Diese erste Anwaltsvereinigung weltweit, die sich für die Rechte von Whistleblowern einsetzt, gehört auch zu Snowdens Rechtsvertretungen in den USA.

Ein beeindruckendes Beispiel betrifft den Einsatz von Drohnen als Tötungswerkzeuge durch die US-Regierung. Im Oktober 2015 veröffentlichte The Intercept – eine investigative Nachrichtenseite, die von Greenwald, Poitras und Jeremy Scahill gegründet wurde – eine Reihe von Berichten über »eine Reihe geheimer Dokumente über Details des Ermordungsprogramms des US-Militärs in Afghanistan, im Jemen und in Somalia.« Die Unterlagen stammten von einem Whistleblower, »der in direkter Verbindung mit dem Ermordungsprogramm steht«, schrieb Scahill, leitender Journalist der Berichtreihe.

Drohnenschläge waren ein zentrales Element der Militärstrategie der Obama-Regierung. Befürwortern zufolge seien sie eine günstigere, weniger riskante Alternative zum Einsatz von US-Truppen. Kritiker argumentieren, Personen würden auf »Tötungslisten« gesetzt und auf Basis geheimer Beschlüsse, ohne Anklage, Verfahren oder andere rechtliche Schritte exekutiert. Die Intercept-Reihe »The Drone Papers« enthüllte viel Berichtenswertes, darunter den Vorwurf, viele der durch Drohnen Getöteten seien Zivilisten gewesen (zu einem bestimmten Zeitpunkt waren geschätzte 90 Prozent der in Afghanistan Ermordeten Zivilisten).

Trotz dieser neuen Erkenntnisse über ein umstrittenes Programm der Regierung wurde die Artikelserie aus The Intercept kaum wahrgenommen – nicht zuletzt, weil die anderen Medien die Geschichten nicht auf die Titelseiten hoben. »In Medien jenseits des Mainstreams gab es eine Flut an Berichterstattung über unsere Enthüllungen; die etablierten Medien berichteten in geringerem, aber immer noch signifikantem Umfang«, erzählte mir Betsy Reed, Chefredakteurin von The Intercept. »Die größten Nachrichtenredaktionen, etwa die Times (...), erwähnten zwar die Enthüllungen als solche, beschäftigten sich aber nicht mit den Dokumenten selbst oder mit unserer Berichterstattung darüber. Ich möchte nicht über die Gründe dieses Verschweigens spekulieren, aber ich glaube, sie hätten ihren Lesern einen guten Dienst erwiesen, wenn sie über die Enthüllungen berichtet hätten, denn diese schlossen entscheidende Lücken im Verständnis der nationalen Sicherheitsinitiative der Obama-Regierung.«

Wer immer hinter der Veröffentlichung der Panama Papers im April 2016 steckt, hatte damit weit größeren Einfluss. Die Panama Papers, die als »größtes Datenleck der Geschichte« gelten, umfassen 11,5 Mio. Dokumente und belegen, wie Staatschefs und andere reiche, mächtige oder berühmte Menschen insgeheim Steuerparadiese wie Panama nutzen, um keine Steuern zahlen zu müssen. Über diese Enthüllungen berichteten die Medien ausführlich – auch, weil der ursprüngliche Empfänger der Dokumente, die Süddeutsche Zeitung, das International Consortium of Investigative Journalists (Internationales Konsortium von Investigativjournalisten) zur Zusammenarbeit einlud.

Das Konsortium wiederum bat 107 Nachrichtenredaktionen in 78 Ländern um Hilfe bei der Bearbeitung der Dokumente, die von der Anwaltskanzlei Mossack Fonseca in Panama stammten. Die Enthüllungen füllten die Titelseiten; in der Politik rollten unverzüglich Köpfe. Wegen eines geheimen Investmentfonds seiner Frau trat der Premierminister von Island binnen 48 Stunden zurück. Der britische Premierminister geriet ins Kreuzfeuer, weil sein verstorbener Vater an einem ähnlichen Fonds beteiligt gewesen war. Auch die Staatschefs von Russland, China und vielen anderen Ländern wurden bloßgestellt. Mossack Fonseca stritt jedwedes rechtswidrige Verhalten ab und behauptete, die Veröffentlichung der Dokumente sei durch Hacker außerhalb der Kanzlei geschehen und somit kriminell.

