Einleitung
Einen kurzen historischen Moment lang schien es so, als ob terroristische Gewalt in den etablierten Demokratien des Westens bald eine Sache der Vergangenheit sein würde. Nachdem die Kämpfe um Dekolonialisierung, in denen vielfach terroristische Taktiken eingesetzt wurden (man denke an den Algerienkrieg), in den 1960er Jahren überwiegend durch die Unabhängigkeit der Kolonien beendet worden waren, wurde der Terrorismus als Aktionsform zur Erreichung politischer Ziele zunächst gerade in Europa, Japan und den USA übernommen. So hielten in Deutschland seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Rote-Armee-Fraktion (RAF) und die Bewegung 2. Juni die Öffentlichkeit zunehmend in Atem. In Frankreich war die Action directe aktiv, in Italien die Brigate Rosse, in Japan die japanische Rote Armee Fraktion (Nihon sekigun) und in den USA beispielsweise die Gruppe Weather Underground. Der immer wiederkehrende Einsatz terroristischer Anschläge in langandauernden Konflikten wie dem zwischen Israel und den Palästinensern sowie in Bürgerkriegen von Sri Lanka bis Südamerika kam hinzu. Überdies bedienten sich auch Staaten gelegentlich der terroristischen Taktik.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts konnte das Schicksal des Terrorismus in Deutschland und Europa jedoch als besiegelt erscheinen. Denn die Gesellschaftsentwürfe zumindest der linken terroristischen Gruppierungen büßten mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus einen großen Teil ihrer Überzeugungskraft ein. Die Nachricht, dass Wolfgang Grams – Angehöriger der dritten Generation der RAF – 1993 bei einem Schusswechsel mit einem Einsatzkommando der GSG-9 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen getötet worden war, wirkte angesichts dessen schon fast wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Die Selbstauflösung der RAF im Jahr 1998 konnte dagegen als logische Konsequenz der welthistorischen Entwicklungen gelten, zumal auch Gruppen, die primär für nationalistisch-ethnische Ziele fochten, begannen, ihre Waffen niederzulegen: So rief die Provisional Irish Republican Army (IRA) einen Waffenstillstand aus, und ihr politischer Arm Sinn Féin begann Verhandlungen, die 1998 zum Karfreitags-Friedensabkommen führten; auch die Euskadi Ta Askatasuna (ETA) trat in Gespräche ein, an deren Ende im Jahr 2011 die Aufgabe von Gewalt stand. In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts konnte es folglich so scheinen, als ob sich Terrorismus als Mittel der politischen Auseinandersetzung in den Demokratien des Westens überlebt hatte.
Dass dieser Eindruck trog, war aufmerksamen Beobachtern allerdings bereits in dieser Zeit bewusst. Denn im gleichen Jahr, in dem im Juni Wolfgang Grams erschossen wurde, war im Februar eine Bombe in einem Transportfahrzeug explodiert, das in der Parkgarage unter dem World Trade Center in New York City abgestellt war. Die Bombe riss ein Loch in das Gebäude, das sich über sieben Stockwerke hinweg zog; sechs Personen starben, über tausend wurden verletzt. Die Ermittlungen brachten die Täterschaft sunnitischer Extremisten zutage. Und im gleichen Jahr, in dem im April das Karfreitags-Friedensabkommen geschlossen wurde und die RAF ihre Selbstauflösung bekannt gab, erfolgten im August Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Dar es Salaam. Beide Anschläge wurden von Osama Bin Ladens Netzwerk verübt. In Deutschland beging derweil nur ein Jahr, nachdem die RAF die Waffen niedergelegt hatte, die rechtsextremistische Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nach derzeitigem Ermittlungsstand die ersten terroristischen Gewalttaten: einen Sprengstoffanschlag in einer Nürnberger Kneipe sowie womöglich auch noch einen zweiten auf die sogenannte Wehrmachts-Ausstellung in Saarbrücken. Weitere Sprengstoffanschläge, Morde und ein Nagelbombenattentat folgten, wobei die Opfer Migranten und Migrantinnen der ersten und zweiten Generation sowie eine Polizistin waren. Nicht zuletzt weil diese Gewalttaten von den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder über viele Jahre hinweg nicht als terroristische Anschlagsserie gedeutet wurden, beachtete die Öffentlichkeit sie zunächst allerdings wenig.
