Grenzen und Bündnisse

Leseprobe "Küsse und harte Küsse. Die einen machen vor dem Körper Halt, die anderen kennen keine Grenzen. Die harten Küsse sind weder gut noch schlecht. Sie existieren, wie Bündnisse. Und hinterlassen immer einen Geschmack nach Blut."
Grenzen und Bündnisse

Foto: Filippo Monteforte/AFP/Getty Images

1. Teil

KÜSSE

Küsse schicken wir uns im Plural. Viele Küsse. Doch jeder Kuss ist einzigartig , wie Schneekristalle. Wichtig ist nicht nur, wie er gegeben wird, sondern auch, wie er entsteht: die Absicht, die ihn trägt, die Anspannung, die ihn begleitet. Und dann, wie er empfangen oder abgewehrt wird, mit welcher Gefühlsbewegung – Fröhlichkeit, Erregung, Verlegenheit – man ihn aufnimmt. Ein Kuss, in der Stille ge geben oder durch Lärm abgelenkt, tränenfeucht oder von Gelächter begleitet, von der Sonne gekitzelt oder im unsichtbaren Dunkel.

Küsse haben eine präzise Ordnung. Die wie ein Stempel verabreichten Küsse, Lippen auf Lippen gepresst. Leidenschaftlicher Kuss, unerfahrener Kuss. Frühreifes Spiel. Schüchternes Geschenk. Ihre Gegenspieler: Zungenküsse. Die Lippen treffen nur aufeinander, um sich zu öffnen, ein Austausch zwischen Papillen und Geschmacksknospen, von Säften und Liebkosungen des Zungenmuskels in der mit Zähnen bewehrten Mundhöhle. Ihr Gegensatz sind die mütterlichen Küsse. Lippen, auf Wangen gedrückt. Küsse, die ankündigen, was gleich danach kommt: die feste Umarmung , Streicheln, die Hand auf der Stirn, um das Fieber zu fühlen. Väterliche Küsse streifen über Schläfen, es sind bärtige Küsse, stechend, ein flüchtiges Zeichen von Nähe. Dann die Abschiedsküsse, die die Haut kaum berühren, und die Küsse geiler Alter, heimlich geraubt, kleine sabbernde Überfälle, die eine flüchtige Intimität genießen.

Harte Küsse haben keine Ordnung. Sie können Schweigen besiegeln, Versprechungen geben, Urteile fällen oder Absolution erteilen. Es gibt harte Küsse, die nur leicht das Zahnfleisch berühren, andere, die fast bis in den Rachen vorstoßen. Doch immer besetzen die harten Küsse allen verfügbaren Raum, sie benutzen den Mund als Zugang. Der Mund ist nur der Brunnen, in den man eintauchen muss, um herauszufinden, ob es dort eine Seele gibt, ob der Körper wirklich von etwas anderem bewohnt wird oder nicht – der harte Kuss lotet diesen unergründlichen Abgrund aus, oder er trifft auf eine Leere. Die taube, dunkle Leere – das Versteck.

Es gibt eine alte Geschichte, die sich die Novizen der Barbarei erzählen, sie wird unter denen weitergegeben, die heimlich Kampfhunde züchten: armselige Geschöpfe, unfreiwillig einem Schicksal aus Muskeln und Tod unterworfen. Diese Legende ohne jeden wissenschaftlichen Beweis erzählt, dass Kampfhunde schon kurz nach der Geburt ausgewählt werden. Die Abrichter studieren den Wurf eiskalt und unerbittlich. Es geht nicht darum, den auszusuchen, der stark erscheint, den Schmächtigen auszusondern, zu begünstigen, wer die Geschwister von der mütterlichen Zitze vertreibt, oder herauszufinden, wer den gefräßigen Bruder bestraft. Die Prüfung läuft anders: Der Züchter reißt den Welpen von der Zitze, packt ihn im Nacken und bewegt seine kleine Schnauze vor seinem Gesicht hin und her. Die meisten Welpen lecken die Wange. Einer aber – noch halb blind, zahnlos, das Zahnfleisch nur an die weiche Mutterbrust gewöhnt – versucht zu beißen. Er will die Welt kennenlernen, will sie zwischen den Zähnen haben. Das ist der harte Kuss. Dieser Hund, egal ob Weibchen oder Männchen, wird zum Kämpfer abgerichtet.

