Eines Abends mitten im Juni betraten drei Menschen mit gebrochenen Herzen den Buena-Vista-Park fast zur gleichen Zeit, kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Einer kam von Norden, von der Haight Street her, einer stieg von Osten, aus dem Castro-Viertel, herauf, und der dritte kam von Westen, aus den Bezirken Sunset und Cole Valley. Letzterer ging schon jetzt in die falsche Richtung, und bald würden sich alle drei verirrt haben. Sie waren auf dem Weg zu einer Sommerparty des für sein geselliges Wesen wohlbekannten Jordan Sasscock in dessen Haus, der Nummer 88 Buena Vista West (Molly strebte irrtümlich dem Anwesen Nummer 88 Buena Vista Ost zu). Jordans Partys waren Anlässe, so wohlbekannt gesellig wie er selbst, und Einladungen wurden hoch geschätzt, obwohl sie keineswegs exklusiv waren, denn es widersprach Jordans geselliger Natur, irgendjemandem das Gefühl zuzumuten, er könnte ausgeschlossen sein. Schwärme von Besuchern pilgerten um die Mitte jedes Sommers den Hügel hinauf, um Jordans Bier und Wein zu trinken, auf seinem Dach zu stehen und in seinem weitläufigen Garten zu tanzen. Jordan war ein kleiner Assistenzarzt in dem nahe gelegenen Krankenhaus, aber vor fünf Jahren, als er noch mitten im Studium steckte, war seine Großmutter gestorben und hatte ihm das Haus und den Garten und all die Schätze und die Berge von Gerümpel hinterlassen, die sie in den neunundachtzig Jahren ihres Lebens in diesem Haus dort abgelagert hatte: kostbares Mobiliar in ruinösem Zustand, Bargeld unter Matratzen, kistenweise delikates Katzenfutter im Keller und dazu fünfzehn Katzen, von denen am Tag der Party nur noch fünf unter den Lebenden weilten, denn so umgänglich Jordan auch war, für Katzen hatte er nichts übrig, und er kümmerte sich kaum um sie.
Wie die beiden anderen Parkbesucher war auch Henry spät dran. Er war sich auch nicht sicher, dass er wirklich zu den Eingeladenen gehörte, obwohl alle aus dem Krankenhaus, in dem er arbeitete, eingeladen worden zu sein schienen, und genauso unsicher war er sich, ob Jordan Sasscock ihn mochte, obwohl Jordan eigentlich alle Welt zu mögen schien. Sie arbeiteten in diesem Monat beide auf der Kinderkrebsstation, und es war hin und wieder zu Reibereien oder zu Fehlern gekommen, die fast mit Sicherheit auf Henrys Konto gingen, für die man aber Jordan zum Schuldigen erklärt hatte. Normalerweise war Henry zuständig für Schuld, was ihm nichts ausmachte, weil er es zeit seines Lebens gewohnt war, an allem Möglichen die Schuld zugeschoben zu bekommen, und weil er schon für alle möglichen, kaum je wirklich von ihm begangenen Untaten die Verantwortung übernommen und sich in der Rolle des Sündenbocks eingerichtet hatte – nagte in ihm doch der von seiner Mutter genährte und von ungewöhnlich vielen Erinnerungslücken aus der Zeit seiner Kindheit bestätigte Verdacht, er habe einmal etwas ganz unverzeihlich Falsches getan.
