Es ist kalt auf der Mauer. Das ist das Erste, was einem jeder erzählt, und auch das Erste, was einem auffällt, wenn man dorthin versetzt wird. Das ist es, woran man die ganze Zeit denken muss, wenn man sich auf ihr befindet, und daran erinnert man sich, wenn man nicht mehr dort ist. Es ist kalt auf der Mauer.
Man sucht nach Metaphern. Es ist so kalt wie Schiefer, wie ein Diamant, wie der Mond. Wie ein verächtliches Almosen – ein besonders passender Vergleich. Aber bald begreift man, dass sich diese Kälte am meisten dadurch auszeichnet, dass sie eben keine Metapher ist. Sie lässt sich mit nichts vergleichen. Sie ist einfach nur eine reale Gegebenheit. Jedenalls diese Art von Kälte. Kälte ist Kälte ist Kälte.
Das ist also das Erste, was dir entgegenschlägt. Die Kälte hier ist mit keiner anderen Kälte vergleichbar. Sie durchdringt alles, als sei sie eine ständige materielle Eigenschaft dieses Ortes. Die Kälte ist eines seiner grundlegendsten Merkmale, sie wohnt ihm inne. Sie schlägt dir als gebündeltes Ganzes entgegen, wenn du das erste Mal zur Mauer kommst, am ersten Tag deines Einsatzes. Du weißt, dass du zwei Jahre dort sein wirst. Du weißt, dass es im Wesentlichen überall gleich aussieht, jedenfalls geographisch, aber dass alles davon abhängt, wie die Leute sein werden, mit denen du zusammen in einer Einheit dienen wirst. Du weißt, dass du nichts daran ändern kannst. Es ist beängstigend, aber auf gewisse Weise auch ein wenig befreiend. Keine andere Wahl. Alles an der Mauer besagt, dass man keine Wahl hat.
Du durchläufst eine kurze, nicht besonders umfangreiche Ausbildung. Sechs Wochen. Hauptsächlich geht es um das richtige Halten, Pflegen und Abfeuern deiner Waffe. In dieser Reihenfolge. Ein bisschen Fitnessübungen, aber nicht viel, dafür eine Menge Training, wie man es schafft, um Mitternacht sofort aufzuwachen, Training zu Schlafstörungen, plötzlichen Panikattacken, plötzlichen Änderungen in der Dienstabfolge, Disziplintests in den frühen Morgenstunden. Das pauken sie dir unablässig ein: Disziplin ist wichtiger als Mut. In einem Kampf gewinnen diejenigen, die tun, was man ihnen befohlen hat. Es ist anders als in den Filmen. Sei nicht mutig, tue einfach nur, was dir befohlen wird. Das ist mehr oder weniger alles. Der Rest der Ausbildung geschieht auf der Mauer selbst. Du erhältst sie von den Verteidigern, die schon länger dort sind als du. Und du gibst dein Wissen dann an die Verteidiger weiter, die nach dir ankommen. Das ist also so gut wie alles, was man kann, wenn man dort eintrifft: Mitten in der Nacht aufstehen und mit einer Waffe umgehen.
Für gewöhnlich trifft man nach Einbruch der Dunkelheit ein. Ich weiß nicht, warum, aber so wird das dort eben gehalten. Man hat bereits einen langen Tag hinter sich, wenn man ankommt: Man läuft zu Fuß, nimmt einen Bus, einen Zug, dann einen zweiten Zug und schließlich einen Laster. Der Laster setzt dich dort ab. Lässt dich und deinen Rucksack einfach in der Kälte und Dunkelheit stehen. Und da ist sie dann, die Mauer, direkt vor dir, ein langgestrecktes Ungeheuer aus Beton, das sich bis in weite Ferne zieht. Obwohl die Mauer absolut senkrecht ist, bekommst du, wenn du direkt darunterstehst, das Gefühl, als würde sie überhängen. Als könnte sie auf dich herabfallen. Als lehnte sie sich gegen dich.
