Vorwort
Kein Nazi, nirgendwo. Als im Frühling 1945 amerikanische Soldaten von Westen her in Deutschland einmarschierten, erlebten sie zwar viele harte, oft tödliche Gefechte – doch damit hatten sie gerechnet. Verwirrend hingegen war für die Männer der Fronteinheiten und die wenigen Frauen in ihrem Gefolge, dass Dutzende Städte und Hunderte Dörfer widerstandslos übergeben wurden. Alles Mögliche hatten sie erwartet, nicht aber weiße Fahnen. Noch erstaunlicher schien ihnen, was die Menschen oft erzählten, deren Land sie gerade besetzten. Der Chronist der 78. US-Division fasste die Erfahrungen seiner Kameraden zusammen: »Es gab keine Nazis, auch keine Ex-Nazis, und nicht einmal irgendeinen Nazi-Sympathisanten.«Die Armeezeitung Stars and Stripes schrieb am 15. April 1945: »Die Deutschen benehmen sich alle gleich, wenn man sie verhaften will. Sie sagen, sie hätten niemals ernsthaft an den Nationalsozialismus geglaubt.« Natürlich diente der Artikel auch der Vorbereitung der Soldaten auf Argumente, denen sie im Gespräch mit Deutschen begegnen würden: »Sie haben die unglaublichsten Entschuldigungen für ihr Verhalten. Es spielt gar keine Rolle, ob sie 1927 oder 1939 in die Partei eintraten. Alle sagen, sie seien aus geschäftlichen Gründen zum Eintritt gezwungen gewesen – selbst jene, die bereits 1927 eintraten.«
Die Kriegsberichterstatterin Martha Gellhorn bündelte ihre Eindrücke in einer Reportage, die mit den Worten begann: »Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten Dorf gegeben, und es stimmt schon, diese Stadt da, 20 Kilometer entfernt, war eine regelrechte Brutstätte des Nationalsozialismus.« Noch mehr überraschte die Journalistin, wie freundlich viele Deutsche die feindlichen Truppen empfingen: »Wir haben schon lange auf die Amerikaner gewartet. Ihr seid gekommen und habt uns befreit.« Die Nazis seien Schweinehunde, die Wehrmacht wolle eigentlich aufgeben, wisse aber nicht wie. Das demonstrativ gute Gewissen vieler Deutscher machte Gellhorn ratlos; sie reagierte mit Zynismus: »Man müsste es vertonen. Dann könnten die Deutschen diesen Refrain singen, und er wäre noch besser. Sie reden alle so. Man fragt sich, wie die verabscheute Nazi-Regierung, der niemand Gefolgschaft leistete, es fertigbrachte, diesen Krieg fünfeinhalb Jahre durchzuhalten.« Ein Widerspruch, den die Reporterin folgendermaßen kommentierte: »Ein ganzes Volk, das sich vor der Verantwortung drückt, ist kein erbaulicher Anblick.«
Genauso erging es ihrer Kollegin Margaret Bourke-White: »Ein amerikanischer Major gab unserer Verwirrung über das allgemeine Verleugnen jeder Verbindung mit dem Nazismus Ausdruck, als er meinte: ›Die Deutschen tun, als seien die Nazis eine fremde Rasse von Eskimos, die vom Nordpol gekommen und irgendwie in Deutschland eingedrungen sind.‹«Weniger überrascht denn wütend reagierte Lee Miller, die für das Modemagazin Vogue bei der Army akkreditiert war. »Erstaunlich fand ich die Dreistigkeit der Deutschen«, schrieb sie: »Wie wollen sie sich von allem, was war, distanzieren? Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?«Dieser Irrglaube hielt sich über die ersten Tage der Besatzung hinaus. Als der britische Schriftsteller Stephen Spender im Juli 1945 eine Erkundungsreise durch Deutschland unternahm, erzählte ihm in Bonn ein Student, dass er kurz vor Kriegsende an der Universität eine antinazistische Gruppe gegründet habe. Irritiert hielt der Poet fest: »Von den Nazis sprach er wie von einer mythischen Rasse, die völlig vom Antlitz der Erde verschwunden war.«
Lee Millers Beobachtung traf es indes genau: Beim im Frühjahr 1945 allgegenwärtigen »Verschwinden« des Nationalsozialismus handelte es sich um Verdrängung. Die weitaus meisten Deutschen wollten instinktiv, dass die zwölf braunen Jahre wirkten, als seien sie aus der Zeit gefallen. Obwohl alle erwachsenen Deutschen der Nachkriegszeit das NS-Regime miterlebt und sehr viele daran aktiv mitgewirkt hatten, schien es schlagartig fern. Psychologisch war das nur zu erklärlich angesichts der Verbrechen, die in deutschem Namen und meistens von Deutschen verübt worden waren: Es handelte sich um einen Schutzmechanismus. Zugleich verdeckte diese Tabuisierung, dass der Nationalsozialismus eine sehr breite und aktive Volksbewegung gewesen war. Man richtete sich lieber ein in der Vorstellung, selbst ein Opfer Hitlers und seines Krieges zu sein.