Küsse und harte Küsse. Die einen machen vor dem Körper Halt, die anderen kennen keine Grenzen. Sie wollen sein, was sie küssen.

Die harten Küsse sind weder gut noch schlecht. Sie existieren, wie Bündnisse. Und hinterlassen immer einen Geschmack nach Blut.

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Es ist da

»Es ist da!«
»Wie, es ist da?«
»Ja, es ist da.«
Stille am anderen Ende, nur Atem krächzte ins Mikrophon.

»Bist du sicher?«
Seit Wochen wartete Nicolas auf diesen Anruf, doch jetzt,
wo Tucano es ihm sagte, musste er sich den Satz wiederholen lassen, um definitiv zu wissen, dass der Tag endlich gekommen war, um die Nachricht im Geiste voll auszukosten. Und bereit zu sein.

»Ich laber nur rum? Mann, ich sag’s dir doch die ganze Zeit. Ist gerade geboren, adda murì mammà, hundertpro, die Koala liegt praktisch noch im Kreißsaal ... Dentino ist nirgendwo zu sehen, bin sofort zum Krankenhaus gefahren.«

»Logisch, der hat nicht die Eier, sich blicken zu lassen. Wer sagt, dass das Kind geboren ist?«

»Ein Krankenpfleger.«

»Was soll denn der Scheiß jetzt? Wo kommt dieser Krankenpfleger her?« Allgemeine Informationen genügten Nicolas nicht mehr, diesmal wollte er Einzelheiten. Er konnte sich keine improvisierten Aktionen erlauben, nichts durfte schiefgehen.

»Hat für Biscottinos Vater gearbeitet, Enzuccio Niespolo heißt er. Ich hab ihm gesagt, die Koala ist unsere Freundin, und wir wollen als Allererste wissen, wenn das Baby kommt.«

»Und wie viel hast du ihm versprochen? Nicht dass das ein Bluff ist, weil du ihm keine hundert Euro gegeben hast?«

»Nein, hab ihm versprochen, er kriegt ’n iPhone. Der konnte es gar nicht erwarten, dass das Kind kommt. Hing mit dem Ohr immer direkt über Koalas Bauch.«

»Dann müssen wir schnell machen. Morgen, gleich wenn die Sonne aufgeht.«

Bei Tagesanbruch war er angezogen, bereit. Das Bett, auf dem er saß, war kaum zerwühlt, er hatte keine Minute geschlafen. Er schloss die Augen und atmete tief ein, dann stieß er die Luft aus, ein Zischgeräusch. Dies war der Tag. Er musste klar im Kopf bleiben, sich nicht von Erinnerungen aufweichen lassen. Er hatte eine Mission zu erfüllen, danach würde Zeit genug für alles andere sein.

Tucanos Stimme unten auf der Straße war wie ein Schalter, der den Strom anstellt. Nicolas steckte sich die Desert Eagle in die Jeans und war im Nu draußen.

Tucano trug schon seinen Integralhelm.

»Handy dabei?«, fragte Nicolas, während er seins einsteckte. »Ist noch in der Originalverpackung, oder?«

»Hab alles im Griff Maraja.«

»Dann los, Blumen besorgen.« Nicolas setzte sich hinter den Lenker und fuhr langsam los. Er verspürte eine Ruhe, die ihm den ganzen Körper wärmte. In einer Stunde würde alles wieder in Ordnung sein. Dann war das Kapitel abgeschlossen.

»Verdammte Asis ...«, sagte Tucano, »immerzu heulen, dass sie nichts verdienen, und dann den Tag verpennen.«

Der Rollladen des Blumenhändlers war geschlossen, wo sie andere Blumenstände finden konnten, wussten sie nicht, und auf jeden Fall mussten sie sich beeilen. Nicolas bremste scharf, Tucanos Helm stieß gegen seinen.