Die Luft ist voller Feuchtigkeit, selbst wenn es draußen nicht wirklich nass ist, was jedoch oft der Fall ist. Entweder es regnet, oder die Gischt sprüht vom Meer herauf. Für gewöhnlich ist es nicht besonders windig, wenn man direkt hinter der Mauer steht, aber manchmal eben doch. In der Dunkelheit und Feuchtigkeit sieht die Mauer schwarz aus. Der einzige Pfad oder Wegweiser oder Hinweis, was man tun oder wo man hingehen soll, ist eine Betontreppe – sie lassen dich immer in der Nähe der Treppe raus. Am oberen Ende leuchtet ein kleines, schwaches Licht, das aus dem Wachhaus kommt, aber in diesem Moment weißt du noch nicht, was du da siehst. Stattdessen drehen sich deine Gedanken hauptsächlich darum, dass die Mauer höher ist, als du erwartet hattest. Natürlich hast du sie auch früher schon einmal gesehen, im wirklichen Leben, auf Bildern, vielleicht ja sogar in deinen Träumen. (Das ist eines der Dinge, die du auf der Mauer erfährst: dass es viele Leute gibt, die von ihr träumen, lange bevor sie dorthin geschickt werden.) Aber wenn du am Fuß der Mauer stehst und hochschaust und weißt, dass du zwei Jahre lang dort sein wirst und dass das Beste, was dir in diesen zwei Jahren passieren kann, ist, dass du überlebst und wieder von der Mauer herunterkommst und nie wieder auch nur einen einzigen Tag in deinem Leben irgendwo in ihrer Nähe verbringen musst – dann sieht sie ganz anders aus. Sehr hoch und sehr gerade und sehr dunkel. (Das ist sie auch.) Die vollkommen frei liegenden Betonstufen sehen steil und rutschig aus. (Das sind sie.) Das Ganze wirkt wie ein kalter, harter, unbarmherziger Ort. (Das ist er.) Du fühlst dich gefangen. (Das bist du.) Du sehnst dich danach, dass all dies hinter dir liegt, du sehnst dich danach, woanders zu sein, du würdest alles darum geben, nicht hier sein zu müssen. Vielleicht sprichst du ja, selbst wenn du nicht religiös bist, ein Gebet, sprichst es laut heraus oder ganz leise mit zusammengebissenen Zähnen, das ist ganz gleich, denn es ändert nichts, weil dein Gebet nämlich lautet: Bitte, bitte, bitte, lass mich von dieser Mauer herunterkommen. Und doch bist du dort, auf der Mauer. Du steigst die Treppe hinauf. Du beginnst dein Leben auf der Mauer.
Ich zitterte, als ich die Stufen hinaufkletterte. Ich würde ja gerne glauben, dass das an der Kälte lag, aber das tat es wahrscheinlich nur zur Hälfte, und die andere Hälfte war Angst. Es gab kein Geländer, und die Betonstufen wurden beim Aufstieg mit jedem Schritt feuchter. Ich bin nicht schwindelfrei und noch nie besonders gut mit hochgelegenen Orten zurechtgekommen, selbst mit denen nicht, die gar nicht besonders hoch waren. Mir ging durch den Kopf, dass ich ausrutschen und herabstürzen könnte, und je höher ich stieg, desto mächtiger wurde dieser Gedanke. Ich werde herunterfallen und mir den Schädel zerschmettern und sterben, und meine Zeit auf der Mauer wird vorbei sein, bevor sie überhaupt begonnen hat, dachte ich. Ich werde zur Witzfigur werden. Weißt du noch, dieser Idiot, der…? Aber falls das passiert, werde ich die Mauer wenigstens los sein.
Endlich kam ich oben an dem Wachhaus an. Durch ein Milchglasfenster fiel Licht nach draußen. Ich konnte nicht ins Innere sehen. Ich wusste nicht, wo ich hingehen oder was ich tun sollte, aber es gab keine andere Möglichkeit, also klopfte ich. Es kam keine Antwort. Ich klopfte wieder und hörte ein Geräusch. Das nahm ich als Zeichen dafür, dass ich hereinkommen sollte.
