Makel und Missbrauch

Leseprobe "Angesichts dieser und anderer Unartigkeiten drängt sich die Frage auf: Was treibt Politiker zu Fehltritten, und warum versagen hier die hochbezahlten Berater und Bewacher des politischen Diskurses?"
Makel und Missbrauch

1. Die Machtmaschine – Versuch einer Vermessung

»Bald kam es zur Zügellosigkeit, die weder vor Privat- noch vor Amtspersonen haltmachte, und da jeder auf seine Art lebte, fügte man sich täglich tausendfaches Unrecht zu.«

Vor genau 500 Jahren begann der florentinische Politiker, Diplomat und Gelehrte Niccolò Machiavelli mit der Niederschrift seiner Überlegungen zu den Verführungen der Macht. Er schilderte, wie eine zügellose Günstlingswirtschaft den Nährboden für allerlei Verschwörungen und Intrigen bot, und wie das perfide politische Mittel der persönlichen Verleumdung seit Jahrhunderten in den Netzwerken der Macht wirkte: »Was die Ehre betrifft, so verletzt die Männer am tiefsten die Entehrung ihrer Frauen, sodann die Beschimpfung der eignen Person.«

Doch Machiavelli war kein Voyeur, ihm ging es darum, einen gesellschaftlichen Zerfall zu beschreiben, der zur ständigen Umwidmung der Macht von der Fürstenherrschaft zur Volksherrschaft und bald darauf wieder zur Fürstenherrschaft führte. Er lebte in kriegerischen Zeiten, in denen sich Machtverhältnisse häufig – und vielfach auf gewaltsame Art – änderten. Dennoch war Machiavelli, vielen gern wiederholten Zitaten zum Trotz, kein »Machiavellist«. Er war nicht, wie Friedrich der Große schrieb, der »Unhold, wie ihn kaum die Hölle hervorbrächte«. Machiavelli war ein kühler Verfechter der Machtbesessenheit und zugleich ihr früher Kritiker und Analyst.

Er beschrieb, was geschieht, wenn Macht ungehindert auswuchert und nicht im republikanischen Sinne geteilt wird. Dabei allerdings distanziert er sich klar von der christlichen Ethik und den aus ihr abgeleiteten Tugenden. In seinem Standardwerk der Regierungskunst Der Fürst, geschrieben und gedacht als Fürstenberater, formuliert er: »Ein kluger Herrscher kann und soll sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zu Schaden gereicht und die Gründe, aus denen er es gab, hinfällig geworden sind. Wären alle Menschen gut, so wäre dieser Rat nichts wert; da sie aber nicht viel taugen und ihr Wort gegen dich brechen, so brauchst du es ihnen auch nicht zu halten.«

Machiavelli argumentiert, einem Fürsten fehle es nie an guten Gründen, »um seinen Wortbruch zu beschönigen«. Viele Mächtige hätten es auf diese Weise weit gebracht. Allerdings, mahnt der mittelalterliche Politikberater, brauche es dazu eine weitere nicht gerade tugendhafte Charaktereigenschaft: »Freilich ist es nötig, daß man diese Natur geschickt zu verhehlen versteht und in der Verstellung und Falschheit ein Meister ist. Denn die Menschen sind so einfältig und gehorchen so sehr dem Eindruck des Augenblicks, daß der, welcher sie hintergeht, stets solche findet, die sich betrügen lassen.«

Ein halbes Jahrtausend später werden dieselben Taktiken der Macht gepflegt. Warum auch sollte das filigrane Spiel von Sex, Lügen und Politik in der modernen Volksherrschaft seine Bedeutung verloren haben? Aufgabe unabhängiger Beobachter und Kritiker bleibt es, die vielfältigen Mechanismen der Beeinflussung offenzulegen, die Politiker zu ihren Entscheidungen treiben. Dabei genügt es nicht zu fragen, ob Herr Wulff von der CDU etwas durfte, was Herr Özdemir von den Grünen auch so ähnlich tat, und was Herr Steinbrück von der Sozialdemokratie oder Herr Westerwelle von den Freien Demokraten gar nicht erst nötig haben, weil sie sich zuvor mit Kontakten zur Finanzindustrie eine goldene Nase verdienten.