»He, Maraja, Madonna!«

»Genau, die Madonna ...«, sagte Nicolas und ließ den Scooter, sich mit den Füßen abstützend, zurück zum Anfang der Gasse rollen. Eine Andachtsnische im Schutz eines eisernen Käfigs, dessen Gitter, von einem kleinen Leuchtturm erhellt, in dem verfallenen Gemäuer wie Gold glänzte. Fotos von Votivgaben und Heiligenbildchen von Padre Pio bedeckten die Madonna fast ganz, doch sie lächelte aufmunternd, und Nicolas erwiderte ihr Lächeln. Er stieg vom T-Max, warf ihr einen Kuss zu, wie seine Großmutter es ihn gelehrt hatte, stellte sich auf Zehenspitzen und zog einen Strauß weißer Calla aus einer Vase.

»Wird die Madonna dann nicht sauer?«, fragte Tucano.

»Die Madonna wird nie sauer. Darum ist sie ja die Madonna.« Nicolas zog den Reißverschluss seines Sweatshirts hoch, um die Calla zu verstecken. Sie fuhren mit quietschenden Reifen los. In diesem Moment schritt Pesce Moscio, wie vereinbart, zur Tat.

Gleich hinter dem Gittertor erwartete sie der Krankenpfleger, in eine Daunenjacke gehüllt, mit den Füßen auf den Asphalt stampfend. Tucano winkte ihm zu, er hüpfte weiter auf der Stelle, allerdings war es jetzt weniger der Versuch, die Kälte zu vertreiben, als die leise Angst, die beiden Typen auf dem Motorroller mit ihren Integralhelmen könnten etwas anderes vorhaben, als ihm für seine Gefälligkeit zu danken.

»Bring uns rein, wir wollen dem Baby ’ne Überraschung bereiten«, fing Nicolas an.

Der Pfleger versuchte, Zeit zu gewinnen, um die Lage zu sondieren. Sie seien keine Verwandten, er könne sie nicht reinlassen.

»Was soll der Bullshit, wir sind keine Verwandten«, sagte Nicolas, »Verwandte sind ja nicht bloß die Cousins. Wir sind mehr als Verwandte, wir sind Freunde, die echte Familie.«

»Er ist im Säuglingszimmer. Gleich wird er zur Mutter gebracht.«

»Ein Junge?«
»Ja.«
»Besser so.«
»Warum?«, fragte der Pfleger, um Zeit zu gewinnen. »Ist einfacher ...«

»Was ist einfacher?«
Nicolas ignorierte seine Frage.
»Aufwachsen ist einfacher, wenn du ’n Junge bist, oder?«,
schaltete sich Tucano ein. »Ist Mädchen sein etwa einfacher? Nach dem Motto, wenn du ficken kannst, kommst du wenigstens überall hin, wo du willst?«

Der Pfleger nahm Nicolas’ Schweigen als ein Zeichen, dass sie warten würden. Er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, nichts zu machen, das sind die Regeln.

»Ich will das Kind sehen, bevor es zwischen den Titten seiner Mutter steckt.« Der ungeduldige, wütende Tonfall traf den Pfleger wie ein Peitschenhieb, und noch bevor er eine Antwort herausbrachte, klebte sein Gesicht schon am Visier von Nicolas’ Helm. »Ich hab dir gesagt, ich will dieses Kind sehen. Blumen für die Mutter hab ich auch dabei. Jetzt sag mir, wie ich da hinkomme«, und mit einem Stoß schickte Nicolas den Pfleger in eine aufrechte Haltung zurück.