Die Anschläge vom 11. September 2001 (9/11) auf das World Trade Center in New York City und das Pentagon in Arlington, Virginia, setzten den Terrorismus unübersehbar auf die Agenda – und das weltweit. Auf der Insel Bali töteten im Oktober 2002 koordinierte Bombenanschläge auf Paddy’s Bar und den Sari Club, die vor allem von Urlaubern aus Europa und Australien besucht wurden, über 200 Menschen. Weitere 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Verantwortlich für den Anschlag zeichnete die islamistische Organisation Jemaah Islamiyah; Osama Bin Laden, der sie bei der Ausführung unterstützt haben soll, übernahm ebenfalls Verantwortung. Da die meisten Opfer australische Staatsangehörige waren, ging der Anschlag im pazifischen Raum als »Südostasiatisches« oder »Australisches 9/11« in die Erinnerung ein. Ebenfalls im Oktober 2002 nahmen tschetschenische Separatisten über 900 Geiseln während des Musicals »Nord-Ost« im Moskauer Dubrovka-Theater. Als Spezialeinheiten das Gebäude stürmten, starben mindestens 130 Menschen – viele von ihnen durch den Einsatz eines Betäubungsgases. Im September 2004 wurden in einer Schule in Beslan in der zur Russischen Föderation gehörenden Republik Nordossetien-Alanien über eintausend Geiseln genommen, von denen nach offiziellen Angaben mehr als 300 ermordet wurden, als die Sicherheitskräfte das Gebäude einnahmen. Ein tschetschenischer Rebellenführer bekannte sich zu der Tat. Am 11. März (11-M) des gleichen Jahres starben nach offiziellen Angaben fast 200 Menschen bei zehn Bombenexplosionen in vollbesetzten Vorortzügen in Madrid; mehr als 2000 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Ein Jahr später, am 7. Juli 2005 (7/7), erfolgten ähnliche Anschläge auf die U-Bahn in London – wieder ein Jahr später in Mumbai und im November 2008 kamen dort noch einmal über 170 Menschen bei Überfällen zu Tode. Im Januar und im November 2015 erschütterten die Überfälle auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf einen Supermarkt für koschere Waren, den Stade de France, die Teilnehmer eines Rockkonzerts im Bataclan-Theater sowie die Gäste verschiedener Cafés und Restaurants in den 10. und 11. Arrondissements von Paris Europa und die Welt. Nach offiziellen Angaben starben fast 150 Menschen; über 350 wurden verletzt, davon etwa 100 schwer. Im März 2016 folgten Anschläge auf den Flughafen und eine Metro-Station in Brüssel. Diesen terroristischen Anschlägen ließen sich viele weitere hinzufügen.
Heute sind beständig Bilder und Nachrichten von Anschlägen, Geiselnahmen und Entführungen präsent: in China, Thailand, Bangladesch, Indien, Pakistan, Afghanistan, im Irak, in Kuwait und im Jemen, in Israel und im Libanon, in Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko, Mali, Nigeria, Kamerun oder Kenia. Seit der Eroberungszüge der Milizen des sogenannten ad-daula al-isl ̄amiyya (Islamischer Staat; IS oder ISIS) sind zudem Syrien und die Türkei zunehmend vom Terrorismus betroffen. Anschläge in den USA, in Australien, Großbritannien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, Dänemark und Russland kommen hinzu. Innerhalb weniger Jahre ist terroristische Gewalt epidemisch geworden, und immer weniger Regionen der Welt sind davon ausgenommen.
