Berechtigte Fragen

Leseprobe "Wann ist ein Kind einfach ein normales Kind, und ab wann ist es ein krankes Kind? Wann müssen und sollten wir es Kind sein lassen, und ab wann muss und sollte es behandelt werden? Und wie?"
Berechtigte Fragen

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Vorwort

»Lassen Sie sich durch mich nicht stören«

Ein Friseursalon in Berlin. Kleiner Laden. Alles etwas altmodisch. Es ist nicht viel los. Der Friseur schneidet einem Jungen die Haare. Neben ihm sitzt ein Mädchen, seine Freundin. »Ich bin bloß Publikum«, erklärt sie dem Friseur. »Lassen Sie sich durch mich nicht stören.« Und dann legt die Kleine los. In einem fort plappernd schmiert sie ihrem Hund Schaum um die Schnauze und tut so, als würde sie ihn rasieren. Dann liest sie die Werbeplakate, die an den Wänden hängen, laut vor, läuft durch den Laden, quatscht einen neuen Kunden an, der gerade hereinkommt, wechselt von einem Bein aufs andere und von einem Thema zum nächsten. Und das ohne Pause.

Wenn Ihnen jemand diese Geschichte erzählen würde, was würden Sie denken? Tauchen vor Ihrem inneren Auge auch sofort vier Buchstaben auf? Und haben Sie auch sofort überlegt, ob das Mädchen das hat? ADHS. Vier Buchstaben. Ein massives Problem. Denn sie stehen längst nicht mehr nur als Abkürzung für die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, sondern für eine Reihe von brennenden Fragen, die unsere Gesellschaft derzeit umtreiben.

Wann ist ein Kind einfach ein normales Kind, und ab wann ist es ein krankes Kind? Wann müssen und sollten wir es Kind sein lassen, und ab wann muss und sollte es behandelt werden? Und wie? Mit Psychopillen? Fragen, an denen wir uns abarbeiten. Fragen, die viele Eltern verunsichern, die quer durch die Familien, quer durch die Schulen, die Arztpraxen und quer durch alle Gesellschaftsschichten gehen. Fragen, auf die wir bislang keine befriedigenden Antworten und für die wir schon gar keine Lösungen gefunden haben. Und das macht die Sache so beängstigend. Dass wir nicht genau wissen, wie wir mit den Kindern umgehen sollen, die als verhaltensauffällig gelten und von denen es immer mehr zu geben scheint.

ADHS. Dazu hat heutzutage jeder mindestens eine Geschichte auf Lager. Die Freundin erzählt, dass ihr Sohn wirklich klug, aber ständig mit den Gedanken woanders sei. Ohne Tablette würde er nie seine Hausaufgaben schaffen. Sie wolle aber doch, dass er gut in der Schule mitkomme. Schließlich gehe es um seine Zukunft. Oder die Grundschullehrerin, die vor einer großen Klasse mit 28 Kindern steht, von denen fünf stark verhaltensauffällig sind. Da ist sie froh, wenn das eine oder andere davon eine Pille nimmt und den Unterricht nicht sprengt. Und die Nachbarin, deren Tochter beim Arzt unangenehm auffiel, weil sie sich nicht untersuchen lassen wollte. Daraufhin hat der Doktor das Mädchen vorsichtshalber gleich auch mal auf ADHS getestet.

Verhaltensgestörte Kinder – gibt es tatsächlich immer mehr von ihnen? Oder hat sich unser Blick auf die Jüngsten in unserer Gesellschaft verschoben? Die eingangs beschriebene Szene stammt übrigens aus Erich Kästners Kinderbuchklassiker Pünktchen und Anton. Pünktchen? Ist das nicht eine jener liebenswerten Kinderfiguren, über deren Streiche wir so gerne gelacht haben? Ja. Genau. So, wie auch über Huckleberry Finn, Michel aus Lönneberga und Pippi Langstrumpf. Und heute? Bescheinigen wir all diesen Kindern eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung.

Was ist passiert? Zwischen der Zeit, als Kinder offenbar noch Kinder sein konnten, und heute, wo wir genau das nicht mehr ertragen können? Wo Kinder, die sich wie Pünktchen und die anderen verhalten, nicht mehr gesellschaftsfähig sind und deshalb immer öfter mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden? Es ist ja nicht nur ADHS. Wenn Kinder zu verträumt sind, nennt man es ADS. Und immer häufiger werden ihnen auch Autismus und Depression bescheinigt. Unsere Kinder bekommen immer mehr Diagnosen. Haben angeblich Krankheiten, von denen bislang nur Erwachsene betroffen waren oder die es vor zehn Jahren noch nicht gab. Und sie bekommen immer häufiger Medikamente dagegen. Medikamente, die für Erwachsene produziert werden und schwere Nebenwirkungen wie Fettleibigkeit oder Diabetes auslösen können. Im schlimmsten Fall sogar Suizid.

Wie kann das alles sein? Wir haben uns auf die Suche gemacht. Mit Wissenschaftlern gesprochen, die seit Jahren ein »Krankmachen« von Kindern beobachten und davor eindringlich warnen. Mit Eltern, die unter Druck gesetzt werden und keinen anderen Ausweg sehen als die Pillen. Mit Lehrern, die Angst vor dem Unterricht haben, völlig ausgelaugt sind, weil Kinder nicht mehr beschulbar sind. Mit Ärzten, die von der Pharmaindustrie umworben werden, damit sie Psychopillen verschreiben. Mit Pharmainsidern, die ihre Tricks verraten, mit denen sie Medikamente auch an die jüngsten Patienten bringen. Und mit Kindern, die schwerste Nebenwirkungen erlitten haben: Jungen, denen Brüste wuchsen. Junge Erwachsene, die sagen, ihr Leben sei durch die Psychopillen zerstört worden. Mit Eltern, deren Kinder den Tablettenkonsum nicht überlebten.

Und mit Eltern, Lehrern und Ärzten, die bei all dem nicht mehr mitmachen wollen und uns zeigen, dass es auch anders geht – ohne Medikamente. Verhaltensauffällige Kinder sind ein großer Markt. Denn sie sind ja angeblich krank. Und damit sie (wieder) so werden, wie sie sein sollen, müssen sie zuerst gesundgemacht werden. Sagen zumindest die, die daran verdienen. Denn die neuen Krankheiten sind ein Milliardengeschäft. Milliardenbeträge, die in die Taschen der Pharmaindustrie wandern. Aber es gibt auch noch andere, die an unseren Kindern mitverdienen wollen. Die dafür sorgen, dass sie so werden, wie wir sie haben wollen. Brummkreisel und Schaukelpferde, die Pünktchen und Anton sicher gut gefunden hätten, stehen längst nicht mehr auf den Wunschlisten. Einfach nur spielen, das geht heute kaum mehr. Statt Laubwerfen oder Schneeballschlachten gibt es heute waldpädagogische Früherziehung. Die sogenannten Helikopter-Eltern überlassen nichts dem Zufall. Kindheit wird akribisch durchgetaktet. Alles zum Wohl des Kindes.

Längst ist die Optimierung in den Kinderzimmern angekommen – auch die äußere. Wussten Sie, dass sich immer mehr Kinder eine Schönheitsoperation wünschen? Dass junge Mädchen Hormonpillen schlucken, um bloß keine Pickel zu bekommen? Ja, es ist eine Menge passiert seit Erich Kästner. Streiche à la Pünktchen und Anton sind out. Was an deren Stelle zu treten droht, taugt kaum für ein Kinderbuch. Sie sollten darüber Bescheid wissen. Denn es ist höchste Zeit zu handeln.

02.04.2015, 13:45

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