Dieses Buch über die Machtmaschine will hinter die verschwommene Matrix von verdecktem Lobbyismus und Regierungspolitik vordringen. Denn wir leben in einer Zeit, in der unter dem Vorwand der Rettung von Staaten Großbanken mit Steuergeldern finanziert werden, und in der unter dem Vorwand der Rettung Europas die größte und jahrhundertealte Errungenschaft dieses Kontinents aufs Spiel gesetzt wird: die Demokratie.

Es ist also Zeit, die Machtfrage neu zu stellen. Nicht nur die politische Macht erscheint uns häufig fern und selten geheuer, gehört es doch zu ihren Eigenarten, dass wir ihr nicht entrinnen können. Nein, die Machtfrage beschäftigt uns schon vom ersten Trotzalter an bis zum letzten Atemzug. Macht, so formulierte es vor einem halben Jahrhundert die Philosophin Hannah Arendt, sei dort, wo Menschen nicht nur handeln, sondern sich mit anderen zusammenschließen, um einvernehmlich zu handeln. Die Macht liege niemals in einem Einzelnen, sondern resultiere aus einer Anzahl Menschen, die ihn zu seinem Handeln ›ermächtigt‹ haben.

Macht wird verliehen. Folgt man diesem Gedanken, so entsteht Macht unter 80 Millionen Einwohnern Deutschlands ebenso wie unter zwei Frischvermählten. Irgendwann lernen wir, dass auch Fragen der Liebe sich zuweilen als Fragen der Macht entpuppen. Wen wundert es also, dass wir ein überaus zwiespältiges Verhältnis zur Macht haben? Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge denken 37 Prozent der Deutschen, dass die Demokratie »weniger gut oder schlecht funktioniert«. Trotz ihrer Skepsis beteiligen sich seit Jahrzehnten aber mehr als 75 Prozent der Deutschen an Bundestagswahlen. Auf ein ähnliches Paradoxon stoßen wir bei der Bewertung der Institution der Ehe: 72 Prozent der Deutschen haben sehr großes oder ziemliches großes Vertrauen in die Ehe. Dabei dürfte ihnen nicht entgangen sein, dass mittlerweile rund jede dritte Ehe in Deutschland geschieden wird.

Allen Schmährufen von der »German Angst« zum Trotz sind wir also ein Land der Optimisten. Allerdings glauben nur 15 Prozent der Befragten, dass die Regierung tut, was die Bevölkerung erwartet. Diese Zahl lässt wiederum mehrere mögliche Deutungen zu. Die einen werden daraus folgern, dass sich das politische Establishment einmal mehr vom regierten Volk entfernt habe, die anderen werden anmerken, dass Politiker trotz regelmäßiger Wahlen populistischen Versuchungen widerstünden und täten, was sie für vernünftig hielten.

Ich wiederum halte dieses Ergebnis für einen Beleg unserer Sehnsucht nach mehr demokratischer Teilhabe und zugleich für ein Zeugnis unserer demokratischen Reife. Wir pflegen zu Recht ein gesundes Misstrauen.

Macht und Einflussreichtum

Bis heute ist die soziologische Machttheorie Max Webers sehr weit verbreitet: »Macht bedeutet jede Chance innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.«

Macht besitzt in diesem Sinn vor allem, wer fähig ist, seinen Willen gegen andere durchzusetzen, also Mehrheiten gegen andere zu finden, selbst jenseits guter Argumente. Schon vor hundert Jahren reichte die Macht-»Maschine« weit über den politisch-parlamentarischen Raum hinaus. Dabei sah Max Weber die außerparlamentarische Macht, etwa des »amerikanischen Bosses« gegenüber den Berufspolitikern, durchaus positiv. Er sei mächtig, weil er Werte schaffe. Weber beschrieb das noch immer sehr aktuelle Phänomen der »Mäzenaten oder Leiter mächtiger politischer Interessenclubs« als Teil einer großen Machtma- schine:

»Das Entscheidende ist, daß dieser ganze Menschenapparat – die ›Maschine‹, wie man ihn in den angelsächsischen Ländern bezeichnenderweise nennt –, oder vielmehr diejenigen, die ihn leiten, den Parlamentariern Schach bieten und ihnen ihren Willen ziemlich weitgehend aufzuzwingen in der Lage sind.«

Es wird uns nicht erspart bleiben, die Machtfrage auch an uns selbst zu richten. Wir lieben es, Demokratie im Sinne eines ›easy listening‹ zu genießen. Vielleicht finden wir die Politik auch nur noch als Hintergrundrauschen erträglich. Die Verfechter der Talkshow-Demokratie sind zufrieden, wenn wir gar nicht erst den Versuch machen, die ausgebuffte und komplizierte Mechanik der Machtausübung zu analysieren, und uns stattdessen mit dem Austausch von Schlagworten zufriedengeben.

