Herausragend

Leseprobe "Diese Schrift ragt weit über vergleichbare Studien zum Thema hinaus; sie darf aufgrund ihrer einzigartigen Synthese ohne Übertreibung als eine der bedeutendsten Schriften zur Idee der Nation gelten."
Foto: Sean Gallup/Getty Images
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Vorwort

Wäre das vorliegende Buch von Marcel Mauss einfach eine Studie zur Idee, zur Geschichte und zur Realität des Nationalstaats, so dürfte mit Recht gefragt werden, was es denn in der Schriftenreihe des Instituts für Sozialforschung zu suchen habe; denn mit dem Vorhaben einer kritischen Gesellschaftsanalyse, wie umfassend auch immer verstanden, hätte ein solches Buch dann doch wohl nur wenig zu tun. Gewiss, es ließe sich geltend machen, dass das Werk von Mauss inzwischen weit genug aus dem Schatten von Émile Durkheim herausgetreten ist, um als ein eigenständiger Beitrag zu vielen wichtigen Fragen der Sozialtheorie zu gelten (vgl. etwa Karsenti 1997; Fournier 1994), weswegen eine Veröffentlichung dieses postum erschienenen Buches in unserer Reihe auch unabhängig von Traditionszugehörigkeiten gerechtfertigt sein könnte; aber so recht scheint dieses Argument nicht zu stechen, ist es doch die erklärte Absicht der Schriftenreihe unseres Instituts, vornehmlich solche Studien zu publizieren, die in einem weiten Sinn der kritischen Diagnose der Gegenwartsgesellschaften dienen – warum dann also an diesem Ort eine Untersuchung zum veraltet anmutenden Konzept der Nation?

Ein anderes Argument, das sich anführen ließe, könnte sein, dass Mauss mit seinen Studien zum Gabentausch längst als einer der Stammväter einer kapitalismuskritischen Tradition angesehen wird und insofern die Aufnahme eines weiteren Buches aus seiner Feder in unsere Reihe naheliegen müsste – aber auch das wäre so lange kein stichhaltiger Grund, wie nicht gezeigt werden könnte, dass auch die vorliegende Schrift eine Spur jenes kritischen, sich an den kapitalistischen Zeitläuften reibenden Geistes in sich trägt.

Genau das ist aber der Fall: Mauss wollte mit seiner Studie in Form einer historischen Soziologie der Nationen zeigen, dass sich diese mit einer gewissen inneren Zwangsläufigkeit nicht nur auf einen Zustand des friedlichen Miteinanders, sondern auch einer sozialistischen Kooperationsgemeinschaft zubewegen; er arbeitete an seiner Studie, um mit den Mitteln einer umfassenden Analyse der sozialen Implikationen der Nationalstaatsbildung zu zeigen, dass damit die Weichen in Richtung sowohl eines harmonischen Zusammenlebens unter den Völkern als auch einer Vergesellschaftung des jeweiligen Volksvermögens gestellt sein würden.

Was immer man über einen solchen Erklärungsanspruch denken und wie immer man auch die eigentümliche Spannung zwischen nüchtern-positivistischem Gestus und geschichtsphilosophischem Impetus beurteilen mag, mit ihrem untergründigen Ziel, der Bildung von Nationalstaaten eine emanzipatorische Entwicklungsrichtung zu entlocken, ragt diese Schrift weit über vergleichbare Studien zum Thema hinaus; sie darf aufgrund ihrer einzigartigen Synthese aus profundester Geschichtskenntnis, soziologischer Deutungskraft und praktisch-politischem Fortschrittswillen ohne Übertreibung als eine der bedeutendsten Schriften zur Idee der Nation gelten.

Das Institut für Sozialforschung weiß sich daher glücklich, das mühselig aus dem Nachlass rekonstruierte Buch von Marcel Mauss in deutscher Übersetzung in der eigenen Schriftenreihe veröffentlichen zu können. Die beiden Wissenschaftler, denen es gelungen ist, aus den seit dem Ende des Ersten Weltkriegs entstehenden Manuskripten von Marcel Mauss zu einer geplanten Schrift über die »Nation« nachträglich das vorliegende, in Frankreich 2013 erschienene Buch zusammenzustellen, sind Marcel Fournier, ein eminenter Kenner des Werkes von Mauss (vgl. Fournier 1994 und 1997), und der jüngere Sozialtheoretiker Jean Terrier; die Einführung, die sie gemeinsam zur französischen Ausgabe beigesteuert haben und die in unsere Ausgabe übernommen wurde, enthält einen fulminanten Überblick über die weitgehenden Absichten, die Mauss mit dem ihn beinah zeitlebens beschäftigenden Projekt verfolgte.