Diese Intensivierung terroristischer Gewalt innerhalb weniger Jahrzehnte wurde sofort in historischen Kategorien gedeutet. Das gilt insbesondere für die Anschläge am 11. September 2001 in New York City und Arlington, Virginia. Um das Ausmaß und die Bedeutung der Ereignisse zu ermessen, betonten Kommentatoren und Politiker das Neue, das nie Dagewesene dieser Gewalt: »Diese neu aufgedeckte Gefahr eines groß angelegten, hochentwickelten Terrorismus« stelle »eine völlig neue Form von Gefahr dar«, »eine neue Form von Krieg«, ja »eine neue Form des Bösen«. Damit einher ging die Überzeugung von der welthistorischen Bedeutung der Anschläge. Kommentatoren sprachen vom »Wendepunkt der Geschichte«, von einem tiefen »Einschnitt in der Entwicklung der Menschheit« und vom Beginn eines neuen »Zeitalter des Terrorismus«. Von einer bedeutenden Zäsur ging auch der amerikanische Journalist Fareed Zacharia aus, als er »Das Ende vom Ende der Geschichte« konstatierte. Überdies waren historische Großkategorien präsent, wenn es um die Attentäter oder die Deutung ihrer Ziele ging. Sie wurden als »Barbaren« im Krieg gegen Amerika, gegen die »zivilisierte Völkergemeinschaft« und die westliche Moderne oder als eine unheilvolle Verbindung beider Welten charakterisiert: »Das Zusammentreffen der Internet-Geschwindigkeit aus dem 21. Jahrhundert mit dem Fanatismus des 12. Jahrhunderts hat unsere Welt in ein Pulverfass verwandelt«, so die Washington Post. Aus diesen und weiteren, ähnlich gelagerten Beobachtungen gingen Geschichtsbilder hervor, denen zufolge es sich bei den terroristischen Anschlägen seit der Jahrtausendwende einerseits um eine neue und andererseits um eine im Kern vormoderne, da mittelalterliche, religiöse (vor allem islamistische) Form von Gewalt handle, die sich insbesondere gegen die säkular-modernen, hochindustrialisierten Gesellschaften sowie ihre Institutionen und Repräsentanten richte. Diese weit verbreiteten Geschichtsinterpretationen blieben in der Folge abruf- und aktualisierbar – nicht zuletzt, weil sie bis heute in ihrem historischen Gehalt nicht grundlegend hinterfragt worden sind.
Solche historischen Einschätzungen vom Neuen und Beispiellosen der terroristischen Gewaltakte dienten bald schon der Legitimation neuer sicherheitspolitischer Maßnahmen und Strategien. »Seiner Meinung nach ist die Gefahr momentan die, zu traditionellen Antworten auf den Terrorismus zurückzufallen, die offensichtlich nicht funktioniert haben«, so David Remnick am 24. September 2001 in The New Yorker über den ehemaligen Chefunterhändler für den Nahost-Friedensprozess Dennis Ross: »Er sagte, ›Wir können nicht einfach die üblichen Maßnahmen ergreifen – ein paar Ziele bombardieren, falls es sich zeigt, dass diese Tat von Osama bin Laden begangen wurde. Wenn wir in der gewohnten alten Weise reagieren, wird sich nichts ändern.‹« Und als der stellvertretende Verteidigungsminister Paul D. Wolfowitz auf eine mögliche Verbindung der Attentäter zum Irak angesprochen wurde, sagte er: »Ich glaube, der Präsident hat heute sehr klar formuliert, dass es hier um mehr geht als um eine Organisation, um mehr als nur ein Ereignis [...]. Und ich denke, jeder muss dieses Problem mit ganz anderen Augen und in einem ganz anderen Licht sehen nach dem, was am Dienstag vergangene Woche passiert ist.« Was damit konkret gemeint war, legte der Kolumnist William Safire einige Tage später in der New York Times in Form einer Frage nahe: »Beantworten wir unsere erste, katastrophale Niederlage auf einem gänzlich multilateralen Wege? [...] Das hieße, einen terroristischen Krieg von gestern zu kämpfen. Oder erkennen wir jetzt die größere Gefahr einer Kriegführung mit Bakterien oder nuklearer Anschläge vonseiten einer nachweislich terroristischen Nation und verbinden die erwartete Vergeltung für die Anschläge dieses Monats mit einer Strategie des präventiven Gegenschlags?«Auf das Ungeheuerliche und Neue des Anschlags mussten neue Antworten gefunden werden. Auf diese Weise wurde die Geschichte des Terrorismus zum Argument für Politik und damit zugleich zum Gegenstand von Geschichtspolitik.
Die Geschichte des Terrorismus ist folglich politisch relevant. Rekurse auf normativ aufgeladene Dualismen wie Barbarei und Zivilisation, Mittelalter und Moderne – so verständlich sie auch sein mögen, um die Dimension des Geschehens in Worte zu fassen – bieten allerdings keinen Erklärungsansatz, der geeignet wäre, die neueren und älteren Entwicklungen in der Anwendung politischer Gewalt angemessen zu erfassen. Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es deshalb, gängige Narrative zur Geschichte des Terrorismus mit den ihr eigenen Mitteln zu überprüfen und zu korrigieren sowie gegebenenfalls neue Zusammenhänge aufzuzeigen, die zu einem besseren Verständnis der Geschichte und der Gegenwart dieses Gewaltphänomens beitragen können. Ziel dieses Buches ist eine solche historische Neuverortung der Entstehung des Terrorismus – nicht in der jüngeren Zeitgeschichte, sondern im 19. Jahrhundert –, und zwar im Kontext dessen, was üblicherweise und im analytischen Sinne als die sich herausbildende westliche Moderne bezeichnet wird.Denn diese Geschichte liefert den Schlüssel für ein Verständnis auch der gegenwärtigen Ausprägungen und Entwicklungen des Terrorismus im Kontext der Globalisierung dieser Moderne im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert.