Als ich den Raum betrat, wurde ich von einem warmen Luftschwall eingehüllt. Sofort beschlug meine Brille und ich konnte nichts mehr sehen. Ich hörte, wie jemand lachte und wie jemand anderes eine leise Bemerkung machte. Ich nahm die Brille ab und sah mich blinzelnd um. Der Raum war ein schmuckloser, nüchterner Kasten aus Beton. Sämtliche Wände waren mit Karten bedeckt. In der dem Eingang gegenüberliegenden Ecke saßen zwei Personen. Eine von ihnen war ein imposanter schwarzer Mann mit narbendurchfurchten Wangen, der einen olivgrünen Uniformpullover trug. Das war der Hauptmann, auch wenn ich das in diesem Moment noch nicht wusste. Er war der Einzige auf der ganzen Mauer, den ich jemals eine Uniform habe tragen sehen. Für uns andere war diese Kleidung einfach nicht warm genug. Er sah mich an, ohne zu lächeln. Hinter ihm standen drei Computerbildschirme mit grün flackernden Radaranzeigen.
»Ein Verteidiger, der nichts sehen kann«, sagte er. »Großartig.«
Die andere Person – ein gedrungener weißer Mann mit einer roten Strickmütze – lachte prustend. Das war der Sergeant. Aber auch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
»Ich heiße Kavanagh«, sagte ich schließlich. »Ich bin neu.« Es kommt mir jetzt idiotisch vor, und selbst damals kam es mir idiotisch vor, aber ich hatte keine Ahnung, was ich sonst sagen sollte. Die beiden Männer lachten nicht einmal. Sie starrten mich einfach nur an. Der uniformierte Mann stand auf, kam zu mir herüber und sah mich von oben bis unten an. Er war groß, mindestens einen halben Kopf größer als ich.
»Ich bin der Hauptmann«, sagte er. »Das hier ist der Sergeant. Tun Sie grundsätzlich, was wir Ihnen sagen, ohne nachzufragen, warum. Es dauert etwa vier Monate, bis Sie überhaupt eine Ahnung haben, was Sie hier tun. Ich habe die uneingeschränkte Macht, Ihren Aufenthalt hier zu verlängern, ohne dass Sie dagegen Einspruch erheben können. Ich muss dafür keinen Grund angeben. Und Sie kommen erst dann wieder von der Mauer herunter, wenn zwei Jahren verstrichen sind und ich entscheide, dass Sie jetzt wieder gehen können. Das ist der einzige Weg. Falls man Ihnen das bei Ihrer Ausbildung nicht klargemacht hat, dann mache ich Ihnen das jetzt klar. Also: Ist das klar?«
Das war es. Und das sagte ich auch.
»Bringen Sie ihn zur Kaserne«, sagte er zu dem Sergeanten. »Ich gehe raus auf die Mauer.«
Und weg war er. Das Auftreten des Sergeanten änderte sich ein wenig, sobald er auf sich allein gestellt war. »Also gut«, sagte er. »Es gibt zwei Sergeanten, einen für jede Schicht. Ich bin für Ihre Schicht zuständig. Der andere Sergeant ist gerade auf der Mauer. Ich sollte eigentlich längst im Bett sein, aber ich bin aufgeblieben, um Sie in Empfang zu nehmen, weil ich nämlich ein verdammter Heiliger bin. Da können Sie jeden fragen. Den Rest Ihrer Schicht werden Sie morgen früh kennenlernen. Ich gebe Ihnen jetzt nur einen ganz kurzen Überblick über Ihren Einsatzort, alles Weitere erfahren Sie dann morgen. Wie der Hauptmann schon sagte, es dauert eine Weile, bis man alles begriffen hat, und die beste Methode liegt in der Wiederholung. Sie können anfangs noch Fragen stellen, aber das geht dann allen sehr rasch auf die Nerven, deshalb gebe ich Ihnen den guten Rat, erst einmal nachzudenken, bevor Sie die Klappe aufreißen, ob es nicht eine naheliegende Antwort auf Ihre Frage gibt, egal, welche Sie gerade stellen wollen.«