Noch vor drei Monaten wäre er an einem Abend wie diesem, im Hinblick auf eine Einladung wie diese, zu Hause geblieben und hätte im Geiste verschiedene Szenarios der Konfrontation, der Demütigung oder des Reingelegtwerdens durchgespielt – dass Jordan ihm diskret die Tür weisen oder ihn inmitten eines Kreises von feindseligen Gesichtern bitten würde, seine Einladung vorzuzeigen, wisse er denn nicht, dass jeder Partygast eine persönliche Einladung brauche? Aber Henry hatte ein neues Kapitel aufgeschlagen, seit er zum letzten und endgültigen Mal von seinem Geliebten abgewiesen worden war. Er verbrachte weniger Zeit im Gefängnis seiner Phantasien und wurde, ohne erkennbar eigenes Zutun, von Tag zu Tag ein besserer Mensch. Es war wirklich eine Schande, dass all seine Webfehler und Neurosen und ins Pathologische lappenden Ausfälle, die der Beziehung ziemlich abträglich gewesen waren, sich ausgerechnet jetzt zu verflüchtigen begannen, wo es zu spät war. Das zeitliche Zusammentreffen war ein Witz, und sein gebrochenes Herz war noch um einiges wunder geworden, als die Präsentation seines neuen Ichs jeden Eindruck auf Bobby verfehlte, der kürzlich für einen Monat zum Arbeiten – und keineswegs, wie er betonte, um Henry zu besuchen – in San Francisco gewesen war. Bobby hatte ihm die ausführlichste, jede Hoffnung unter sich begrabende Abfuhr am Tag vor seiner Abreise erteilt, und in den sechs Wochen, die seitdem verstrichen waren, hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Es war eine niederschmetternde Entdeckung: dass es so viele Steigerungen des Abgelehntwerdens gab und dass jedes neue «Nein» immer noch schmerzhafter sein konnte. Henry sah sich in einen Zustand endloser Qual versetzt und war doch nicht wirklich deprimiert – oder er war deprimiert auf eine Weise, die sich von jeder Depression unterschied, an die er sich erinnern konnte. Öde, alltägliche Niedergeschlagenheit war von einer glanzvolleren Art des Leidens abgelöst worden, und er fühlte sich mit den Menschen und Dingen, die ihn umgaben, intensiver verbunden als je zuvor in den vergangenen zwanzig Jahren. Wochenlang hatte er jeden Tag irgendeinen neurotischen Tick abgelegt: zwanghaftes Händewaschen, Angst vor Türklinken und dem Fußboden, Scheu vor der Berührung kranker Kinder von Rauchern oder, erst kürzlich, die Sorge, dass ihn ein einziges Glas Alkohol in ein Ungeheuer verwandeln könnte. «Menschen wie wir sollten nicht trinken», hatte ihn seine Mutter immer wieder gewarnt, «weil uns schon so viele furchtbare Dinge widerfahren sind.» Dabei schlug sie mit einer Hand eine imaginäre Kugel aus der Schussbahn, während die andere Hand den Schnitt eines Messers durch die Gurgel markierte. «Würg!», sagte sie, während der unsichtbare Lebenssaft aus ihrer Kehle strömte. «Ein Schluck, schon Alki.» Aber egal. Er hatte längst beschlossen, auf der Party eine Menge Bier zu trinken.
Eine Angst blieb allerdings, die vor dem Park selbst, Teil des Packens seiner alten Gewohnheiten ums Bleichen, Schrubben, Wringen. Der Park war von jeher ein Ort, an dem er eine Gänsehaut bekam, und alles, was den Park umgab, die Stadt und sogar der ganze Staat, hatte ihn schon unruhig gemacht, ehe auch nur die Vorstellung, sich dort aufzuhalten, unerträglich wurde. Er war in San Francisco aufgewachsen, erst als normales und dann als entführtes Kind, und die aus seiner Erinnerung verschwundenen Jahre zwischen neun und dreizehn hatten ein Leichentuch über die ganze Stadt geworfen. Die Geschichte, jedenfalls das wenige, das er zu rekonstruieren vermochte, war so bizarr wie das Verhalten, das er entwickelt hatte, als er sie nicht mehr im Vergessen einschließen konnte, und ihre Seltsamkeit war für Bobby erst so anziehend gewesen, wie sie ihn später gequält und endlich vertrieben hatte.
Es ist nur ein Park, sagte er sich, als er am Eingang stand, nur eine Ansammlung von Bäumen und Büschen, kunstvoll arrangiert, um einem wilden Wald auf einem Hügel zu gleichen. Das Schlimmste daran war eigentlich, dass Bobby ihn hierherge- führt hatte, um ihm zu sagen, dass er sich ein für alle Mal verpissen, ihn für alle Ewigkeit in Ruhe lassen, ihn nie mehr belästigen solle, und irgendetwas in Henry zeigte sich den phantasierten Resten von seelischem und körperlichem Trauma noch immer aufgeschlossen, auch wenn er sich von seinem Widerstand dagegen nicht mehr beherrschen ließ. Er gönnte sich dann eine Pause, setzte sich, nur weil er’s wissen wollte, auf genau die verfluchte Bank, auf der ihm Bobby den Laufpass gegeben hatte, und vertiefte sich in den Gedanken, wie furchtbar traurig und lächerlich zugleich der Kollaps ihrer Beziehung gewesen war und wie sich alle Bestandteile einer außergewöhnlichen Partnerschaft geradewegs zum Schlimmsten zusammengefügt hatten. Dann stellte er den Timer seines Handys auf fünf Minuten ein und saß die Frist ab, um einer gleichgültigen Welt und seinem abwesenden Liebsten zu beweisen, dass er nicht mehr derselbe war wie früher.