Genaue Informationen folgten, der Weg war leicht zu finden. Tucano warf die Schachtel mit dem iPhone hoch in die Luft, und der Pfleger behielt sie, mit den Armen fuchtelnd, auf ihrer Flugbahn krampfhaft im Blick, aus Angst, das Handy könnte am Boden zerschellen. Er war so auf sein technisches Spielzeug konzentriert, dass er den dichten schwarzen Rauch nicht bemerkte, der wenige Meter entfernt aufstieg, und wahrscheinlich roch er nicht mal den beißenden Gestank brennender Autoreifen. Pesce Moscio hatte pünktlich ganze Arbeit geleistet. Nicolas hatte ihm gesagt, nein, befohlen: Ich will sehr viel Rauch. Du musst damit alles verdunkeln. Er wollte die Pförtnerloge leer haben, das Letzte, was er brauchen konnte, waren Wachleute, die einen Motorroller verfolgten. »Als Ablenkungsmanöver, Pescemò«, und Pesce Moscio hatte eine Toilette der Poliklinik in der Nähe der Pförtnerloge ausgesucht. Die Reifen hatte er noch am selben Morgen in einer Autowerkstatt geklaut, und mit ein bisschen Kerosin und einem Feuerzeug würde es ein großes Fest aus giftigem Rauch und Gestank werden und alle Aufmerksamkeit auf diese Toilette lenken.

Unterdessen fuhr der T-Max im Schritttempo durch das Tor. Bis hier war der Plan seiner eigenen Logik gefolgt. Nicolas hatte Zeiten berechnet und mögliche Schwierigkeiten einkalkuliert, und auch Tucano, der gewissenhaft seinen Part gespielt hatte, war sich wie ein Rädchen in diesem gutgeschmierten Getriebe vorgekommen. Doch nun gab Nicolas Gas und schickte jede Logik zum Teufel. Der Roller bäumte sich auf, um die erste Stufe zu nehmen wie ein Pferd, das über ein Hindernis springt, und kam, von einer Stufe zur nächsten hüpfend, oben am Eingang an. Die automatischen Türen des Krankenhauses öffneten sich, und der T-Max stürmte in die Eingangshalle.

Im geschlossenen Raum klang der Motor wie eine startende Boeing. Auf der Treppe war ihnen niemand begegnet, um diese Zeit hatte das Hin und Her der ambulanten Untersuchungen und Visiten noch nicht begonnen, doch nun eilten Leute vom Klinikpersonal herbei, kamen erschrocken aus den Türen im Korridor. Nicolas achtete nicht auf sie. Er suchte den Fahrstuhl.

In der Entbindungsstation empfing sie völlige Stille. Niemand auf den Fluren, keine Stimmen, kein Weinen, das den Weg zum Säuglingszimmer anzeigte. Das ganze Chaos, das sie unten ausgelöst hatten, schien die Ruhe dieses Stockwerks nicht zu stören.

»Wie heißt das Kind?«

»Irgendwo müssen doch die Nachnamen stehen, oder?«, erwiderte Tucano. Er kannte Maraja zu gut, als dass er riskiert hätte, ihn zu fragen, wie sie aus der Scheiße, in die sie sich geritten hatten, wieder rauskommen sollten. Genau das war ja Nicolas’ Stärke, dich bis an die Grenze zu treiben, ohne dass du es merkst.

Sie ließen den T-Max mitten im Flur stehen. Mit seinem glänzenden Schwarz sah der Roller aus wie ein riesiger Käfer zwischen den hellgrünen Wänden mit Plakaten, die die segensreichen Eigenschaften der Muttermilch priesen. Die Jungen liefen durch den Flur, auf der Suche nach dem Säuglingszimmer. Tucano voran, den Helm noch immer auf dem Kopf, Nicolas dicht hinter ihm. Eine endlose Reihe Türen rechts und links, und das Kratzen ihrer Sohlen auf dem Linoleum.

Sie kamen in ein Vorzimmer mit zwei leeren Schreibtischen, hinter denen die Fensterfront des Säuglingszimmers glänzte. Dort lagen sie, die Neugeborenen mit rotvioletten Gesichtern in ihren pastellfarbenen Strampelanzügen, einige schliefen, an- dere bewegten die winzigen Fäuste über dem Kopf.

Maraja und Tucano standen vor der Scheibe wie zwei Verwandte, die herausfinden wollen, ob das Kind eher der Mutter oder dem Vater ähnelt.