Wann, wo und auf welche Weise entstand der Terrorismus? Das sind die Ausgangsfragen dieses Buches. Wie wurde diese spezifische Form politischer Gewalt erfunden, und wie und von wem wurde diese Taktik zuerst rezipiert, verbreitet und weiterentwickelt? Wenn hier bewusst von »Erfindung« gesprochen wird – im Gegensatz etwa zur allgemeinen Rede von den »Ursprüngen« oder der »Entstehung« des Terrorismus –, so nimmt dieser Begriff Konzepte aus der Soziologie und Philosophie auf, denen zufolge es nicht nur technische, sondern auch soziale, kulturelle und psychische Erfindungen gibt.Die Entstehung des Terrorismus ist das Ergebnis solcher Erfindungen. Dabei bezieht sich dieser Begriff konkret auf das Denken und Handeln einiger Akteure, die im Folgenden in den Blick genommen werden. Diese Akteure proklamierten (genau wie später die Mitglieder des NSU) »Taten statt Worte«. Zudem experimentierten sie mit älteren und neueren Formen aufständischer Gewalt und konnten dabei mit mehr oder weniger Geschick und Erfolg die Medienberichterstattung für sich nutzen. Über diese Medienberichterstattung erfuhren sie von ihren jeweiligen Vorgängern, lernten voneinander und entwickelten in diesem Lernprozess Muster des Gewalthandelns, die als Terrorismus zu bezeichnen sind, ohne dass die Täter selbst oder die Gesellschaften, in denen sie lebten, diesen Begriff bereits benutzt hätten – mit einer Ausnahme, wie sich zeigen wird. Dieser Lernprozess, in dem der Terrorismus folgenreich erfunden wurde, erstreckte sich über eine vergleichsweise kurze Zeitperiode, nämlich die acht Jahre von 1858 bis 1866, dafür aber über einen relativ ausgedehnten geografischen Raum: Europa, die USA und Russland – Länder und Kontinente, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts durch ein dichtes Netz medialer Kommunikation miteinander verbunden waren.
Wer waren die Erfinder des Terrorismus? Zunächst sind es zwei Personen, welche Gewalttaten begingen, die erstens den Kriterien für Terrorismus entsprechen, die zweitens das Ergebnis eines eigenständigen und eigensinnigen Denk- und Handlungsprozesses sind (und nicht etwa primär eine Kopie anderer, vorangegangener Taten) und die drittens anderen, späteren Terroristen nachweisbar als Vorbilder dienten: Felice Orsini, der 1858 in Paris ein Attentat auf Napoleon III. verübte, sowie John Brown, der im Jahr 1859 einen Überfall auf das Arsenal der US-Armee in Harpers Ferry, Virginia, beging. Die ersten Personen, für die hier nachgewiesen werden konnte, dass sie die terroristische Gewalttaktik Browns und Orsinis rezipierten und nachahmten sowie dabei weiterentwickelten und verbreiteten, waren Oskar Wilhelm Becker mit seinem gescheiterten Attentat auf den preußischen König Wilhelm I. im Jahr 1861, John Wilkes Booth, der 1865 den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln erschoss, sowie Dmitrij Vladimiroviˇc Karakozov, der 1866 einen Anschlag auf Zar Aleksandr II. versuchte. Mit diesen fünf Personen und ihren Gewalttaten ist der Terrorismus in seinen (zumindest für das 19. und 20. Jahrhundert signifikanten) politischen Richtungen – sozialrevolutionär, ethnisch-nationalistisch und rechtsradikal – fertig ausgeprägt.
Diese fünf Gewalttäter und ihre Gewaltakte werden in diesem Buch eingehend untersucht. So wird jeweils nach historischen Kontexten, politischen Dynamiken, Vorbildern, Weltbildern, Ideen und Netzwerken sowie anderen Ursachen gefragt, die dazu beitrugen, dass die Täter sich entschieden, terroristische Gewalt anzuwenden. Überdies werden die Rezeption und die Deutungen und Wirkungen analysiert, die den Erfolg der Gewalttaten ermöglichten oder ihren Misserfolg bedingten.