Vielleicht sträuben wir uns auch ein wenig, weil wir zu der Erkenntnis gelangen könnten, selber Teil dieser Machtausübung zu sein. Wir könnten zum Beispiel herausfinden, dass die Macht eines Menschen in unseren Augen nur deshalb so unangemessen wachsen konnte, weil wir sie ihm zuvor verliehen haben. Das gilt übrigens ebenso für das eheliche Jawort und für die Stimmabgabe bei der Bundestagswahl. Der Philosoph Michel Foucault kritisierte die verbreitete Sichtweise, Macht reflexartig als ein Instrument der Unterdrückung oder Einschränkung wahrzunehmen: »Deshalb erscheint mir die Annahme einer Repression, auf die man die Mechanismen der Macht allgemein zurückführt, sehr unzulänglich und vielleicht auch gefährlich.«

Also versuchen wir, Macht unvoreingenommener zu betrachten – als Einflussreichtum, als einen Aggregatzustand, der die Kraft charakterisiert, die Menschen aufeinander auszuüben in der Lage sind, aus welchen Gründen auch immer. Foucault versucht den Machtbegriff von der Verengung auf die Legitimation der Macht zu befreien und verweist auf die Vielzahl der »Machtbeziehungen«, die es anzusehen gelte. Er unterscheidet dabei strategische Beziehungen, Regierungstechniken und Herrschaftszustände.

Um die Macht verstehen zu lernen, ist es also nicht hilfreich, andauernd ihre Legitimität in Zweifel zu ziehen. Aber kann es gelingen, ihre Mechanik zu durchmessen? Foucault bleibt skeptisch: »Überall, wo es Macht gibt, wird Macht ausgeübt. Niemand ist im Grunde Inhaber der Macht; und dennoch wird sie stets in eine bestimmte Richtung ausgeübt, mit den einen auf der einen und den anderen auf der anderen Seite; man weiß nicht, wer sie eigentlich hat, aber man weiß, wer sie nicht hat.«

Starten wir einen Versuch mit Hilfe einiger nackter Zahlen aus dem Regierungszentrum der deutschen Politik: Insgesamt arbeiten etwa 18 000 Bundesbeamte in den Berliner und Bonner Ministerien. Hinzu kommen 620 Bundestagsabgeordnete mit ihren im Schnitt zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern. Diesen knapp 20 000 Vertretern von Staat und Volksvertretung stehen etwa 5000 Lobbyisten gegenüber. Statistisch betrachtet, kümmert sich also ein Lobbyist um vier Vertreter von Politik und Staat. Mehr als 400 von Konzernen oder Verbänden bezahlte Lobbyisten hatten überdies seit 2006 sogar offiziell und direkt in den Bundesministerien einen Schreibtisch, um an den Gesetzen mitzuwirken.

Aber leben wir deshalb bereits in einer korrupten Republik? Die Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ging zuletzt in der 2010 veröffentlichten Vergleichsstudie "Life in Transition Survey II" der Frage nach, wie alltäglich Erfahrungen des Schmierens oder der Gefälligkeiten in verschiedenen Ländern sind. Wer hat in den vergangenen zwölf Monaten eine inoffizielle Zahlung vorgenommen oder ein Geschenk überreicht, damit das Gegenüber »einen mag«? Immerhin zehn Prozent der Befragten bejahten diese konkrete Frage. Damit gaben hierzulande mehr Menschen reale Korruptionshandlungen zu als beispielsweise die Bewohner Georgiens, Italiens oder Kroatiens. Die Begünstigung ist ein fester Bestandteil des Alltagslebens und damit auch des Machtgefüges in Deutschland.