Henry bog von der Haight Street ab und nahm die erste Stufe hinauf in den Park, und wieder hatte er das Gefühl, dass sich eine Verwandlung vollzog, so magisch, als wachte er eines Morgens auf und fände sich in ein Pony verwandelt. Und er gönnte sich einen kleinen Tagtraum über Henry, den Hengst, denn wenn er auch den Gefängnissen seiner Phantasie entkommen war, so blieb er doch ein unverbesserlicher Gedankenspieler. Er war sicher, dass es sich um ein flüchtiges Wesen aus seinem Tagtraum handelte, als er in der Steinmauer neben der Stufe ein Gesicht zu erkennen und eine Stimme zu hören glaubte, die gut vernehmlich das Wort « Pudel ! » sagte. Er hielt inne und fixierte das Mauerwerk: Es wurde schon dunkel, und was er sah, war nur eine schwache Ahnung der Muster auf dem Gestein. Er schüttelte den Kopf und setzte einen Huf vor den anderen, tiefer hinein in den Park.
Ein Stück weiter nördlich suchte Will nach einem Eingang. Er war die Stufen von der Waller Street heraufgekommen und hatte erwartet, eine weitere Treppe vorzufinden, aber da waren nur der Fußweg, der den Park umrundete, und ein ziemlich undurchdringliches Gestrüpp, das ihn von dem Weg trennte, der sich an der Flanke des Hügels emporwand. Jenseits des Gestrüpps glaubte er jemanden zu sehen und schloss daraus, dass sich in der Nähe ein Zugang befinden müsse. Er war genervt und zu spät dran und hatte Schiss, den Park zu dieser Abendstunde zu betreten, weil die Chancen auf unerwünschte und handgreifliche Anmache sich exponentiell erhöhten, je weiter der Sonnenuntergang zurücklag. Im Castro District lebte er inmitten eines Ozeans von Schwulen, er mochte dieses Viertel und die Nachbarn und kannte keine Vorurteile. Allenfalls empfand er eine Art Verwandtschaft mit den einsamen Seelen, die durch das dichte Dunkel irrten, sich aneinander rieben und sich mit ihren Zigaretten versehentlich Brandwunden zufügten. Vor gar nicht langer Zeit war er noch selbst in ähnlicher Mission unterwegs gewesen. Er hatte in anderen Revieren gewildert, aber er wusste, wie man sich fühlte, wenn man einsam war und sich zu intimen Akten hinreißen ließ, die das Gefühl der Einsamkeit nur noch verstärkten. Das Schreckliche, das ihn zu einem erbärmlicheren Burschen machte als selbst die abstoßendsten unter diesen Nachtgestalten im Park, war dabei die Tatsache, dass er solche Dinge getrieben hatte, während die wunderbarste Frau der Welt an seiner Seite war. Er hatte die Beziehung untergraben, hatte sie mit schleimigen Tunneln unterhöhlt, bis sie schließlich zusammenbrach, als sein Betrug und sein unberechtigtes Gefühl, nicht glücklich zu sein, offenbar wurden.
Will seufzte und merkte plötzlich, dass er, von seinen müßigen Gedanken abgelenkt, reglos auf dem Bürgersteig stand, während es immer finsterer wurde. Er sah auf die Uhr und geriet wieder in Sorge wegen seiner Verspätung. Jordan Sasscock war mit ihnen beiden befreundet, mit Will und Carolina – der einzige gemeinsame Freund, den er nicht verloren hatte, als Carolina ihn verließ, und einer der wenigen in seinem gesamten Freundeskreis, der ein gewisses Mitgefühl gezeigt hatte, gemischt aus Abscheu und Verständnis in einer Weise, die Will das Gefühl erlaubte, wenigstens ein Mensch habe ihm verziehen. Es war ohne weiteres möglich – Jordan hatte da eine Andeutung gemacht –, dass auch Carolina heute Abend anwesend sein würde. Und Jordan hatte weiter angedeutet, dass sie ihrerseits von Wills möglicher Anwesenheit wusste. Es war die beste Nachricht seit einem Jahr.
Er senkte den Kopf und schob sich durch das Gestrüpp, der Boden war rutschig, aber auf einer Handvoll Laub fand er Halt. Mit ein paar scharrenden Schritten hatte er den Abhang über- wunden und befand sich auf dem Fußweg. Als er sich die Hände an seiner Hose abwischte, hörte er eine flüsternde Stimme, die sehr deutlich so etwas wie «Pudel?» sagte.