Dabei zeigen sich insbesondere bei den Ursachenanalysen weitreichende Gemeinsamkeiten. Erstens knüpften alle fünf Täter an das Erbe der Französischen und der Amerikanischen Revolution an. Denn sie versuchten alle fünf, die Ideen dieser Revolutionen (so wie sie sie verstanden) konsequent umzusetzen, wo ihre Umsetzung nicht zu Ende geführt war, oder sie zu verteidigen, wo sie bedroht erschienen. Zwei revolutionäre Ideen standen dabei im Mittelpunkt: die Idee der Nation und die Idee der Freiheit. Bezüglich der Nationsidee ging es um politische Freiheit und staatliche Souveränität, also konkret um Nations- und Nationalstaatsbildung – »ein Zentralproblem der Zeit zwischen der Revolution 1848/49 und den 1870er Jahren«, wie Friedrich Lenger betont. Seine Feststellung ist auf die deutschen Länder bezogen, lässt sich jedoch auf andere Regionen Europas übertragen, etwa die italienischen Staaten.Hinsichtlich der Idee der Freiheit ging es konkret um die Abschaffung von Institutionen persönlicher Unfreiheit, also um die Emanzipation aus Sklaverei und Leibeigenschaft sowie die Verleihung sozialer und politischer Rechte an die ehemals Unfreien, oder um deren Verhinderung (wie im Fall von John Wilkes Booth).
Zu den gemeinsamen gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der Gewalttaten zählen zweitens politische Blockaden in den jeweiligen Gesellschaften, die zwar immer historisch spezifisch gelagert sind, sich aber in jedem Fall auf eine dieser beiden Ideen – Freiheit und Nation (oder im Fall Booths auf beide im Zusammenhang) – beziehen. Terrorismus als spezifische Form individueller, politischer Gewalt entstand genau dort, wo – wie in Italien und Frankreich sowie in den USA – die Versprechen der Amerikanischen und der Französischen Revolution und eine revolutionäre Tradition besonders präsent, diese Versprechen jedoch nur teilweise eingelöst worden waren und die dadurch entstehenden Konflikte zwischen sozialen Bewegungen, die dafür eintraten, diese Versprechen umzusetzen, und anderen gesellschaftlichen Kräften, die eine solche Umsetzung zu verhindern suchten, weder auf dem Weg etablierter politischer Institutionen noch auf dem Weg kollektiver Gewalt gelöst werden konnten.Entscheidend für die Rezeption und weitere Geschichte des Terrorismus ist jedoch, dass diese Form der Gewaltanwendung als universal einsetzbare Taktik sofort auch von gegenrevolutionären Akteuren und politischen Gruppierungen in anderen Teilen der Welt übernommen wurde: Das zeigen die Ermordung des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln durch John Wilkes Booth sowie die Übernahme terroristischer Taktiken von Personen und Gruppen etwa in Indien oder China. Die revolutionären Forderungen nach persönlicher, politischer und nationaler Freiheit und Gleichheit oder der Kampf gegen die Verwirklichung ebendieser Forderungen blieben dabei auch für die Zukunft zentrale Antriebsmomente terroristischen Handelns.
Von größter Bedeutung für alle fünf Fälle ist drittens der in der Forschung etablierte Befund, dass es sich beim Terrorismus um eine Form von Gewalt handelt, die auf mediale Verstärkung einer symbolischen Gewalttat angewiesen ist, um politischen Erfolg erzielen zu können: »Terrorismus, das gilt es festzuhalten, ist primär eine Kommunikationsstrategie«, heißt es etwa bei Peter Waldmann.Dementsprechend ist Terrorismus – zumindest als überregionales Phänomen – nur im Kontext von Massenmedien und neuer Massenöffentlichkeit zu verstehen, also im Kontext der Transport- und Kommunikationsrevolution, die sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts durch Massenpresse, Telegrafie, Dampfschifffahrt und Eisenbahn im globalen Maßstab vollzog – am rasantesten zwischen Europa und den USA.Anders formuliert: Die Taktik des Terrorismus wurde in den Teilen der Welt erfunden und erfolgreich weiterentwickelt, wo die Transport- und Kommunikationstechnologien sowie die Medienlandschaft besonders weit fortgeschritten und wo die politisch interessierten Öffentlichkeiten besonders stark ausgeprägt waren: in Europa, Russland und den USA.
