Immaculée sah als erste, dass Veronica vor der Treppe zum Schlafsaal am Boden lag.
»Hilfe, Hilfe! Veronica ist tot, sie ist gefallen und bewegt sich nicht mehr.«
Die Schülerinnen, die sich im Speiseraum gerade an die Tische gesetzt hatten, eilten zur Treppe vor dem Schlafsaal. Virginia, die als erste ankam, beugte sich über Veronica. »Nein, sie ist nicht tot, sie ist nicht tot, sie ist ohnmächtig, sie ist auf der Treppe gestürzt und mit dem Kopf gegen eine Stufe geschlagen.«
»Sicher ist sie betrunken«, sagte Gloriosa, »leichtsinnig und schamlos wie sie ist, war sie bestimmt im Cabaret de Leonidas und hat sich von den Männern Drinks spendieren lassen.«
»Vielleicht wurde sie auch vergiftet?«, sagte Immaculée, »hier gibt es so viel Neid.«
Schwester Gertrude, die auch als Krankenschwester arbeitete, bahnte sich mit Mühe einen Weg durch die Schülerinnen. »Steht hier nicht rum, lasst sie atmen, und helft mir lieber, sie ins Krankenzimmer zu tragen.«
Schwester Gertrude nahm Veronica bei den Schultern, Virginia hob die Beine und drängte Gloriosa zurück: »Du, fass sie bloß nicht an!«
Dann wurde Veronica auf das Metallbett im Krankenzimmer verfrachtet. Virginia wäre gerne bei ihrer Freundin geblieben, aber Schwester Gertrude bat sie, hinauszugehen und die Tür zu schließen. Einige Schülerinnen blieben davor stehen, um die Diagnose der betreuenden Schwester abzuwarten. Diese öffnete die Tür einen Spalt und erklärte: »Nichts Schlimmes, nur ein Malaria-Schub, ich werde sie behandeln, aber bitte stört sie nicht, ihr habt hier nichts zu suchen.«
Virginia konnte lange nicht einschlafen. Was war mit Veronica passiert? Hatte der verrückte Fontenaille etwas mit ihr angestellt? Furchtbare Ahnungen quälten sie. Die Weißen hier glaubten, ihnen sei alles erlaubt: Sie waren ja weiß. Virginia warf sich vor, ihre Freundin nicht zurückgehalten oder wenigstens begleitet zu haben. Zu zweit hätten sie sich verteidigen können, sie hatte ihr kleines Messer, sie hätte Veronica noch rechtzeitig zur Flucht überredet. Als am Morgen nach dem Wecken die anderen Mädchen in den Waschraum und die Schwestern in die Frühmesse gingen, schlich sich Virginia heimlich ins Krankenzimmer. Veronica saß auf dem Bett, den Kopf über eine große Schüssel gebeugt. Als sie ihre Freundin sah, stellte sie die Schüssel auf dem Nachttisch ab: »Schau, Schwester Gertrude kümmert sich gut um mich, sie hat mir Milch gebracht.«
»Was ist mit dir? Erzähl, bevor die Schwester zurückkommt.«
»Es ist schwierig, als wäre ich in einem schlechten Traum, einem Albtraum. Ich weiß nicht, ob es stimmt, was ich erzähle. Die Weißen sind schlimmer als unsere Giftmischer. Ich war also wie verabredet am Felsblock. Der Jeep wartete dort, aber am Steuer saß nicht Fontenaille. Der Mann war jünger, ein Tutsi natürlich, sicher einer der Ingabos, wie er sie nennt. Im großen Saal stand der Boy mit der goldverzierten Uniform und bot mir Orangenlimonade an. Das Getränk schmeckte sonderbar. Dann kam Fontenaille. Er war in ein weißes Tuch gehüllt, das eine Schulter unbedeckt ließ. ›Deine Freundin ist nicht mitgekommen?‹ ›Nein, sie ist krank.‹ ›Pech für sie, dann wird sie ihre Wahrheit nicht erfahren.