Er zeigte mir die Kantine – ein nackter Betonkasten mit Tischen und Stühlen –, den Aufenthaltsraum – ein nackter Betonkasten mit einem riesigen Fernsehbildschirm und arg verschlissenen Sofas –, die Waffenkammer, die aber gerade verschlossen war, und die Krankenstation – ein nackter Betonkasten mit vier Metallbetten und keinerlei medizinischem Personal. Dann führte er mich zwei Treppenläufe nach unten zur Kaserne, die von den Verteidigern »der Raum, in dem alle schlafen« genannt wurde. Auch hierbei handelte es sich um einen nackten Betonkasten. Nachdem ich etwa eine Minute lang im Eingang stehen geblieben war, hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte nun die wichtigsten Einzelheiten erkennen. Es gab dreißig Betten in dem Raum, fünfzehn zu beiden Seiten, die durch eingezogene Sperrholzwände zu einzelnen Schlafnischen abgetrennt worden waren. Am gegenüberliegenden Ende gab es einen Waschraum. Ich war mit dieser Rauman- ordnung bereits bestens vertraut, weil die Kaserne, in der ich während der Ausbildung gewohnt hatte, ganz genauso ausgesehen hatte. Eine Seite hatte keine externe Lichtquelle, auf der anderen gab es mehrere kleine viereckige Fenster etwas über Kopfhöhe. Die Betten an der rechten Wand waren alle leer, denn diese Hälfte der Kompanie hatte gerade Nachtdienst. In den Betten, die an der linken Wand standen, lagen lauter schlafende Körper, außer in dem neunten Bett in der Reihe, das leer stand und das nun mir gehörte.
Ich stellte meine Tasche an der Rückseite meiner Nische ab, zog meine Schuhe und die äußeren Kleiderschichten aus und stieg ins Bett. Das Laken fühlte sich rau an, aber die beiden Decken waren ziemlich dick, und mir wurde rasch wieder warm. Ich konnte das Murmeln und Schnarchen meiner neuen Truppenkameraden hören. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich seit meiner Abfahrt nichts mehr gegessen hatte. Wenn ich Hunger habe, bin ich immer ganz aufgedreht, weshalb mir nun die Gedanken viel zu wild durch den Kopf wirbelten, als dass ich hätte schlafen können. Ich lag da, müde, schlaflos und beklommen, starrte die Decke an und dachte: Ich muss nur noch zwei Jahre hier aushalten. Noch siebenhundertneunundzwanzig Nächte, nachdem ich erst mal diese hier hinter mich gebracht habe. Das heißt, immer gesetzt den Fall, ich habe Glück und es geht nichts schief.
Ich muss dann doch eingeschlafen sein, denn ich wurde geweckt. Oder vielleicht war es auch nur eine neue Art von Schlaf – eine Art, bei der man nicht die guten Seiten des Schlafs erlebt, sondern nur all die üblen Seiten des Aus-dem-Schlaf-gerissen-Werdens. Ich hörte einen Wecker, und ein paar Augenblicke später spürte ich, wie mein Bett geschüttelt wurde, und öffnete die Augen. Das Gesicht eines Mannes beugte sich über mich, nahe genug, dass ich seinen heißen, leicht ranzigen Atem riechen konnte. Das Gesicht schien aus nichts als einem Bart, Augen und einer Wollmütze zu bestehen. Das Positive war jedoch, dass es lächelte.
»Aha. Frischfleisch«, sagte er. »Ich bin der Korporal. Auch bekannt als Yos. Fünf Minuten zum Waschen, fünfzehn fürs Frühstück, dann versammeln wir uns.« Er schüttelte das Bett noch einmal, als sollte dies Glück bringen, richtete sich dann auf und ging zum Waschraum. Auch er war ein großer Mann, weit über einen Meter achtzig groß. Überall um mich her stiegen nun auch andere Truppenmitglieder aus ihren Betten, brummten und kratzten sich. Ich sah, dass die meisten von ihnen mehr oder weniger vollständig bekleidet schliefen. Der Korporal blieb ein paar Meter weiter stehen und drehte sich zu mir um.
»Guck nicht so besorgt«, sagte er. »Du kennst doch diese Redensart, wo die Leute sagen, mach dir keine Sorgen, vielleicht kommt es ja gar nicht erst so weit? Das hier ist etwas anderes. Du bist auf der Mauer. Es ist längst so weit gekommen.« Dann lachte er und ging davon.