Die Republik der Günstlinge

Die Betrachtung der Machtmaschine soll allerdings über die bekannten Mechanismen des Lobbyismus hinausreichen. Wer sind die Günstlinge, und wer sind die Gönner? Schnell wird sich herausstellen, dass diese Rollen häufig austauschbar sind. Es geht um die vielfältige Verstrickung von politischen Entscheidern, Reichen und Einflussreichen und solchen, die sich vielleicht nur dafür halten. Meist entsteht eine sogenannte Win-Win-Situation, bei der alle etwas erwarten und sich längst daran gewöhnt haben, auch viel zu erhalten. Auf den ersten Blick mutet dieses System feudal an, denn es schließt diejenigen aus, die nicht bereit sind mitzumachen oder wegen ihrer fehlenden Relevanz gar nicht erst gefragt werden.

Tatsächlich handelt es sich bei der modernen Machtmaschine um ein postfeudales System – eine Republik der Günstlinge –, denn es nivelliert und negiert im Zweifel sogar die soziale Herkunft. Wer sich in der Politik hocharbeitet und mit den vermeintlich richtigen »Entscheidungsträgern« vernetzt, hat alle Chancen, auch ohne dynastischen Hintergrund eine gewichtige Rolle in Parteien und Verbänden und schließlich auch im Staat zu spielen.

Unartigkeiten des »homo politicus«

Schöne Frauen und reiche Männer gehören auch im 21. Jahrhundert, zumindest im selbst ernannten christlichen Abendland, zu den äußeren Insignien der Macht. Ihre häufig fahrlässig unterschätzte Begleiterscheinung ist die mediale und politische, mitunter sogar ganz persönliche Erpressbarkeit. Sie bescherte Europa in jüngster Zeit gleich mehrere spektakuläre Rücktritte. Der französische Fast-Präsidentschaftskandidat und IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn verlor Amt und Würde im Zuge einer seiner vielen Sexaffären. Der semidiktatorische italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi musste gehen, weil ihm die Mehrheit seiner Landsleute zwar jahrelang Korruption und Steuerhinterziehung durchgehen ließ, nicht aber den mutmaßlichen Sex mit einer minderjährigen Prostituierten.

In Deutschland schieden innerhalb von nicht einmal zwei Jahren gleich zwei Bundespräsidenten außerplanmäßig aus dem Amt, wobei der zweite – Christian Wulff – über seinen privaten Lebenswandel und einen umstrittenen Umgang mit reichen Freunden aus der Wirtschaft fiel. Angesichts dieser und vieler anderer Unartigkeiten des deutschen »homo politicus« drängt sich die Frage auf: Was treibt Politiker zu Fehltritten, und warum versagen hier die hochbezahlten Berater und Bewacher des politischen Diskurses?

Narzisstische Störungen als Triebfeder der Macht

Heiko Kretschmer ist einer der wichtigsten deutschen Politikberater und seit seiner Mitgliedschaft im Bundesvorstand der Jungsozialisten ein politischer Kopf. Aus seiner Arbeit mit Spitzenpolitikern mehrerer Parteien kennt er die gefährlichen Begleiterscheinungen der Macht. Die »öffentliche Wirkung« und die »persönliche Bestätigung« trügen, so Kretschmer, ein Suchtpotenzial in sich. Besonders nach einem erzwungenen Rücktritt zeige sich der Grad der Machtversessenheit:

»Wenn ich feststellen muss, dass Menschen, von denen ich glaubte, sie seien über die Politik hinaus auch so etwas wie Freunde, plötzlich nicht mehr anrufen, sich für mich nicht mehr interessieren, nur weil ich aufgehört habe mit Politik oder womöglich sogar zurücktreten musste und jetzt noch aussätzig bin, dann sind das Momente des sehr tiefen Falls, in denen die psychologische Abhängigkeit sehr krass deutlich wird.«

Der Psychologe Hans-Joachim Maaz denkt, dass Macht an sich die Tendenz hat, seelische Defizite zu kompensieren. Narzisstische Störungen sind seiner Ansicht nach bei jedem Spitzenpolitiker anzutreffen. In seinem Buch "Die narzisstische Gesellschaft" schreibt Maaz:

»Der Narziss tut alles, um die Bestätigung, die er zum Leben braucht, zu erhalten: Anstrengung, Fleiß, Perfektionismus, Leistung, Aussehen, Manipulationen, Suggestionen, Geschenke, Bestechung, Versprechungen, Teilhabe, Führung – alles, alles aus nur einem Bedürfnis heraus: dafür ›geliebt‹ zu werden.«

Maaz wundert es nicht, wenn Spitzenpolitiker sich trotzig an ihren Posten klammern, während sie in den Augen der Öffentlichkeit längst fällig für einen Rücktritt wären.