‹ Was dann geschah, weiß ich nur noch in Bruchstücken. Alles war so dumpf, und etwas machte mich willenlos. Irgendeine Kraft oder Stimme konnte über mich bestimmen. Ich sah mich im Tempel stehen und sah aus wie die gemalten Frauen an der Wand. Ich weiß nicht, wer mich ausgezogen hatte, meine Brüste waren nackt und das goldene Gewand, in das mich jemand gekleidet hatte, so gut wie durchsichtig. Aber ich schämte mich nicht. Ich fühlte mich wie in einem Traum, in den man aus- und einsteigen kann, und beobachtete mich darin selbst. Um mich herum standen Krieger, wie von den Wandfresken herabgestiegen. Doch sahen sie nicht ganz so aus wie die Intore. Die Männer trugen nichts als Lendenschurze, Lanzen und große Schilder aus Rindsleder. Ich weiß nicht, ob ihre eigenen Haare so wild abstanden oder ob es Perücken waren. Jetzt glaube ich, es müssen die Krieger gewesen sein, von denen Fontenaille gesprochen hatte. Ich kam mir vor wie in einem Film. Fontenaille ließ mich auf dem Thron Platz nehmen und setzte mir die langhörnige Krone auf. Ich sah ihn wie durch eine Nebelwand: Er sprach unverständliche Worte und gestikulierte wie ein Priester bei der Messe. Dann wurde ich wohl bewusstlos. Vielleicht fiel ich vom Thron. Daran erinnere ich mich nicht. Als ich wieder zu mir kam, lag ich im Jeep. Der junge Boy fuhr. Ich steckte wieder in meiner Schuluniform. In der Nähe der Schule ließ Fontenaille mich aussteigen und sagte: ›Pass auf, dass dich niemand sieht, sei vorsichtig, erzähl keinem davon. Und schau mal in deinen Büstenhalter, da ist was für dich drin.‹ Ich schleppte mich hinauf in den Schlafsaal. In meinem Büstenhalter fand ich zehn Tausender-Scheine. Die versteckte ich in meinem Koffer. Als ich wieder hinunterging, war mir plötzlich schwindelig, ich fiel.«
»Hat er was mit dir gemacht?«
»Nein, nein, er hat mich nicht angefasst. Er ist nicht wie die anderen Weißen, die einen ins Bett kriegen wollen. Fontenaille will nur seine verrückten Ideen nachspielen. Ich bin seine Isis.«
»Warum hat er dich dann betäubt?«
»Weiß ich nicht. Er hatte Angst, dass ich nicht tue, was er sagt, dass ich mich über ihn lustig mache. Er wollte, dass alles so abläuft, wie er es sich erträumt hat, also gab er mir sein Mittel zu trinken, nur leider viel zu viel, er ist ein schlechter Giftmischer. Meine Neugierde hat auch Grenzen. Wahrscheinlich hätte ich ohne das Gift sein lächerliches Spiel nicht mitgespielt. Bei dem Geld war auch ein Brief, in dem er bedauert, mich betäubt zu haben, doch traute er mir nicht und hatte daher keine andere Wahl: Die Szene musste gelingen. Er hofft auf mein Verständnis, und dass ich trotzdem wiederkomme. Nur ich könnte die Göttin sein. Er lädt mich über die großen Ferien zu sich ein, er würde mir das Studium bezahlen, auch in Europa, egal wie viel es kostet ...«
»Und du glaubst seinen Versprechungen?«
»Die Vorstellung ist toll.«
»Du bist genauso verrückt wie er, irgendwann hältst du dich wirklich für die Göttin. Du weißt, was mit uns Tutsi passiert ist, als sich einige auf das Spiel der Weißen eingelassen haben. Meine Großmutter hat mir davon erzählt: Bei ihrer Ankunft fanden die Weißen, dass wir uns wie Wilde kleideten. Sie verkauften in großen Mengen Glasperlen und weißen Stoff an die Frauen der Stammesführer und zeigten, wie sie sich damit kleiden und frisieren sollten. Die Frauen sollten aussehen wie Äthiopierinnen, Ägypterinnen, auf deren Suche sie hier bei uns waren. Endlich gab es lebende Beweise. Die Frauen wurden zu Abbildern ihrer Fantasie.«