Die Kompanie bestand aus dreißig Verteidigern, die in zwei Staffeln oder Schichten von jeweils fünfzehn Personen aufgeteilt waren. Außerdem gab es auf jeder Wachstation noch etwa fünf Angehörige des ständigen Personals sowie Köche und Reinigungskräfte. Die Kompanien wechseln sich ab: jeweils zwei Wochen auf der Mauer und zwei Wochen woanders. Eine dieser zwei Wochen, die man nicht auf der Mauer verbringt, dient dem Training, allgemeinen Wartungsarbeiten und was sonst noch so anfällt, die andere ist Freizeit. Die Zusammensetzung der einzelnen Staffeln ändert sich nur dann, wenn jemand seine Zeit auf der Mauer abgedient hat. Das ist ein fortlaufender, nie endender Prozess, weshalb es auch immer eine Mischung aus Verteidigern gibt, die sich dem Ende ihrer Zeit auf der Mauer nähern, und solchen, die gerade erst begonnen haben. Das sind immer die beiden nervösesten, fahrigsten Gruppen: Die, die noch ganz am Anfang stehen, haben keinen blassen Schimmer von dem, was sie tun, und diejenigen, die fast fertig sind, haben das Gefühl, sie bräuchten nur die Zunge auszustrecken und könnten schon die Freiheit schmecken, von der ihr Leben nach der Mauer erfüllt sein wird. Sie können nur an zwei Dinge denken: wie wunderbar es sein wird, von hier fortzukommen, und was für eine Katastrophe es wäre, wenn während der letzten paar Tage noch irgendetwas schiefginge. Die Verteidiger in der Mitte – also diejenigen, die sich in einiger Entfernung vom Anfang und vom Ende befinden – sind da viel stoischer.
Von meiner Staffel hatte ich bereits den Sergeanten und den Korporal kennengelernt. Man konnte sie immer sehr leicht voneinander unterscheiden, ganz gleich, wie weit sie entfernt waren oder wie dick sie sich aus Schutz vor der Kälte eingemummt hatten, denn der Sergeant war schwer und gedrungen, und der Korporal war groß. Wir nannten den Sergeanten »Sarge« und den Korporal »Yos«. Yos’ Hobby war das Schnitzen, und wenn wir nicht gerade auf der Mauer standen, dann werkelte er für gewöhnlich mit einem sehr gefährlich aussehenden, gebogenen Messer an irgendeinem Stück Holz herum. Was die anderen Mitglieder der Truppe anging, so war es an diesem ersten Vormittag und auch noch ein paar Tage später gar nicht so leicht, sie voneinander zu unterscheiden. Das lag an all diesen Kleidungsschichten. Unglaublich viele Schichten! Beim Frühstück, wenn sie mit gesenkten Köpfen und schweigend über ihrem Haferbrei saßen, war es sogar schwierig, meine neuen Kameraden nach ihrem Geschlecht zu unterscheiden. Es müssen alle auf die Mauer, egal, ob Mann oder Frau, und das Verhältnis liegt grob bei jeweils fünfzig Prozent, weshalb die Hälfte meiner Staffel aller Wahrscheinlichkeit nach aus Frauen bestand. Aber das konnte man im Grunde genommen nur herausfinden, wenn man die Person direkt fragte, und das schien mir keine ideale Methode, um das Eis zu brechen.