»Antonello Izzo«, sagte Tucano. Die hellblaue Decke mit dem in eine Ecke gestickten Namen hob und senkte sich fast unmerklich. »Da ist er«, und er drehte sich zu Nicolas um, der reglos dastand, die Handflächen auf dem Fensterglas, den Kopf dem Neugeborenen zugewandt, das jetzt lächelte, zumindest schien es Tucano so.

»Maraja ...«
Schweigen.
»Maraja, was machen wir jetzt?«
»Wie tötet man ein Baby, Tucà?«
»Keine Ahnung, hast du ’ne Idee?«
Nicolas zog die Desert Eagle aus seiner Unterhose und ent-
sicherte sie mit dem Daumen.
»Ist wahrscheinlich so, wie wenn man ’n Luftballon platzen
lässt«, überlegte Tucano.
Vorsichtig öffnete Nicolas die Tür zum Säuglingszimmer, als
wollte er rücksichtsvoll vermeiden, die anderen Kinder zu wecken. Er ging zum Bettchen von Antonello, dem Sohn von Dentino, dem Sohn des Menschen, der seinen Bruder Christian getötet hatte, mit einem Schuss in den Rücken wie den miesesten Verräter.

»Christian ...«, sagte er sehr leise. Zum ersten Mal seit dem Tag der Beerdigung sprach er diesen Namen aus. Er schien unter einem Bann zu stehen, die schwarzen Augen starrten geradeaus, aber der Blick war leer. Tucano hätte gerne mit den Fäusten gegen das Fenster geschlagen, Nicolas angeschrien, er solle sich beeilen, die Brut dieses Dreckskerls erschießen, jetzt, sofort. Nicolas hatte die Mündung der Desert auf den kleinen Bauch gesetzt, aber der Finger am Abzug rührte sich nicht. Die Pistole bewegte sich leicht auf und ab, als könnten die Lungen dieses Würmchens wirklich zwei Kilo Metall anheben. Tucano blickte hinter sich, um den Flur zu kontrollieren, und sah, dass während Nicolas’ Zögern eine Krankenschwester im Flur aufgetaucht war. Sie kam rasch näher, die Stange für einen Infusionsbeutel wie eine Lanze schwingend. »Was machst du denn hier?« Dann entdeckte sie Nicolas hinter der Scheibe und fing an zu schreien: »Die Kinder! Sie holen die Kinder!« Tucano richtete seine Glock auf sie, und die Krankenschwester blieb sofort stehen, die Stange halb erhoben, aber sie hörte nicht auf zu schreien.

»Sie entführen die Kinder! Sie bringen die Kinder weg! Hilfe! Hilfe!« Ihre Stimme immer lauter, kreischend, wie eine Sirene.

»Maraja, schieß, mach schnell, sie haben uns entdeckt, zieh das jetzt durch ...« Aber Nicolas hatte den Kopf zur Seite geneigt, als wollte er sich den Sohn von Dentino und der Koala genau ansehen. Der schlief friedlich, sein Atem ging noch tief und regelmäßig, trotz der Pistole. Auch Christian hatte so ge- schlafen, als seine Mutter nach der Entbindung aus dem Kran- kenhaus nach Hause gekommen war. Nicolas hatte sich in ei- nen Sessel gesetzt, sie hatte ihm das Neugeborene in die Arme gelegt, und Christian hatte weitergeschlafen. Um Antonello he- rum aber wachten die anderen Kinder auf. Sofort war im Säug- lingszimmer die Hölle los, die Neugeborenen steckten sich ei- nes nach dem anderen mit ihrem Geschrei an, eine ohrenbetäu- bende Welle, die Nicolas aus seiner Benommenheit rüttelte.

»Sie entführen die Kinder! Sie bringen die Kinder weg! Hil- fe! Hilfe!« Die Krankenschwester hörte nicht auf zu schreien und ließ die Stange in der Luft kreisen, als wollte sie ihr mehr Fliehkraft verleihen, um sie dann mit größtmöglicher Wucht von sich zu schleudern.