«Nichts da ... verschwinde!», rief Will, der sich zusammenreimte, dass da jemand anbot, ihm den Pudel zu machen, und was das bedeuten mochte, wagte er sich nicht vorzustellen. Er eilte weiter, den Weg an der Flanke des Hügels entlang nach oben, wo er, er war sich fast sicher, auf eine Straße stoßen würde, die mitten durch den Park und direkt zu Jordans Haus führte.
Weiter oben, auf der anderen Seite des Hügels, gelangte Molly, nachdem sie im Nebel ein wenig in Ashbury Heights herumgewandert war, endlich zu dem westlichen Parkeingang nahe der Kuppe. Hätte sie gewusst, dass sie in der falschen Richtung unterwegs und schon einige Blocks an Jordans Haus vorbeimarschiert war, hätte sie ihre Absicht, die Party zu besuchen, womöglich aufgegeben. Sie fühlte sich schon längst nicht mehr wohl in ihrer Haut – so wie immer, wenn sie außer Haus ging und überall glaubte, die Leute zerrissen sich die Mäuler über sie, über «dieses bedauernswerte Mädchen», «das arme Ding da drüben» –, und sie hatte in jüngster Zeit gelernt, kleinere Katastrophen und Liebesunfälle und Missgeschicke so frühzeitig kommen zu sehen, dass sie ihnen ausweichen konnte. Sich auf dem Weg zu einer Party, die man gar nicht besuchen wollte, zu einem Date, für das man weder bereit war noch Interesse aufbrachte, zu verirren, war ein Zeichen, von irgendjemandem gesandt, dass man besser auf der Stelle kehrtmachen und nach Hause gehen sollte. Sie setzte sich auf den Bordstein und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen – es kam ihr vor, als hätte sie den größten Teil des vergangenen Jahres in dieser Haltung verbracht, die sie in letzter Zeit immer häufiger einnahm, um ihre Gedanken zu ordnen und nicht, weil man in ihr gut weinen konnte – und sann einen Augenblick über die Sachlage nach. Sie spürte die Anziehungskraft ihres fernen Sofas an der Ecke Sixteenth und Judah Street, aber sie wusste, dass es zu spät war, sowohl für sie selbst wie aus dem Blickwinkel der anderen, um noch umzukehren. Wenn sie sich nicht blicken ließ, würden alle denken, dass sie Ryans Tod niemals überwinden könnte. Was in Wahrheit auch stimmte, sie schaffte es nicht, aber das wollte sie die alten Klatschbasen, die in den Herzen aller ihrer Freunde zu Hause schienen, auf keinen Fall merken lassen. «Es ist nicht alles verloren», sagte sie, wiederholte ein Mantra, das einmal ein Witz gewesen war, als sie es einem lachhaften Ratgeber entlehnt hatte mit Tipps, wie der Selbstmord eines Freundes zu überwinden sei. Das Buch war ihr von einer auswärts lebenden Tante zugeschickt worden, die zu der kleinen Fraktion ihrer weitläufigen Familie gehörte, die sich nicht Jesus verschrieben hatte, und obwohl es weniger lächerlich war als die zahllosen christlichen Lebenshilfe-Fibeln, die ihren Weg säumten, hatte Molly in den ersten Monaten nur schmunzeln können angesichts so sinnloser und banaler Sprüche wie: «Es ist nicht alles verloren. Es ist nicht deine Schuld. Du wirst wieder geliebt werden, von einem, der nicht selbstmordgefährdet ist.» Doch als es ihr über die Monate immer schlechter ging, wurde das Buch zu ihrer weltlichen Bibel und ihrem besten Freund, und einmal hatte sie sogar einen feuchten Traum von der Autorin, einer massigen Lesbe mit dichter grauer Pudelfrisur, die auf dem riesigen Umschlagfoto prangte, von Kopf bis Fuß in lila Gewänder gehüllt.
Die Verabredung, zu der sie an diesem Abend unterwegs war, galt niemand anderem als Jordan Sasscock selbst. Dass das eine Ehre war, ging an ihr vorbei, denn sie kannte ihn kaum. Er war in ihren Laden gekommen, um eine ihrer Kolleginnen zu besuchen, und hatte sich dann immer öfter blicken lassen, hatte immer teurere Blumengestecke und schließlich immer teurere Designerstücke gekauft, was in der Anschaffung eines sündteuren skandinavischen Schaumstoffsofas gipfelte, das einem Felsbrocken nachempfunden war. «So was hab ich seit Jahren gesucht!», rief er und lümmelte sich hinein, wobei er, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und mit einem Bizeps, dessen Wölbung sich im falschen Felsen wiederholte, sehr anziehend aussah.