Dieses Buch behandelt die Funktion der NSDAP während des Aufstiegs des Nationalsozialismus sowie im Dritten Reich. Ohne seine Bewegung hätte Hitler weder die Macht errungen noch hätte sich seine Herrschaft bis in den April 1945 hinein aufrechterhalten lassen. Doch Organisationen führen kein Eigenleben, sondern sind die Summe ihrer Mitglieder. »Wer heute den Sieg des Nationalsozialismus in seinen tiefsten Gründen kennenlernen will«, schrieb 1934 der Trierer SS-Mann Theodor Schieben, »wird nicht umhinkommen, die Frage aufzuwerfen: ›Was sind das für Menschen, die jahrelang fast blindlings nur auf das Wort eines fast unbekannten Menschen hörend und vertrauend, mit verbissenem Eifer für eine Idee stritten, im festen Glauben auf einen endlichen Erfolg?«Was also brachte Deutsche dazu, Nationalsozialisten zu werden und bis weit in den Krieg zu bleiben?
Es gibt eine Reihe bekannter Erklärungen: die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Angst vor einem kommunistischen Umsturz und der demütigende Versailler Vertrag, die Verunsicherung durch die extreme Inflation der Jahre 1922/23 und der wirtschaftliche Absturz infolge der Weltwirtschaftskrise ab 1930, die Suche nach Schuldigen für die als verzweifelt wahrgenommene eigene Lage, für die meist Sozialdemokraten und natürlich Juden verantwortlich gemacht wurden. All das ist zutreffend und erklärt doch nicht, warum Hunderttausende, bald Millionen Menschen die Hasspredigten von Hitler und vielen anderen NSDAP-Rednern ernst nahmen, ja ihnen geradezu hörig wurden. »Es war für mich, als wenn ich das Evangelium hörte«, beschrieb der Berliner Fritz Junghanß seine erste Begegnung mit dem Redner Joseph Goebbels. Er fand, dass die Idee des Nationalsozialismus wie »das Licht in mein Leben« gekommen sei.
In diesem Buch werden zum ersten Mal inhaltlich umfassend die subjektiven Berichte ausgewertet, in denen fast 550 Männer und 36 Frauen Auskunft über ihren Weg in Hitlers Partei gaben, vor allem solche, die schon vor ihrem Durchbruch bei den Reichstagswahlen 1930 mit der NSDAP sympathisierten. Der Soziologe Theodore Abel von der Columbia University New York hatte 1934 ein Preisausschreiben gestartet; prämiert werden sollte »die beste persönliche Lebensgeschichte eines Anhängers der Hitler-Bewegung«. Insgesamt 400 Reichsmark deponierte Abel für 18 Preise zwischen 125 und zehn Reichsmark bei der Deutschen Bank. Die Teilnehmer sollten ihre familiäre Situation, Ausbildung und Gefühlslage beschreiben und wie sie zur NSDAP gestoßen waren. Als Grund gab er an: »Der Zweck des Wettbewerbs ist die Sammlung von Material über die Geschichte des Nationalsozialismus, sodass das amerikanische Publikum sich aus realen, persönlichen Geschichten darüber informieren kann.«
Damit stieß Abel, in Lodz geboren und 1923 in die USA ausgewandert, auf offene Ohren, denn viele Nationalsozialisten waren sehr mitteilsam, sobald es um ihre Leistungen in der »Kampfzeit« bis Ende 1932 ging. Verschiedene staatliche und NSDAP-Dienststellen unterstützten das Vorhaben, manche warben sogar in Rundschreiben für das Projekt.Besonders stark setzten sich offenbar, gemessen an den eingereichten Beiträgen, Parteifunktionäre in der Reichshauptstadt, in Ostpreußen und der Pfalz für Abels Vorhaben ein.Ausdrücklich lobte der Berliner Otto Hinz die Initiative: Die Deutschen wünschten sich »nichts sehnlicher«, als dass im Ausland die Vorurteile über den Nationalsozialismus fallen gelassen würden. Daher begrüße er »aus vollem Herzen« den Plan, frühen Anhängern »Gelegenheit zu geben, die Gründe, die sie zum Eintritt in die NSDAP bewegten, zu schildern und ihre Eindrücke der Bewegung zu beschreiben«.