»Nun schieß doch, Maraja, leg ihn jetzt um!«, schrie Tuca- no. Die Krankenschwester kam immer näher, und er wusste nicht, ob er sie mit einem Faustschlag ins Gesicht niederstre- cken, mit einem Schuss verletzen oder töten sollte.

»Maraja, hier wird’s echt kritisch, wir müssen sofort weg. Ganz schnell!«

Nicolas legte seine linke Hand auf das Tattoo, das er sich im Nacken hatte stechen lassen, damit es ihm Kraft gab, damit es ihm auch hier, vor einem anderen unschuldigen Wesen, bestä- tigte, dass die Sache richtig war und getan werden musste. Für ihn, für seine Mutter, für seine Paranza, den Clan der Kinder. Denn dies war die Zeit des Sturms, und er war der Sturm, der über der Stadt tobte. Er drückte die Pistole in den Körper des Neugeborenen, und auch Antonello fing an zu weinen.

Tucano war jetzt so weit zurückgewichen, dass er mit dem Helm gegen die Scheibe stieß. »Halt, du fette Sau«, sagte er zu der Krankenschwester, »bleib stehen, ich bring dich um.« Aber sie kam noch näher, und von ihrem Geschrei angelockt, erschie- nen zwei weitere Schwestern auf dem Flur. Auch sie fingen so- fort an zu schreien: »O Gott, die Kinder! Sie holen die Kinder!«

»Zurück! Ich bring euch um! Ich bring euch alle um!«, brüllte Tucano, und jetzt klebte er mit dem ganzen Körper an der Scheibe. Es gab nur einen Weg, hier rauszukommen. Er umfasste die Glock mit beiden Händen und zielte auf die Stirn der Schwester mit der Stange.

Peng.

Eine Explosion. Dann Stille. Tucano sah auf seine Hand, die nicht rechtzeitig hatte schießen können.

Die Kugel war von hinten gekommen. Sie hatte das Fenster des Säuglingszimmers durchschlagen und aus der Glasscheibe einen Regen scharfer Splitter gemacht. Klingelnd sprangen sie gegen Tucanos Helm, prallten von der Decke ab, bohrten sich in die Wände und den Boden und legten sich glitzernd auf die Kittel der Krankenschwestern, die ihre Gesichter mit den Händen bedeckten. Tucano drehte sich um. Nicolas hielt die Desert Eagle noch immer auf die zertrümmerte Fensterscheibe des Säuglingszimmers gerichtet. Hoch oben in der Wand gegenüber prangte das Loch, wo die Kugel eingedrungen war.

Das Geschrei der Kinder, das für einen Sekundenbruchteil abgebrochen war, setzte wieder ein, und Nicolas riss sich aus seiner Erstarrung. »Schnell weg, wir hauen ab«, sagte er zornig.

Sie fuhren die breiten Treppen der Poliklinik hinunter, dann über die Treppe an der Eingangstür bis zur Straße. Dort ließ Nicolas den Motor aufheulen und gab Vollgas, um sich zwischen Wachleuten, die nach ihren Pistolen griffen, und Feuer- wehrmännern mit Gasmasken freie Bahn zu verschaffen. Der letzte Mensch, an dem sie vorüberrasten, war der Krankenpfleger, der sie hereingelassen hatte, aber der klebte mit den Augen am iPhone und bemerkte sie nicht.

Nicolas kam zurück, als das Haus gerade erwachte. Er hörte das Geräusch der Duschen, die Rufe nach den Kindern, sie sollten sich beeilen, das Schultor würde nicht warten, bis sie ausgeschlafen hatten. Nur seine Wohnung war stumm und leer. Seine Mutter war schon in der Wäscherei, jeden Morgen ging sie et- was früher hin. Sein Vater war sofort nach Christians Tod ab- gehauen, er war mit ihnen zum Begräbnis gegangen und nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Aber sie kamen ohne ihn aus, er zählte nicht, hatte nie gezählt. Nicolas verzog den Mund zu einer Grimasse, warf die Schlüssel auf den Tisch und machte den Fernseher an. Der Ton war sehr leise gestellt, auch die Fernseh- nachrichten wollten die Stille in der Wohnung, die wie ein Vor- wurf war, nicht stören. Nach Berichten über Lokalpolitik tauch- ten die Bilder vom Krankenhaus auf, die zersplitterte Scheibe, die Krankenschwestern, die Säuglinge mit verzerrten Gesicht- chen aus den Betten hoben, die Reifenspuren auf dem Fußbo- den. Frecher Überfall in der Poliklinik lautete der Titel. Nach ei- ner Minute war der Film vorbei, mehr Platz gab es nicht für ei- nen Dummejungenstreich.