Anstatt hier also zu wiederholen, was in dieser Einführung sorgfältig und äußerst eindrucksvoll entwickelt wird, will ich mich im Folgenden darauf beschränken, nur kurz das leitende Erkenntnisinteresse des Buches zu umreißen, um damit dem deutschsprachigen Publikum den Einstieg in die Lektüre zu erleichtern. Der ganze Kosmos des Werkes von Marcel Mauss wird hierzulande ja erst ganz allmählich sichtbar. Trotz der energischen Versuche, die vor allem Henning Ritter in den 1970er Jahren unternommen hatte, Mauss’ Schriften im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen (vgl. Mauss 1975 [1950]), war es hier um deren Verbreitung und Rezeption bis vor kurzem eher schlecht bestellt.

Interessanterweise hat sich das nach meinem Eindruck erst geändert, als im Gefolge der weltweiten Finanzkrise das Interesse an kapitalismusskeptischen Theorien erneut anstieg; denn damit wuchs plötzlich auch wieder die Aufmerksamkeit für die Schrift Die Gabe, die deswegen unschwer als kapitalismuskritisch angesehen werden konnte, weil sie in der »totalen sozialen Tatsache« des Gabentausches archaischer Gesellschaften ein solidaritätsstiftendes Medium der sozialen Integration angelegt sah, das ausdrücklich auch für moderne Gesellschaften als sowohl erforderlich wie auch als in Resten noch existent angesehen wurde – so spielt Mauss bekanntlich am berühmten Ende seiner Studie auf die französische Sozialgesetzgebung seiner Zeit an, um zu belegen, dass in rudimentärer Weise solche dem Gabentausch ähnliche Formen von nicht am individuellen Gewinn orientierten Sozialpraktiken auch im Kapitalismus überlebt haben (vgl. Mauss 1995 [1925]: Kap. IV. 1).

War dieser Zusammenhang zwischen ethnologischer Recherche und kapitalismuskritischer Absicht in der Studie Die Gabe aber erst einmal durchschaut, so stieg mit einem Mal das Interesse an seinen anderen Schriften auch im deutschsprachigen Raum. Was im Zuge dieser nun plötzlich aufflammenden Rezeption an den Schriften von Marcel Mauss schrittweise deutlich wurde, war etwas, was zuvor infolge der Dominanz vor allem der strukturalistischen Lesart eines Lévi-Strauss sogar in Frankreich kaum hatte sichtbar werden können (vgl. dazu vorzüglich: Hahn 2015): dass dieser Soziologe aufgrund seiner lebenslangen Bindung an das im Frankreich der Jahrhundertwende zunächst von Jean Jaurès verkörperte Projekt des Sozialismus all seine weitausholenden Studien nicht zuletzt mit dem untergründigen Interesse betrieben hatte, diejenigen normativen Ressourcen in modernen Gesellschaften aufzuspüren, die der sozialen Verbreitung eines wirtschaftlichen Solidarismus entgegenkommen könnten.

Stärker als sein Onkel und Lehrmeister Émile Durkheim, bei dem freilich derartige Tendenzen auch schon angelegt waren (vgl. exemplarisch Filloux 1977), wollte Marcel Mauss die Soziologie als eine Disziplin verstanden wissen, in der mit den Mitteln einer umfassenden, die archaischen Gesellschaften miteinbeziehenden Tatsachenforschung die Möglichkeiten der Wiederbelebung eines solidarischen Kooperationsgeistes auf dem Boden der modernen kapitalistischen Gesellschaften erkundet werden.