In der gesetzten Frist von drei Monaten trafen 683 Berichte ein – weniger als Abel erhofft hatte, was aber eine Folge seiner begrenzten Ressourcen war. Gestützt auf dieses Material veröffentlichte er 1938 zwar ein Buch mit dem Titel Why Hitler Came into Power, doch systematisch wertete er das Material nie aus. Sein Nachlass in der Hoover Institution in Stanford enthält noch 584 Berichte mit mehr als 3700 Seiten, rund 100 sind verschollen. Ihre Länge ist sehr unterschiedlich, von einer guten halben bis zu mehreren Dutzend Seiten.Noch größer ist die inhaltliche Differenz: Die Mehrheit ist erkennbar stilisiert, wirkt manchmal formelhaft. Doch es gibt auch selbstkritische Berichte.Ein zweiter Anlauf von Abel, auf dieselbe Weise zu einer auch statistisch relevanten Zahl aussagekräftiger Berichte zu kommen, erbrachte 1939 rund 3000 Beiträge, die aber verschollen sind.
Der deutsch-amerikanische Sozialwissenschaftler Peter H. Merkl stützte Anfang der 1970er-Jahre seine Studie Political Violence Under the Swastika auf Abels praktisch vergessene Sammlung. Einem Trend der Zeit folgend nutzte er komplizierte statistische Verfahren, um verallgemeinerbare Schlüsse zu ziehen.Repräsentativ jedoch konnten seine Ergebnisse nicht sein, denn die Datengrundlage war einerseits zu schmal, andererseits zwar zufällig, aber eben auch willkürlich; es gab und gibt keine Möglichkeit, daraus gewonnene Werte seriös auf die Gesamtmitgliedschaft der NSDAP hochzurechnen.
Erst in den vergangenen Jahren griffen Historiker vereinzelt auf die Sammlung zurück, um Einzelaspekte der NS-Geschichte zu beleuchten. Thomas Rohkrämer etwa interessierte, »was die Aktivisten an der Bewegung faszinierte und welche Schlüsselerlebnisse zu ihrem Engagement für den Nationalsozialismus führten«; Arndt Weinrich untersuchte das Kriegserlebnis der jungen Generation; Katja Kosubek edierte die 36 Berichte von »alten Kämpferinnen« der NSDAP.Doch abseits weniger Spezialstudien harrte der umfangreichste und schon deshalb wichtige Bestand von Selbstdarstellungen überzeugter Nationalsozialisten bis jetzt einer Auswertung. Immerhin hat die Hoover Institution im Januar 2017 alle Berichte online gestellt.
Zusammen mit anderen, verstreut überlieferten Schilderungen von »kleinen« Parteimitgliedern, teilweise aus Entnazifizierungsverfahren, bildet die Abel-Sammlung eine Säule dieses Buches. Man muss diese Selbstdarstellungen freilich quellenkritisch betrachten. Verfasst wurden sie im Sommer 1934; die Texte reflektieren die Propaganda der »Kampfzeit«. Deutlich wird das an der Schilderung der politischen Gewalt: Schuld an Ausschreitungen trugen angeblich meistens die Kommunisten, oft aber auch das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, eine SPD-nahe Organisation, deren Mitglieder von Nationalsozialisten bis hinauf zu Joseph Goebbels gern als »Reichsbananen« oder »Bananenjünglinge« geschmäht wurden.Natürlich schilderten sich die Nationalsozialisten selbst als unschuldig: »Es gab wüste Schlägereien und Saalschlachten, in denen immer wir die Angegriffenen waren.«Unbedachte Formulierungen lassen die realen Verhältnisse erkennen, die sich durch Polizeiakten der 1920er- und frühen 1930er-Jahre, die zweite Säule dieses Buches, rekonstruieren lassen: In sehr vielen Fällen provozierten die Hitler-Anhänger. Der Berliner Armin Franz berichtete freimütig, dass seine Kameraden und er 1927/28 bei informellen Treffen auf dem Potsdamer Platz gern den »Boshaften und Überschlauen«, die Hitler und Goebbels zu kritisieren wagten, »eins aufs Maul« gaben.Der Ulmer Parteikassierer Wilhelm Protz schrieb: »Der Gegner wurde gezwungen, sich zu stellen.«Der Ostpreuße Wilhelm Bischof rühmte sich, dass seine Freunde und er Veranstaltungen der SPD »sprengten«.Emil Setny schilderte, wie man allabendlich »geschmückt mit dem Hakenkreuz« am Berliner Bahnhof Zoo saß, um »uns mit den dort bummelnden Juden und Judenknechten zu reiben«. Dabei benutzten sie »die vor uns stehende, schnell geleerte Bouillontasse, die unheimlich dick und stabil gebaut war und, richtig angefasst, im Meinungskampf gute Dienste« leistete.