Nicolas ging ins Kinderzimmer, streckte sich auf dem Bett seines Bruders aus, faltete die Hände im Nacken und fuhr mit den Fingern über den Namen, den er sich dort hatte tätowie- ren lassen: Christian. Vor und zurück, als läse er Blindenschrift, dann im Kreis um das Oval der Handgranate, und wieder von Neuem langsam über die Buchstaben. Die Handgranate hatte er genau wie die haben wollen, die den Namenszug auf seiner Brust abschloss: Maraja.

Cos’aggio fatto?, fragte er sich. Was habe ich getan? Er drück- te die Fäuste in seine Augenhöhlen.

Katz und Maus. Eine wütende Katze auf der Jagd nach einer Phantommaus.

Auf den Umschlagplätzen lief es gut. Ihr Koks war gefragt. Das Heroin von Scignacane fand reißenden Absatz. Der Erlös aus den Erpressungen kam jeden Monat pünktlich an. Über den Territorien seiner Paranza im Zentrum von Neapel strahlte die Sonne. Doch Dentino lebte noch, und mit diesem Gedan- ken konnte Nicolas keinen Frieden schließen. Er war wie Rü- ckenschmerzen, die nicht weggehen, wie Karies, der den Schlaf stört: Der Verräter ist noch in der Stadt, irgendwo versteckt.

Seit fünf Monaten mühte er sich mit Hinterhalten ab. Zu- erst hatte er Dentino vor dem Hof des Pfarrhauses aufgelauert. Dieses Rechteck trug noch die Spuren ihrer gemeinsamen Fuß- ballspiele. Dann hatte er viele Nächte vor der Zahnarztpraxis verbracht, wo Dentino seine erste mesata, den monatlichen Ver- dienst, ausgegeben hatte, um sich die von Zigaretten und Dro- gen schwarz angelaufenen Schneidezähne bleichen zu lassen. Das Haus seiner Eltern, das seiner Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits, der Park von Capodimonte, weil jemand gesagt hatte, er habe Dentino dort auf einer Bank gesehen, und zuletzt war es Nicolas logisch erschienen, auch den Bahnhof abzusu- chen. Penner für Penner, Klo für Klo. Mit zugehaltener Nase hat- te er die verwahrlosten Männer umgedreht, die in ihren Lum- pen schliefen. Dem Haus, wo Dumbos Mutter lebte, hatte er eine ganze Woche ununterbrochener Bewachung gewidmet, Tag und Nacht, überzeugt, dass der infame Verräter irgend- wann der Versuchung erliegen würde. Vergebens.

Die Maus war nirgendwo hervorgekommen, also musste er das Mäuschen zerquetschen. Aber er hatte es nicht über sich ge- bracht ... wie tötet man ein Neugeborenes?

»Schluss jetzt!«, schrie er, »Schluss!«, und stand auf. Eine einzige Bewegung mit dem Arm fegte alles weg. Heiligenfigu- ren, Bildchen von der Madonna, San Gennaro, Padre Pio, Fotos von Christian bei der Erstkommunion, in Badehose mit Nico- las an einem Strand, an den er keine Erinnerungen hatte. Er betrachtete den Haufen zu seinen Füßen, dann zog er sich die Schuhe, die Hose und das Sweatshirt aus. Er schlüpfte unter die Bettdecke, umklammerte seine Knie mit den Armen. Und tat das, was er seit geraumer Zeit hätte tun sollen.

Er weinte.

22.08.2019, 16:54

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