Alle anderen im Laden, die Männer genauso wie die Frauen, himmelten ihn an, aber Molly war er anfangs kaum aufgefallen, und auch später dachte sie nur, dass er eben Blumen und gutes Design zu schätzen wusste – bis plötzlich seine Einladung kam. Es war ein seltsamer Moment. Die Zeit schien stehenzubleiben und alles schien zu erzittern, nicht nur die Blumen, sondern die Farbe in ihren Blüten und die Luft im Raum, und die Porzellanglocken über der Tür waren ganz dicht davor, einen Klang von sich zu geben, alles war um ein Winziges aus der Wirklichkeit verschoben. «Ich hab für kommenden Donnerstag ein paar Leute eingeladen, und ich möchte, dass Sie mein Ehrengast sind», hatte er gesagt. Als sie ihn nur anstarrte und über das seltsame Zittern staunte, das sich über sein Gesicht und den ganzen Körper stahl, fügte er hinzu: «Sie können auch irgendwann einfach dazustoßen. Sie müssen nicht den Ehrengast spielen, falls Ihnen das eine Last wäre. Überlegen Sie sich’s einfach.» Er nannte ihr seine Adresse, von der in ihrem Gedächtnis nichts haften blieb.
«Alles klar», sagte sie, ohne weiter darüber nachzudenken. «Wir sehn uns.» Sie hatte seinen jüngsten Einkauf verpackt, einen hauchzarten Porzellanteller mit einem handgemalten Rand aus blauen Blümchen, den sie ihm jetzt, ohne zu lächeln, überreichte. Er spürte anscheinend, dass er seinem Glück nachhelfen konnte, indem er nichts mehr sagte, also lächelte er nur und nickte. Als er ging, stieß ihre Chefin einen Quiekser des Entzückens aus. «Du hast ein Date mit Jordan Sasscock!», rief sie, packte Molly bei den Schultern und hüpfte auf und ab wie närrisch.
«Das ist kein Date», sagte Molly. «Ich gehe nur zu seiner Party.» Es dauerte noch ein Stunde, bis sie ihre Zusage vollends bedauerte und für die größte Dummheit hielt, die sie jemals begangen hatte. Die folgenden paar Tage verbrachte sie damit, sich vorzusagen, sie sei nicht bereit für so was, sei doch bereit, sei doch nicht bereit. Als sie jetzt auf der Bordsteinkante saß, das Gesicht in den Händen, spürte sie die Gewissheit, nicht bereit zu sein, wenn auch nur, weil sie noch Liebe oder jedenfalls etwas für Ryan empfand. Das Gefühl, das sie bei Tag und Nacht beherrschte, hatte nichts mehr mit dieser köstlichen, belebenden Besessenheit gemein, von der sie an jedem einzelnen Tag vor seinem Tod erfüllt gewesen war, als er Anfang und Ende ihrer Wahrnehmung zu sein schien, sein Körper, Geist und seine Seele ein unerschöpflicher Freudenquell. Seit dem Tag, da sie nach Hause gekommen war und ihn, eine Schlinge um den Hals, am Baum in seinem Garten hängend aufgefunden hatte, war nur die Art, nicht die Stärke ihrer Gefühle eine andere geworden. Sie hatte ihn geheiratet in der Sekunde, da sie ihn zum ersten Mal sah, und noch immer gehörte sie ihm mit jeder Faser, zog er alles an ihr an. «Jordan Sasscock!», rief sie laut, das Gesicht aus ihren Händen lösend, und irgendwie fühlte sie sich danach besser. Sie war sicher, eine Stimme antworten zu hören, aber statt «Halt die Klappe!» oder «Ja, Süße?» sagte diese Stimme ganz leise: « Pudel. »
«Lass mich in Frieden», erwiderte sie und war im Zweifel, ob sie sich an Jordan wandte oder an Ryan oder an feixende Stimmen, die nicht nur Sinnestäuschung waren, nicht nur von ihr vernommen werden konnten. «Es ist doch nur eine Party», sagte sie zu sich selbst, als nichts und niemand antwortete. «Was könnte denn im schlimmsten Fall passieren?» Sie stand auf, dachte nicht weiter über schlimme Fälle nach, drehte sich um und stellte fest, dass sie den Eingang im tiefen Schatten übersehen und dicht daneben gesessen hatte. Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, senkte den Kopf und trat hinein in den Park.