»Er muss diese Fassade aufrechterhalten. Wenn er sie öffnet, öffnet er ja sozusagen die Tür zu seiner tiefer gehenden seelischen Verletztheit oder Bedürftigkeit.«

Das ganze innere Abwehrgebäude sei plötzlich in Gefahr und werde daher hartnäckig verteidigt. Das Spektrum dieser Obsession ist entsprechend groß: Es reicht vom orgiastischen Ausleben der Macht bis hin zum angstbesessenen Festhalten an ihr. »Die Macht ist ein absolutes Aphrodisiakum«, sagte einst Henry Kissinger. Die Ereignisse um Dominique Strauss-Kahn legen nahe, die Analyse auf eine bislang tabuisierte Kampfzone auszudehnen: Die Machtmaschine besteht nicht nur aus einem komplizierten Geflecht politischer und zuweilen finanzieller Verstrickungen von Politikerinnen und Politikern, sie berührt nicht selten auch ihre Intimsphäre.

Lügen und verdeckter Lobbyismus marschierten bislang Hand in Hand durch die politische Geschichte der Bundesrepublik. Dass sich am Wegesrand aber nicht selten Eros in die Geschicke einmischt, wird bei der Bewertung politischer Verstrickungen – zumindest in Deutschland – bislang unterschätzt und weitgehend tabuisiert – aus der berechtigten Achtung vor der Intimsphäre von Spitzenpolitikern heraus. Andererseits existieren diese Verstrickungen auch ohne öffentliche Beachtung, und einem aufmerksamen Beobachter der Boulevardmedien dürfte kaum entgehen, dass die Enthüllung besonders fragwürdiger Umstände aus dem Privatleben eines Politikers nahezu immer in enger zeitlicher Nähe zu wichtigen politischen Entscheidungen erfolgt, die diesen Politiker betreffen oder für die er mit seiner Person einsteht.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass mit dem Privatleben auch in Deutschland längst Politik gemacht wird. Aber dürfen Politiker nicht trotzdem Geheimnisse pflegen? Das ist eine Frage, deren Beantwortung kein einfaches Ja oder Nein verträgt. Auf der einen Seite galt und gilt es unter Journalisten als guter Brauch, die Privatsphäre von Politikern zu achten und sie nicht zum Gegenstand der Berichterstattung zu machen. Allerdings meinen einige Politiker und ihre Berater, sich dem Wahlvolk durch inszenierte Einblicke in ihr Privatleben menschlicher und volksnäher präsentieren zu müssen. Sie zahlen dafür mit dem Verzicht auf den Schutz ihrer Privatsphäre. Für alle übrigen Politiker gilt: Überwiegt das politische Informationsinteresse der Öffentlichkeit, darf auch über private Dinge berichtet werden.

Politiker, die ihre Hand aufhalten oder sich ihren millionenschweren Anschlussjob in der Wirtschaft bereits im Minister- oder Kanzleramt gesichert haben, können ebenso wenig mit dem Recht auf Schutz ihrer privaten Verhältnisse argumentieren. Aber wie verhält es sich mit sehr privaten, intimen Abgründen? Als Bürger sollten wir nachsichtig mit unseren Politikern, ihren Lastern und Nachlässigkeiten umgehen, weil wir von Menschen regiert werden wollen, nicht von Maschinen. Und wer von uns wollte in dieser Hinsicht den ersten Stein werfen?

Vorsicht erscheint dort angebracht, wo genau diese Laster und Nachlässigkeiten instrumentalisiert werden, um die Entscheidungsfindung von Politikern zu beeinflussen – positiv, indem man ihnen die Reize verschafft, für die sie eine bekannte Schwäche haben, oder negativ, indem man sie mit ihrem Intim- oder Privatleben erpresst. Beide Spielarten gehören zu den Realitäten der modernen Machtmaschinerie. Längst sitzen den Politikern nicht nur Boulevardjournalisten im Nacken, sondern auch politische Widersacher, übrigens in den allermeisten Fällen die eigenen »Parteifreunde«. Das Sammeln von Informationen, die zuweilen auch das Privat- und Intimleben berühren können, gehört längst zum Geschäft einiger Regierungen und Parteien, Boulevardmedien und nicht zuletzt von Geheimdiensten.

