Strategiesymptome

Leseprobe "Geopolitik ist dabei das Schlüsselwort. Sie erklärt, warum aus dem Aufstand eines Teils der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime in kürzester Zeit ein Stellvertreterkrieg werden konnte."
Strategiesymptome

Foto: Spencer Platt/Getty Images

Vorwort

Kriege werden erzählt, nicht anders als Geschichten. Die jeweiligen Erzählungen bestimmen das Bild in unseren Köpfen, unsere Sicht auf Konflikte. Wir wissen, oder wir glauben zu wissen, wer schuldig ist und wer nicht, wer die Guten sind und wer die Bösen. Im Falle Syriens ist die vorherrschende Sichtweise in etwa diese: Das verbrecherische Assad-Regime führt Krieg gegen das eigene Volk, unterstützt von den nicht minder skrupellosen Machthabern in Moskau und Teheran. Die syrische Opposition, gerne als «gemäßigt» bezeichnet oder als «das» syrische Volk schlechthin wahrgenommen, befindet sich in einem verzweifelten Freiheitskampf, dem sich der Westen nicht verschließen kann. Andernfalls stünde seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel, würde er seine «Werte» aufgeben, ja verraten. Längst hätten wenigstens die USA militärisch intervenieren sollen, im Namen der Freiheit!

Leider greift diese Rahmenerzählung, das Narrativ hiesiger Politik wie auch der Medien, viel zu kurz. Die Verbrechen Assads sind offenkundig, doch ersetzt die moralische Anklage nicht die politische Analyse. Die Berichterstattung über Syrien erschöpft sich vielfach in der Darstellung menschlichen Leids als Ergebnis der Kriegsführung Assads und seines russischen Verbündeten. Deren Verantwortung für Tod und Zerstörung ist aber nur ein Teil der Geschichte. Die übrigen, die fehlenden Teile werden meist gar nicht erst erzählt.

Zum Beispiel Omran. Das Foto des kleinen Jungen wurde im August 2016 zur Ikone der Schlacht um Aleppo, genauer gesagt der Angriffe von Regierungstruppen auf Stellungen der «Opposition» im Ostteil der Stadt. Es zeigt das staubbedeckte, apathische Kind, auf einem Stuhl sitzend, das Gesicht blutverschmiert. Ein furchtbares Schicksal, jeder möchte Omran in den Arm nehmen und trösten. Kaum eine Zeitung, die das Bild nicht veröffentlicht hat.

Das ist der eine Teil der Geschichte, dessen emotionale Wucht kaum zu überbieten ist. Der andere Teil wird selten beleuchtet, wenn überhaupt. Der Fotograf heißt Mahmud Raslan. Er hatte kurz vor seiner Aufnahme Omrans ein Selfie gepostet, das ihn grinsend mit Angehörigen der Dschihadistenmiliz «Harakat Nur ad-Din as-Sanki» zeigte. Darunter die beiden Männer, die zweifelsfrei vier Wochen zuvor den zwölfjährigen Abdallah Isa für ein Propagandavideo geköpft hatten. Raslan arbeitete für das «Aleppo Media Center», das westlichen Medien in den monatelang andauernden Kämpfen um Aleppo als wichtige Informationsquelle diente. Offiziell handelt es sich dabei um ein «unabhängiges Netzwerk» von «Bürgerjournalisten», mit einer allerdings klar regimefeindlichen Haltung, gut vernetzt mit Dschihadisten. Finanziert wird es maßgeblich vom französischen Außenministerium, auch aus Washington, London und Brüssel erhält das «Center» Geld.

Dass die militärisch relevanten Gegner Assads fast ausschließlich aus Dschihadisten bestehen, ist zumindest in politischen Kreisen durchaus bekannt, stellt aber offenbar kein Problem dar. Es hat auch keine Auswirkungen auf die westliche Rahmenerzählung der Ereignisse in Syrien. Die Unterteilung der Akteure in «gut» und «böse» bleibt erhalten, ebenso die hiesige Selbstwahrnehmung, in diesem Konflikt auf der «richtigen» Seite zu stehen, der des syrischen Volkes. Die naheliegende Frage, ob demzufolge gewaltbereite Islamisten als «Volksvertreter» anzusehen sind, stellt sich offenbar nicht. Bei aller Empathie für das Leid der Menschen in Syrien – der Krieg reicht weit über Assad hin- aus. Und genau hier setzt das vorliegende Buch an. Es erzählt die fehlenden Teile der Geschichte, die in der Politik und den Medien keine oder nur eine geringe Rolle spielen.

In Syrien geht es nicht um «Werte», sondern um Interessen. Geopolitik ist dabei das Schlüsselwort. Sie erklärt, warum aus dem Aufstand eines Teils der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime in kürzester Zeit ein Stellvertreterkrieg werden konnte. Auf syrischem Boden kämpfen die USA und Russland, aber auch der Iran und Saudi-Arabien und nicht zuletzt die Türkei um Macht und Einfluss. Die Hauptakteure allerdings sind seit 2012 Washington und Moskau.