Diese Feststellung nivelliert nicht die Unterschiede, die es diesbezüglich zwischen den und innerhalb der geografischen Einheiten gab. Denn gerade den beiden Personen, die als die entscheidenden Erfinder des Terrorismus gelten müssen, die beide mit ihren Gewalttaten erfolgreich waren und die zum Vorbild für die drei Nachahmer avancierten – Felice Orsini und John Brown – standen die französische und die amerikanische Transport-, Kommunikations- und Medienlandschaften zur Verfügung, die im Vergleich zu anderen Ländern in Europa sowie auch im Vergleich zu Russland noch einmal eine Vorreiterrolle einnahmen. Die Nachahmer hingegen, die den Terrorismus zwar weiterentwickelten, mit der Taktik jedoch keinen unmittelbaren Erfolg erzielten, konnten in den deutschen Ländern, in den USA unter den Bedingungen des Bürgerkriegs und in Russland in keiner vergleichbaren Medien- und Kommunikationssituation agieren. Doch wohnt der Feststellung dieser Unterschiede kein medialer Determinismus inne, das heißt: die Transport-, Kommunikations- und Medieninfrastruktur allein entschied nicht über den Erfolg oder Misserfolg der Gewalttaten. Wie die historische Analyse zeigt, waren andere Faktoren ausschlaggebend.
Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine Form der Geschichtsschreibung, die sich am besten als »transnationale Gesellschaftsgeschichte« fassen lässt.Denn es ist eine historische Untersuchung, die in der Orientierung am Phänomen des Terrorismus gesellschaftliche Strukturen, technisch-mediale Entwicklungen und Konstellationen, politische Dynamiken, soziale Bewegungen, Gruppen und Netzwerke, individuelle Akteure, politisch-soziale Ideen, gesellschaftliche und mediale Ereignisse sowie nationale und transnationale Rezeptionsprozesse für Europa, Russland und die USA analysiert, und zwar vergleichend sowie auch im nationalen und transnationalen Zusammenhang. Um das Ineinandergreifen und die wechselseitige Bedingtheit dieser für die Entstehung des Terrorismus entscheidenden Strukturen, Prozesse, Ereignisse, Akteure und Ideen zu erfassen, ist ein breites Spektrum historiografischer Herangehensweisen notwendig.
Dementsprechend wird hier eine vergleichende Politik-, Sozial- und Ideengeschichte mit biografischen Fallstudien sowie einer transnationalen Kommunikations-, Medien- und Ideengeschichte verknüpft. Die strukturellen Ausgangsbedingungen, gesellschaftlichen Voraussetzungen, politischen Entwicklungen und Ideen sowie die sozialen Bewegungen, denen sich die Täter zugehörig fühlten, werden mit sozial-, politik- und ideengeschichtlichen Ansätzen vergleichend untersucht.Für die akteurszentrierte Analyse der Erfinder des Terrorismus sowie der von ihnen geplanten und ausgeübten Gewalthandlungen wird auf die inzwischen gut entwickelten Methoden der Biografieforschung zurückgegriffen. Mit ihrer Hilfe werden die Lebensläufe, Netzwerke, Weltbilder, Denkhorizonte, Motivationen sowie die Deutungen, Intentionen und Erwartungen der Täter historisch verortet.Da die terroristische Tat auf Rezeptionen und Reaktionen setzt, die über den Erfolg oder Misserfolg der Gewaltat entscheiden, kommt diesen Rezeptionen und Reaktionen für die Erfindung des Terrorismus eine entscheidende Bedeutung zu. Bei der Analyse dieser nationalen sowie transnationalen Rezeptionsprozesse erwiesen sich insbesondere die theoretischen und methodischen Reflexionen zur Transferforschung von Jürgen Osterhammel und Albert Wirz als inspirierend.Neben der Analyse von nationenübergreifenden Transferprozessen erforderten die Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte jedoch auch, die Reaktionen konkret in Raum und Zeit zu verankern, und das heißt: auf lokale räumliche Gegebenheiten sowie konkrete Transport- und Kommunikationsmittel zurückzuführen.Nur im Zusammenspiel all dieser Analyseebenen und -faktoren sowie der unterschiedlichen Perspektiven, die sie bedingen, lässt sich die Erfindung des Terrorismus angemessen analysieren.