In Wahlkampfzeiten wird von den Politikstrategen üblicherweise eine »Gegnerbeobachtung« installiert, um Stärken und Schwächen der Spitzenkandidaten in Erfahrung zu bringen. In dieser verschwiegenen Welt wird nur geredet, wenn es opportun ist, wenn die Nachricht zur rechten Zeit – im Sinne ihrer Auftraggeber – kolportiert und möglichst massenhaft verbreitet wird. Es ist eine dunkle, bislang kaum beleuchtete Dimension der politischen Machtmaschine. Diese Dimension zu verschweigen oder gar zu leugnen würde bedeuten, undemokratische Mechanismen zu zementieren. Verdeckte Einflussnahmen bis hin zu persönlich-politischer Erpressung vertragen sich prinzipiell nicht mit Demokratie. Wir werden sie dennoch nicht aus dem politischen Alltag verbannen können.

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Die Geschichte von Christian Wulff wird in diesem Buch breiten Raum einnehmen, weil sie als archetypisch für viele Phänomene politischer Macht und persönlicher Verflechtung gelten kann. Sie lehrt uns überdies, dass nicht alles im juristischen Sinne korrupt ist, was den äußeren Anschein erweckt. Die Interessen, die sich mit Wulffs Handeln verbanden, etwa bei seinem persönlichen Eingreifen als niedersächsischer Ministerpräsident zugunsten der deutschen Versicherungswirtschaft im Bundesrat, waren jedenfalls nicht zwingend seine eigenen. Das Prinzip »cui bono« sollte uns begleiten, wenn wir den Maschinenraum der Macht ergründen. Es kommt auf eine präzise Unterscheidung zwischen Motiven, Interessen und dem »Begehren nach Macht« an, wie Michel Foucault formulierte:

»Nicht zwangsläufig haben diejenigen, die die Macht ausüben, das Interesse, sie auszuüben; diejenigen, die das Interesse haben, sie auszuüben, üben sie nicht aus, und das Begehren nach Macht treibt zwischen der Macht und dem Interesse ein noch immer einzigartiges Spiel. (...) Dieses Spiel zwischen Begehren, Macht und Interesse ist noch wenig bekannt.«

Das Private ist zuweilen politisch

»Das Private ist zuweilen auch politisch«, sagt Kai Diekmann, der Chefredakteur der Bild-Zeitung und Deutschlands einflussreichster Journalist. In seinem Tresor soll irgendwann ein Dossier über das Privatleben von Christian Wulff und seiner Ehefrau Bettina gelandet sein, was Diekmann allerdings bestreitet. Die 598 Tage währende Geschichte des Ehepaars Wulff im Schloss Bellevue ähnelt einem öffentlich aufgeführten Traum, der sich schnell in einen Albtraum verwandelte und am Ende sogar zu ihrer Trennung führte. Es war das ihr jahrelang anhaftende Erpressungspotenzial, das die Geschichte von Christian und Bettina Wulff politisch relevant machte. Dieses nicht immer nur juristisch zu verstehende Erpressungspotenzial lastete übrigens gleichermaßen auf den Erpressbaren wie auf den möglichen Erpressern – Menschen, die nach wie vor an höchsten Stellen politisch aktiv sind. Es sind Menschen in lebendigen Machtbeziehungen, wie Foucault sagen würde.

Nico Fried schrieb vor ein paar Jahren in der Süddeutschen Zeitung über die Schwierigkeit, Maßstäbe zu entwickeln, nach denen Berichte aus dem Privatleben von Politikern gerechtfertigt seien: »Das Argument, dass Privates berichtet werden darf, wenn es politische Folgen hat, ist eine Krücke, deren Stabilität davon abhängt, wie stark man sich darauf stützt. Letztlich liegt die Entscheidung beim Journalisten. Es ist seine Freiheit. Und seine Verantwortung. Wer zu dem Ergebnis kommt, Privates sei politisch relevant, muss darüber berichten – sich dann aber auch kritisieren lassen.«

Sascha Adamek, im Februar 2013

28.03.2013, 15:20

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