Ohne die massive Einmischung von außen hätte dieser Krieg niemals die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung des indischen Subkontinents ausgelöst. Mindestens zehn Millionen Syrer sind auf der Flucht, rund eine Million haben in Europa Aufnahme gefunden, die meisten davon in Deutschland. Obwohl die Flüchtlingszahlen in der Türkei und den arabischen Nachbarländern Syriens deutlich höher liegen, haben sie doch den hiesigen Rechtspopulismus erheblich gestärkt und die gesellschaftliche Polarisierung vorangetrieben.

Zum ersten Mal finden sich die Europäer, allen voran die Deutschen, inmitten eines Sturms wieder, für den sie mitverantwortlich sind – weil sich ihre Politiker die Sicht Washingtons zu eigen gemacht haben: Assad muss weg. Über die Folgen mochte niemand konsequent nachdenken. Dieser Opportunismus fällt uns allen nunmehr auf die Füße. In Syrien haben die USA ihre Politik des regime change fortgesetzt, die in den letzten Jahren auch im Irak, in Libyen und, verdeckt, im Jemen betrieben wurde und wird. Nicht zu vergessen Afghanistan, wo nach den Attentaten vom 11. September 2001 der «Startschuss» fiel. Das nachfolgende Chaos blieb allerdings weitgehend auf die Region selbst beschränkt. Das hat sich mit Syrien unwiderruflich geändert.

Obwohl diese Politik Washingtons eine Katastrophe nach der anderen hervorruft, namentlich Staatszerfall, das Erstarken von dschihadistischen Milizen wie dem «Islamischen Staat» und die Odyssee von Millionen Syrern, Irakern, Afghanen, hält sich die Kritik in Brüssel oder Berlin in engen Grenzen. Überspitzt gesagt kehren die Europäer mit der Flüchtlingskrise die Scherben einer verfehlten US-Interventionspolitik auf, bezahlen sie gutwillig den Preis für die Machtansprüche anderer. Anstatt selbstbewusst eigene Positionen zu vertreten, ziehen es hiesige Entscheidungsträger viel zu oft vor, amerikanischen Vorstellungen zu folgen. Das «Nein» der Bundesregierung zum US-geführten Einmarsch in den Irak 2003 ist und bleibt eine große Ausnahme. Lieber bemühen die politisch Verantwortlichen diesseits wie jenseits des Atlantiks das harmonische Bild einer «westlichen Wertegemeinschaft», die weltweit für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte eintrete. Inwieweit solche Verständnisinnigkeit unter US-Präsident Donald Trump erhalten bleibt oder nicht, wird sich zeigen.

Auf den ersten Blick mag es erstaunen: Wer sich mit Syrien befasst, muss sich auch mit der CIA beschäftigen. Regime change ist das moderne Gesicht des klassischen Staatsstreiches. Auf dem Gebiet macht den USA niemand etwas vor. Insbesondere in Lateinamerika, Afrika, West- und Ostasien, aber auch in Europa – also weltweit – haben sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit Hilfe direkter und indirekter Interventionen (militärischen, paramilitärischen, Attentaten, Putschen oder Putschversuchen, Propaganda) stets dafür Sorge getragen, dass ihnen unliebsame Politiker und Regime unter Druck geraten und beseitigt werden. Eine wesentliche Rolle kommt dabei den Geheimdiensten zu, vor allem der CIA. Die Central Intelligence Agency wurde 1947 mit zwei Mandaten gegründet. Zum einen, Informationen zu sammeln, sprich: zu spionieren, was in der Natur der Sache liegt. Zum anderen aber auch, und das ist kaum bekannt, um verdeckte Operationen zum Sturz von Regierungen durchzuführen, die amerikanischen Interessen zuwiderhandeln.

Den wenigsten ist bewusst, dass solche Interventionen Millionen Menschen das Leben gekostet haben und noch immer kosten. Opferzahlen dieser Größenordnung werden gemeinhin der Herrschaft von Stalin oder Mao zugeschrieben, den großen Antipoden einer wie auch immer verstandenen «westlichen Werteordnung». An fehlendem Wissen kann es eigentlich nicht liegen, denn die Exzesse amerikanischer Machtpolitik sind hinlänglich dokumentiert. Wer etwa die endemische Bandengewalt im heutigen Zentralamerika, den Putsch gegen Chiles Präsidenten Allende 1973, den Aufstieg Pol Pots in Kambodscha in den 1970er Jahren, den Staatszerfall im Kongo oder die iranische Revolution verstehen will, landet unweigerlich in Washington oder Langley in Virginia, dem Sitz der CIA.

Syrien reiht sich ein in diese Chronik – seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als die USA die vormaligen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich als entscheidender Machtfaktor im Nahen und Mittleren Osten abzulösen begannen. Was heute dort geschieht, hat eine lange Vorgeschichte. Nur wer sie kennt, versteht die Gegenwart. Zwei inhaltliche Stränge gilt es dabei zu verfolgen: das Schattenspiel amerikanischer Politik und Geheimdienste und natürlich das Wirken der Handlungsträger vor Ort, vielfach windiger arabischer Potentaten, deren Unfähigkeit und Skrupellosigkeit ihren ausländischen Förderern – oder Widersachern – in nichts nachsteht.

Fangen wir also vorne an.

20.04.2017, 13:07

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