Der Einsicht in dieses zentrale Erkenntnisinteresse von Mauss verdankt sich, wenn ich es richtig sehe, die erstaunliche Flut von Veröffentlichungen, die innerhalb des letzten Jahrzehnts zu seinem Werk im deutschsprachigen Raum erschienen sind; dazu gehören nicht nur erstmalige Editionen von hierzulande bislang weitgehend unbekannten Schriften aus seiner Feder (vgl. Mauss 2012 [1968/1969], 2015 und 2013 [1947]), sondern auch monographische Einführungen in sein Gesamtœuvre sowie Sammelbände zur Schrift Die Gabe (vgl. Moebius 2006; Moebius und Papilloud 2006).

Nicht alles aus diesem Konvolut von Neuerscheinungen ist gewiss in derselben Weise geeignet, jenes zuvor umrissene Bild des politisch-praktisch motivierten Sozialtheoretikers zu unterstützen – so dient etwa das Handbuch der Ethnogra­phie (2013 [1947]) im Wesentlichen nur einer methodischen Klärung von Leitlinien der ethnographischen Forschung; aber im Großen und Ganzen lässt sich wohl sagen, dass sich das neuere Interesse am Werk von Marcel Mauss vor allem dem Eindruck verdankt, darin würde mit positivistischen Mitteln, enormen geschichtlichem Sachverstand und soziologischer Phantasie nach Wegen der Überwindung des privategoistischen Geistes der kapitalistischen Moderne gesucht (vgl. exemplarisch Karsenti 1997).

Im Lichte eines solchen Erkenntnisinteresses muss nun fraglos auch Mauss’ direkt nach dem Ersten Weltkrieg erwachtes Engagement für das Thema des Nationalstaats und des Nationalismus verstanden werden; nach allem, was wir über seine Motive für dieses dann bis ans Lebensende verfolgte Projekt wissen, glaubte der Soziologe, in der Nation eine »totale soziale Tatsache« entdeckt zu haben, die wie die archaische »Gabe« alle sozialen Sphären umfasst, daher zwischen wirtschaftlichen, politischen oder rechtlich-moralischen Belangen keine Unterscheidungen zulässt und die Gesellschaftsmitglieder unter normalen Bedingungen dazu motiviert, sich gemeinsam für eine kooperative Form des Wirtschaftens einzusetzen und nach friedlichem Austausch mit allen anderen Staatsvölkern zu streben.

Legt man sich das Ziel der vorliegenden Studie in dieser Weise zurecht, so wird unmittelbar klar, vor welche enormen Herausforderungen sich Mauss gestellt gesehen haben muss; so perfektionistisch wie er offensichtlich sowohl in empirischer als auch in theoretischer Hinsicht war, verlangte ein solches Projekt von ihm nicht nur eine geschichtliche Rekonstruktion sowohl der Entstehung als auch der allmählichen Verbreitung des Nationalstaatsgedankens, sondern auch eine begriffliche Differenzierung von unterschiedlichen Graden und Formen der Nationenwerdung oder, wie Mauss sagt, der »Nationalisierung« einer Gesellschaft.

All das wird nun in der vorliegenden Studie unter steter Einbeziehung des historischen Materials mit begrifflicher Akribie und enormem Gespür für weltpolitische Zusammenhänge entwickelt – wollte man in Hinblick auf das atemberaubende Vermögen zur begrifflichen Durchdringung geschichtlich komplexester Vorgänge nach Vergleichbarem in der Soziologie Umschau halten, so fiele einem im deutschsprachigen Raum als erster wohl Max Weber ein.

Auf jeden Fall besteht das enorme Verdienst der vorliegenden Studie darin, bei Berücksichtigung der Vielzahl historischer Einzelfälle eine Reihe von generalisierungsfähigen Hypothesen zu entwickeln, die die Ausgangsbedingungen und die normative Entwicklungsrichtung der Nationenbildung betreffen. Das beginnt mit der Beobachtung, dass eine Gesellschaft, nämlich eine unter einer bestimmten Verfassung kontinuierlich auf einem eigenständigen Territorium zusammenlebende Gruppe von Menschen, erst dann zu einer Nation wird, wenn sie durch die Zentralisierung politischer Macht weit genug sozial integriert ist, um jedes Mitglied gegenüber dem staatlichen Zentralorgan eine politische Loyalität empfinden zu lassen.