Eine dritte Säule sind erhaltene Akten der NSDAP sowie darauf beruhende Lokalstudien. Da trotz der Bombardements deutscher Städte und Vernichtungsaktionen in den letzten Kriegswochen 1945 unüberschaubar viel Originalmaterial erhalten ist, konzentriert sich dieses Buch exemplarisch auf sechs regionale Schwerpunkte: München als Geburtsort der NSDAP und Berlin als wichtigstes Schlachtfeld; das Ruhrgebiet, speziell die gut dokumentierte Doppelstadt Gelsenkirchen-Buer, als industriell geprägte Region; Stuttgart und sein württembergisches Umland als zugleich entwickeltes wie ländliches Gebiet; sowie Ostpreußen als Provinz. Hinzu kommt Wien, denn hier entwickelte sich eine spezifische Form des Nationalsozialismus teilweise in Verbindung mit, teilweise in deutlicher Abgrenzung von der Person Hitler.
Die vierte Säule des Buches bilden schließlich jene Quellen, die auch bisher schon vielen Studien über den Nationalsozialismus zugrunde liegen: Hitlers Reden und sonstige Äußerungen, die Tagebücher des Propagandachefs und Berliner Gauleiters Joseph Goebbels, der Völkische Beobachter und bis 1933 die unabhängigen Zeitungen, dazu Depeschen und Erinnerungen ausländischer Diplomaten und Journalisten, die Deutschland-Berichte der Exil-SPD aus der Zeit 1934 bis 1940 und für den Zweiten Weltkrieg die Meldungen aus dem Reich des SS-Inlandsnachrichtendienstes SD.
Eine allgemeine Geschichte der Hitler-Partei gibt es bisher nicht – obwohl kein Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte intensiver erforscht worden ist als die zwölf braunen Jahre. Natürlich kommt die NSDAP in allen der fast hundert seriösen Hitler-Biografien vor, die seit den 1930er-Jahren veröffentlicht wurden, aber nirgends wird ihre Bedeutung angemessen behandelt. Verschiedentlich interessante Einsichten finden sich in vielen Darstellungen zur Geschichte des Dritten Reiches, zuletzt in Michael Grüttners nützlichem Band Das Dritte Reich im Rahmen des Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte oder in Richard Evans 3000-Seiten-Werk Das Dritte Reich. Doch nicht einmal Bücher, die ausdrücklich das Wort »Nationalsozialismus« im Titel tragen, behandeln überwiegend die Partei, sondern stets die Geschichte Deutschlands zwischen 1933 und 1945, wenn auch mit einem Prolog zum Aufstieg der Hitler-Bewegung – zum Beispiel Hans-Ulrich Wehlers letztes großes Werk Der Nationalsozialismus, Michael Burleighs Gesamtdarstellung Die Zeit des Nationalsozialismus und Michael Wildts kurze Geschichte des Nationalsozialismus.
In deutscher Sprache hat bisher nur ein einziges Buch versucht, die NSDAP als zentrale Organisation der Zeitgeschichte zu beschreiben, verfasst von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker. Die beiden DDR-Historiker folgten orthodox-marxistischen Geschichtsbildern; ihr Werk ist, wiewohl nach dem ersten Erscheinen 1981 gleichzeitig in Ost-Berlin und Köln fünfmal und teilweise deutlich erweitert wiederaufgelegt, deshalb praktisch nutzlos. Fündig wird hier nur, wer sich über die SED-Sicht auf den unscharf »Faschismus« genannten Nationalsozialismus informieren will. Vor allem das ideologisch begründete Missverständnis der Autoren, die NSDAP als »wählerstärkste Partei des Kapitals« zu sehen, verhindert Erkenntnisse.Denn wer die Hitler-Bewegung nicht von deren Mitgliedern her betrachtet, kann ihre Rolle nicht verstehen.
Viel besser ist die Lage auch in der Weltwissenschaftssprache Englisch nicht. 1969 und 1973 erschien eine zweibändige History of the Nazi Party von Dietrich Orlow, einem US-Historiker mit Wurzeln in Hamburg; sie wurde jedoch niemals übersetzt und erlebte keine Nachauflagen. Auch die stark sozialhistorisch angelegte Arbeit The Nazi Party von Michael Kater, erstmals erschienen 1983, fand in Deutschland kaum Beachtung.