Bei Drucklegung dieses Buchs hatte sich die Quelle der Panama Papers noch immer nicht offenbart. Selbst der Direktor des International Consortium of Investigative Journalists sagte, er wisse nicht, ob es sich um einen Hacker oder einen Insider handele. Wäre die Quelle tatsächlich ein Hacker, könnte er nicht als Whistleblower gelten, denn ein Whistleblower ist ein Insider, der bislang geheime Informationen an die Außenwelt weitergibt. Unabhängig von der Semantik zeigen die Panama Papers auf dramatische Weise, von welcher Wichtigkeit und welchem Wert es ist, dass die Öffentlichkeit weiß, was die Privilegierten und Mächtigen hinter verschlossenen Türen treiben.

Snowden erwies sich allerdings auch als eine solch sensationelle Ausnahme von der Regel, der zufolge Whistleblower nicht gehört werden. Als zunächst The Guardian und später The Washington Post auf seinen Enthüllungen basierende Artikel veröffentlichten, wurde der 29-jährige ehemalige NSA-Mitarbeiter der berühmteste – oder berüchtigtste, je nach Perspektive – Whistleblower der Geschichte. Sein blasses, bebrilltes Gesicht mit dem Kinnbart flimmerte weltweit auf zahllosen Fernsehern und Computerbildschirmen, während Politiker, Experten und ganz normale Leute auf die Nachricht reagierten, dass die US-Regierung nach dem 11. September beinahe jeden Telefonanruf, jede E-Mail und jeden Website-Aufruf weltweit abgefangen und gespeichert hatte. Snowdens erklärtes Ziel, durch die Aufdeckung geheimer Aktivitäten eine informierte öffentliche Debatte auszulösen, wurde auf spektakuläre Weise erreicht.

»Wenn Sie mich unterstützen möchten«, schrieb er in einem offenen Brief, den er den zuerst veröffentlichten Unterlagen beigefügt hatte, »schließen Sie sich der Open-Source-Community an und kämpfen Sie darum, den Geist der Presse am Leben zu erhalten und die Freiheit des Internets zu bewahren. Ich kenne die dunkelsten Winkel der Regierung; was sie fürchtet, ist das Licht.«

Bezüglich des Bekanntheitsgrads mit Snowden vergleichbar ist einzig Daniel Ellsberg. 1971 veröffentlichte er in der New York Times und der Washington Post die sogenannten Pentagon-Papiere – hunderte höchst geheime Berichte und Aktennotizen –, die aufdeckten, dass die US-Regierung den Vietnamkrieg schlicht unter falschen Vorwänden begonnen hatte und weiterführte. Insgeheim hatten US-Militär und Diplomaten aus der gesamten Führungsriege bereits Jahre zuvor erkannt, dass man den Vietnamkrieg nicht gewinnen könne.

Öffentlich verkündeten sie jedoch Sieg um Sieg; ihr Verweis auf angebliches »Licht am Ende des Tunnels« brachte es zu trauriger Berühmtheit. Tausende junger Männer wurden in den Krieg entsandt und verloren vielleicht ihr Leben, Gliedmaßen oder die geistige Gesundheit. Die USA bombardierten noch mehr vietnamesische Dörfer, vergifteten Boden und Wasser und töteten oder verstümmelten zahllose Zivilisten.