Bereits diese erste Bestimmung erlaubt es Mauss dann im Weiteren, an solchen nationalstaatlichen Gebilden graduelle Differenzierungen vorzunehmen, die sich daran bemessen, in welchem Grade die sozial integrierenden Normen bereits als kollektiv hervorgebracht begriffen werden und damit aller außersozialen Autorität entkleidet worden sind – ist ein solcher Säkularisierungsprozess noch nicht abgeschlossen, besteht also weiterhin der Glaube an religiöse Quellen politischer Macht oder gilt die politische Treuepflicht anderen sozialen Organen als den zentralstaatlichen Instanzen, so spricht Mauss von bloßen »Nationen im Werden« oder auch von politischen Reichen.

All diese Unterscheidungen, zu denen noch viele weitere hinzukommen, die ausnahmslos von eminenter Bedeutung für die politische Soziologie sind, dienen dem Autor allerdings nur als Vorstufe zur Behandlung des Themas, das ihm vor allem am Herzen liegt – nämlich welche normative Entwicklungsrichtung die einmal erfolgreich errichteten Nationen dann nehmen können, wenn sie nicht in eine »Fetischisierung« nationaler Gemeinsamkeiten und damit in einen partikularistisch überhöhten Nationalismus abgleiten.

Hier setzt ein, was die französischen Herausgeber des Buches als Tendenz zu einer »geschichtsphilosophisch-teleologischen Herangehensweise« bezeichnen und worin angesichts der gegenwärtigen Lage der Weltpolitik sicherlich das eigentlich Herausfordernde der Argumentation von Mauss liegt; er ist der Überzeugung, dass es der mit der Nationalstaatsbildung einhergehende Wandel im moralischen Kollektivbewusstsein für alle Staatsbürger und -bürgerinnen nahelegt, sich für eine staatlich kontrollierte, den genossenschaftlichen Geist befördernde Wirtschaftspolitik einzusetzen und einen friedlichen Austausch mit allen anderen Staatsvölkern herbeizusehnen.

Allerdings stützt Mauss diese optimistische Diagnose nicht allein auf Vermutungen über Wandlungen im kollektiven Moralbewusstsein, sondern noch viel stärker auf Mutmaßungen bezüglich der sozialisierenden Wirkungen der historisch neu entstandenen Kommunikationsmittel; was der wirtschaftliche Zwang zum internationalen Handel an Techniken entstehen lässt, um Verkehrswege abzukürzen, Transfers zu ermöglichen und Absprachen zu treffen, ist nach Überzeugung des Soziologen zusammengenommen dazu angetan, sowohl den inneren Zusammenhalt einer Nation zu stärken als auch den Hang zu einem friedlichen Internationalismus zu befördern.

Liest man heute alle diese zuversichtlichen Prognosen, so drängt sich unweigerlich die Frage auf, welche historischen Entwicklungen deren Realisierung in den letzten beiden Jahrzehnten verhindert haben; nach dem dramatischen Ende des Kalten Krieges machte sich weltweit ja die Hoffnung auf eine Überwindung der Feindseligkeit zwischen den Nationalstaaten breit, die inzwischen durch das Wiedererwachen eines von Mauss bereits befürchteten Fetischismus nationaler Besonderheiten bitter enttäuscht worden ist.

Angesichts solcher Rückschritte lässt sich die weitblickende Studie von Marcel Mauss wohl am ehesten als Skizze eines idealen Entwicklungsverlaufs verstehen, vor deren Hintergrund empirisch zu prüfen ist, welche politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Weichenstellungen es verhindert haben, dass die von ihm prognostizierten Verbesserungen eingetreten sind; gerade der optimistische Überschwang seiner soziologischen Analyse der Entstehung und Zukunft von »Nationen« wäre es dann, der uns heute bei der erforderlichen Aufklärung der weltpolitischen Lage zugute käme. Es bleibt daher nur zu hoffen, dass die vorliegende Studie die Leserinnen und Leser findet, die sie im Sinne einer therapeutischen Unterrichtung über die Verfehlungen der letzten Jahrzehnte zu nutzen wissen.

Axel Honneth
Frankfurt am Main, im August 2017

09.11.2017, 14:41

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