Natürlich gibt es eine schier unübersehbare Fülle von Spezialstu- dien zur NSDAP. Darunter sind zahlreiche Qualifikationsarbeiten, häufig regional oder sogar lokal beschränkt. Sie arbeiten, genauso wie Ausstellungskataloge und Sammelbände zu Jahrestagen, Einzelaspekte oft gut auf, quellengesättigt und analytisch. Pars pro toto kann man Carl-Wilhelm Reibels Dissertation Das Fundament der Diktatur über die NSDAP-Ortsgruppen nennen oder Christian Rohrers Arbeit über die Nationalsozialistische Macht in Ostpreußen. Jedoch eröffnet keine dieser Studien die Chance, einen Gesamteindruck über das Phänomen NSDAP zu gewinnen.
Drei deutsche Historiker haben sich trotzdem hochverdient gemacht um die Untersuchung der Hitler-Partei – Peter Longerich, Jürgen W. Falter und Armin Nolzen. Longerich hat wesentlich mitgewirkt am Großprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München, das aus verstreut in zahlreichen Archiven erhaltenen Kopien den Aktenbestand der Parteikanzlei der NSDAP rekonstruierte. Dazu verfasste er eine Arbeit über den Apparat unter Leitung erst von Rudolf Heß, ab 1941 von Martin Bormann – allerdings ist auch dies keine Gesamtgeschichte der NSDAP. Der Wahlforscher Falter, von Hause aus Politologe, hat mit hochkomplexen sozialwissenschaftlichen Methoden schon in den 1980er-Jahren den Mythos von der »Mittelstandspartei NSDAP« widerlegt und treibt seit seiner Emeritierung 2012 ein großes Unterfangen voran, bei dem erstmals die gewaltigen erhaltenen Bestände der Parteiregistratur im Bundesarchiv umfassend ausgewertet werden. Zudem eröffnet der 2016 von ihm herausgegebene Sammelband Junge Kämpfer, alte Opportunisten neue Perspektiven. Armin Nolzen schließlich, sicher der beste Kenner der NSDAP in der jüngeren Forscher-Generation, veröffentlicht einen bemerkenswerten Spezialaufsatz nach dem anderen, aber bisher keine Zusammenfassung seiner Ergebnisse.
Diese Lücke versucht das vorliegende Buch zu schließen. Wie schon bei meinen Bänden Hitlers Berlin. Geschichte einer Hassliebe (2005), Berlin im Krieg. Eine Generation erinnert sich (2011) und »Mein Kampf«. Die Karriere eines deutschen Buches (2015) beruht auch Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder ganz auf den Quellen; theoretische Analysen und Forschungsdiskussionen spielen bewusst keine Rolle. Wichtige Erkenntnisse, beispielsweise aus Falters Projekt, sind gleichwohl eingeflossen und werden in Anmerkungen nachgewiesen.
Zwei Drittel dieses Buches behandeln die Zeit bis Januar 1933, also den Aufbau und den Aufstieg der NSDAP; nur ein Drittel beschäftigt sich mit den zwölf Jahren des Dritten Reiches. Das hat drei Gründe: Erstens stammen die Berichte der Abel-Sammlung aus dem Sommer 1934 und legen ihren Schwerpunkt ausdrücklich auf die »Kampfzeit«, wie die NSDAP die Jahre von 1919/20 bis zur Machtübernahme nannte. Zweitens ist für die Zeit ab 1933 keine saubere Trennung zwischen Partei- und Staatsapparat mehr möglich, war doch die NSDAP in Person von Rudolf Heß als Reichsminister ohne Geschäftsbereich auf Weisung Hitlers bei allen Gesetzesvorlagen zu beteiligen. Drittens schließlich konzentrierte sich die NSDAP ab 1933 bis weit in den Krieg hinein zunehmend auf die Durchdringung der Volksgemeinschaft und deren Überwachung; erst infolge der Luftangriffe auf deutsche Städte bekam sie mit der Kinderlandverschickung und bald darauf mit der Nothilfe für Ausgebombte wieder zusätzliche Aufgaben, die ausführlich dargestellt werden.
Dieses Buch kann gewiss nicht alle Fragen über die NSDAP beantworten. Wenn es jedoch ein besseres Verständnis für die Funktionsweisen einer populistischen, radikalen Bewegung fördert und verdeutlicht, dass vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme immer in die Irre führen, mitunter sogar in eine Katastrophe, dann erfüllt es seinen Zweck.
Berlin, Pfingsten 2017
Sven Felix Kellerhoff