Der Vietnamkrieg war damals in den USA das größte Streitthema. Dass Ellsberg die zugrundeliegende Lüge aufdeckte, machte ihn über Nacht zur Mediensensation. Wie 42 Jahre später Snowden gab sich auch Ellsberg als Whistleblower zu erkennen, um ehemalige Kollegen vor diesem Verdacht zu schützen. In Mantel und Krawatte, aber mit längeren Haaren als während seiner Zeit als Marineoffizier erklärte der 40-jährige Ellsberg auf einer Pressekonferenz, er könne sich damit abfinden, vielleicht den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen. »Würden Sie nicht ins Gefängnis gehen, um diesen Krieg zu verhindern?«, fragte er. Wie im Fall Snowden diskutierten Regierungsvertreter, Fernsehredakteure und Zeitungsjournalisten schon bald darüber, ob dieser selbsterklärte Fürsprecher der Wahrheit ein Held oder ein Verräter sei.

Ellsberg wurde noch berühmter, als er ohne sein Wissen den Watergate-Skandal beförderte, der schließlich zum Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Richard Nixon und zu dessen Rücktritt führte. Es klingt wie eine Quizfrage zur US-Geschichte: Warum wurden die Einbrecher, die in die Büros des Democratic National Committee im »Hotel Watergate« einstiegen, »die Klempner« genannt? Antwort: Weil sie zuvor für die Regierung Nixon in das Büro von Ellsbergs Psychiater eingebrochen waren, um jenen Mann in ein schlechtes Licht zu rücken, der die Pentagon-Papiere enthüllt hatte. (Ellsberg war ein Informationsleck, und Klempner stopfen bekanntlich Lecks.)

Snowden und Ellsberg haben jedoch mehr gemeinsam als nur den Ruhm – ihre Entwicklungen als Whistleblower gleichen einander eher, als dass sie sich unterscheiden. Beispielsweise glaubten beide zunächst fest an die zur jeweiligen Zeit offizielle amerikanische Ideologie. Im Fall Ellsberg war dies der Kalte Krieg gegen den Kommunismus, im Fall Snowden der Krieg gegen den Terror nach dem 11.September. »2003, als alle anderen (gegen den Einmarsch der USA in den Irak) protestierten, meldete ich mich (zum Militärdienst), weil ich nicht glauben konnte, dass die Regierung in der Frage der Massenvernichtungswaffen lügen würde«, erinnerte sich Snowden später.

Snowden und Ellsberg wurden beide massiv kritisiert, sowohl von hohen Regierungsvertretern als auch von großen Teilen der Medien und der Öffentlichkeit. Henry Kissinger, Nixons Berater für innere Sicherheit und ehemaliger Kollege von Ellsberg, nannte diesen auf einem der geheimen Audiomitschnitte Nixons aus dem Weißen Haus »den gefährlichsten Mann in Amerika«, der »um jeden Preis gestoppt« werden müsse. Seinem Generalstaatsanwalt John Mitchell trug Nixon auf: »Wir müssen diesen Hurensohn fangen. Einen solchen Diebstahl im großen Stil kann man nicht zulassen, sonst geschieht er überall in der Regierung.« Mitchell klagte Ellsberg denn auch wegen Spionage und Verschwörung an, was diesem 115 Jahre im Gefängnis beschert hätte, doch die von der Regierung erhobene Anklage brach zusammen, als der Einbruch der »Klempner« in das Büro von Ellsbergs Psychiater ans Licht kam.

Vier Jahrzehnte später gab es ein Déjà-vu, als Außenminister John Kerry Snowden als »Feigling« beschimpfte, der »sein Land verraten« habe. Er fügte hinzu: »Er hat gegenüber den Terroristen viele Mechanismen offengelegt, die jetzt deren operative Sicherheit betreffen und es den Vereinigten Staaten erschweren, Pläne zu durchkreuzen und unsere Nation zu schützen.« Bei der ersten Debatte der demokratischen Präsidentschaftskandidaten 2016 äußerte sich Hillary Clinton ähnlich harsch. Auf die Frage, ob Snowden ins Gefängnis gehen solle, sagte Clinton: »Er hat sehr wichtige Informationen gestohlen, die leider in viele falsche Hände gelangt sind. Deshalb glaube ich nicht, dass er nach Hause gebracht werden sollte, ohne die Konsequenzen zu tragen.«

[...]

02.06.2016, 10:04

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