Nach dem Frühstück gingen wir für eine kurze Lagebesprechung zur Offiziersmesse, die wegen der ramponierten, unbequemen Tische und Stühle eher wie ein Klassenzimmer aussah. Die Besprechung wurde vom Hauptmann abgehalten. In seinem Rücken hingen zwei Karten, bei denen es sich zum einen um eine detaillierte dreidimensionale Projektion unseres Abschnitts der Mauer handelte und zum anderen um eine in einem kleineren Maßstab gehaltene Darstellung der fünfzig Kilometer langen Küste, die uns umgab. Wie ich noch erfahren würde, ging es in diesen Lagebesprechungen fast nie um irgendwelche gewichtigen Neuigkeiten, abgesehen von der Temperatur und der Wettervorhersage – auch wenn dies natürlich sehr wichtige Informationen waren. Manchmal berichtete man uns von einer kleinen Flotte von Anderen, die entdeckt und aus der Luft angegriffen worden waren. Diese Berichte bekamen wir für den Fall, dass vielleicht ein paar von ihnen überlebt hatten und möglicherweise in unsere Richtung unterwegs waren. Gelegentlich gab es auch Nachrichten zur Gesamtsituation, über ausgefallene Ernten oder den Zusammenbruch eines Landes oder die politische Koordination zwischen mehreren reichen Ländern oder irgendeine andere Neuigkeit aus der neuen Welt, in der wir seit dem Wandel lebten. Manchmal gab es Berichte über einen Angriff, bei dem Andere eine neue oder unerwartete Taktik angewandt oder in überraschend großen Mengen angegriffen hatten. Falls Andere jemals durchkamen, erfuhren wir sofort davon. Dann wurde es immer sehr still im Raum. Man sagte uns wann, wo und wie viele es waren.
An meinem ersten Tag gab es keine derartigen Neuigkeiten. Wir saßen da, schlurften mit den Füßen und zappelten unruhig herum, bis schließlich der Hauptmann den Raum betrat. Wir standen auf – zwar nicht, um zu salutieren, aber immerhin, wir standen auf. Der Hauptmann führte ein strenges Regiment. Es gab viele Posten, wo sich der dortige Befehlshaber keine solche Mühe machte. Der Hauptmann nickte, und wir setzten uns wieder. Dann wurde es still im Raum.
»Nichts Besonderes heute«, sagte er. »Es gibt keine Berichte, dass Andere gesichtet worden seien, weder aus der Luft noch auf See. Keine wichtigen Nachrichten von der übrigen Welt. Es sind gerade zwei Grad Celsius, später wird es ein Hoch von fünf Grad geben, was sich wegen des Windes etwa wie null Grad anfühlen wird. Eine gute Neuigkeit: Wir haben einen neuen Verteidiger, sodass wir jetzt wieder vollzählig sind. Kavanagh, erheben Sie sich.«
Das tat ich. Ich sah mich im Raum um, und alle vierzehn Mitglieder meiner Staffel begegneten meinem Blick.
»Er beginnt jetzt seine zwei Jahre mit uns. Zwei Jahre, falls er und Sie Glück haben und wir alle unsere Arbeit tun. Denken Sie daran, die ersten Wochen ist er immer noch in der Ausbildung. Also vergessen Sie das nicht. Dies ist keine Übung. Wir könnten heute angegriffen werden, und sowohl er als auch Sie müssen auf alles gefasst sein. Okay, das ist alles. Ich sehe Sie dann, wenn ich meine Runden mache.«
Wir standen auf und gingen zum Ausgang. Der Sergeant kam zu mir herüber und zeigte auf eine mürrisch aussehende rothaarige Frau, die kaugummikauend in der ersten Reihe saß und während der Lagebesprechung die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen war, mit einem Taschenmesser ihre Fingernägel zu reinigen. Danach zeigte er auf einen äußerst bärtigen Mann, der neben ihr saß, und schließlich noch auf ein geschlechtlich nicht einzuordnendes, amorphes Wesen mit einer Sturmhaube, das hinter mir gesessen hatte.
»Nehmen Sie ihn in die Mitte, Sie drei«, sagte er. »Posten acht bis vierzehn. Hifa nimmt den Granatwerfer. Ich komme dann in einer halben Stunde und sehe nach Ihnen.«
Wir gingen auf den Wall hinaus, der zur Mauer führte. Der Sergeant sah sich in der Runde um und gab dann den Befehl – jenen Befehl, der früher einmal als der furchteinflößendste Befehl in der ganzen Armee berüchtigt war, der schrecklichste Satz, den man in seinem Leben jemals hören würde, weil er immer die unmittelbare Vorstufe eines Nahkampfs war, Worte, die bedeuteten, dass man allerhöchstwahrscheinlich an diesem Tag töten oder getötet werden würde. In der neuen Welt war er zu einem Satz geworden, den alle Verteidiger zu Beginn einer jeden Schicht zu hören bekamen.
Er sagte: »Pflanzt auf die Bajonette!«
Und so begann es.