Einleitung
Sobald es um wirtschaftliche Fragen geht, verhalten sich Regierungen ganz ähnlich wie Jack Nicholson als Marineoberst Jessep in Aaron Sorkins Film Eine Frage der Ehre: »Sie wollen die Wahrheit hören? Sie können die Wahrheit doch gar nicht vertragen!« Man scheint dort oben davon auszugehen, es sei für uns nicht zumutbar, den Tatsachen ins Auge zu sehen und uns damit auseinanderzusetzen, wie die Welt wirklich funktioniert. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Wahrscheinlich ist da etwas dran. Auch wenn wir, das Volk, das nie eingestehen würden, wäre es uns doch im Großen und Ganzen lieber, man würde uns die unbequemen Wahrheiten ersparen. Oder wie es eine Figur in Martin Amis’ Roman Information ausdrückt: »Sich der Realität zu verschließen war absolut wunderbar. Es war das Beste. Sogar noch besser als zu rauchen.« Bedauerlicherweise funktioniert das in diesem Fall jedoch nicht. Als die wirtschaftlichen Strömungen, die unser Leben durchziehen, noch sanft und harmlos waren, mussten wir nicht darüber nachdenken, so wie man nicht über die Strömung nachdenkt, wenn man behaglich einen Fluss hinuntertreibt. Mehr oder weniger genau das haben wir getan, ohne es uns bewusst zu machen – wir haben uns behaglich treiben lassen.
Und dann kam das Jahr 2008. Plötzlich wurde uns klar, dass diese Strömungen sehr viel gewaltiger waren, als wir gedacht hatten. Statt uns zu verwöhnen oder uns freundlich unter die Arme zu greifen, spülten sie uns weit hinaus ins offene Meer. Und dort draußen blieb uns nichts anderes übrig, als verzweifelt gegen sie anzukämpfen, während wir nicht einmal wussten, ob unsere Anstrengungen ausreichen würden, wieder zurück ans sichere Ufer zu gelangen.
Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Es klafft eine gewaltige Lücke zwischen den Menschen, die wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen, und jenen, die es nicht tun. Zum Teil wurde diese Kluft ganz bewusst durch Geheimnistuerei und Verschleierungstaktiken vertieft; aber den weit größeren Anteil hatte, wie ich glaube, das Gefühl, dass es so einfach viel leichter war. Und zwar für beide Seiten. Die Finanzleute mussten niemandem erklären, was sie im Schilde führten, sie durften ihre eigenen Regeln schreiben und haben nicht schlecht davon profitiert. Und wir anderen fanden es äußerst angenehm, uns nicht den Kopf über ökonomische Fragen zerbrechen zu müssen. Lange Zeit schien uns das die beste Lösung zu sein. Aber das ist nun vorbei. Die Strömung hat zu viele von uns aufs offene Meer hinausgespült, und selbst diejenigen, die es wieder zurück an Land geschafft haben, können sich nur zu gut daran erinnern, wie gewaltig der Sog war und wie hilflos sie sich fühlten. Wir müssen die Lücke unbedingt schließen, sowohl auf der »Makroebene«, damit wir sachkundige, demokratische Entscheidungen treffen können, als auch auf der »Mikroebene«, bei den Alternativen, die sich uns ganz persönlich bieten.
Einer der wichtigsten Gründe, warum es diese Lücke überhaupt gibt, ist geradezu beschämend einfach: Die meisten verstehen nicht einmal, wovon diese Finanzleute überhaupt reden. Wenn im Radio oder Fernsehen oder auch in der Zeitung von »fiskalischen« oder »monetären« Inhalten die Rede ist, wenn jemand von »marginalen Zinssätzen« spricht oder auch von »Anleiherenditen« und »Aktienkursen«, dann wissen wir zwar ungefähr, mehr oder minder, was das alles heißen soll, aber genau dann eben doch nicht, jedenfalls nicht so, dass wir in der Lage wären, der Diskussion zu folgen. Der Begriff »Zinssatz« zum Beispiel ist ein einfaches Kompositum, in dem jedoch ein ungeheures Wissen steckt, und zwar nicht nur über Kapitalmärkte und die Finanzwelt, sondern auch darüber, wie ganze Gesellschaften funktionieren. Ich bin mit der erwähnten Art von Halbwissen nur zu vertraut, weil ich selbst einmal zu den Menschen gehörte, die zwar ungefähr, aber genau dann eben doch nicht wussten, wovon die Rede war, jedenfalls nicht genug, um sich kenntnisreich und vernünftig an der Diskussion zu beteiligen. Jetzt, da ich mir ein wenig Wissen angeeignet habe, finde ich, dass alle anderen dies auch tun sollten. C. P. Snow hat einmal gesagt, jeder sollte den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik kennen. Genauso, denke ich, sollte auch jeder über Zinssätze Bescheid wissen und warum sie wichtig sind, und auch darüber, was Monetarismus oder das BIP ist. Jeder sollte verstehen, was eine inverse Renditekurve ist und weshalb sie einem Angst einjagen kann. Dieser Ausgangspunkt – die Sprache – ermöglicht uns, die Werkzeuge zu schmieden, mit deren Hilfe wir uns ein Bild von der Wirtschaft machen können, oder auch mehrere, voneinander abweichende Bilder.
Das möchte ich mit diesem Buch erreichen: dem Leser Werkzeuge an die Hand geben. Und ich hoffe, dass Sie nach der Lektüre in der Lage sein werden, sich die Wirtschaftsnachrichten anzuhören oder den Wirtschaftsteil der Zeitung oder auch die gesamte Financial Times zu lesen und zu verstehen, wovon die Rede ist. Und dass Sie dann – was ebenso wichtig ist – ein Gefühl dafür bekommen, ob Sie mit dem, was gesagt oder geschrieben wird, einverstanden sind oder nicht. Die einzelnen Details der modernen Finanzwirtschaft sind oft sehr kompliziert, aber die zugrundeliegenden Prinzipien sind es nicht. Ich hoffe, das vorliegende Buch wird Ihnen dabei helfen, diese Prinzipien am Ende sehr viel besser nachvollziehen zu können. Geld und Kleinkinder haben einiges gemeinsam, und wenn Sie deren Sprache erst einmal beherrschen, gilt die gleiche Regel wie in Dr. Spocks Buch Säuglingspflege und Kinderpflege: »Haben Sie ruhig Selbstvertrauen – Sie wissen mehr, als Sie glauben.«
Die Sprache des Geldes
1.
Das wichtigste Geheimnis der alten Ägypter wurde von der Priesterschaft gehütet. Es betraf dise alljährliche Nilschwemme, also die Überflutung der Flusslandgebiete. Von dieser Flut hing die ägyptische Landwirtschaft und mit ihr, wenn man so will, die gesamte Zivilisation ab. Jahrhundertelang stand sie im Zentrum der Gesellschaft, sowohl in praktischer als auch in ritueller Hinsicht, und machte das alte Ägypten zur stabilsten Gesellschaftsform, die es je auf der Welt gegeben hat. Sogar der ägyptische Kalender richtete sich nach dem Fluss. Er war in drei Jahreszeiten aufgeteilt, die alle in direktem Zusammenhang mit dem Nil und dem von ihm vorgegebenen ackerbaulichen Kreislauf standen: Achet – die Überschwemmung, Peret – die Zeit der Aussaat, und Shemu – die Zeit der Ernte. Die Höhe der Flut bestimmte, wie reichhaltig die Ernte wurde: Gab es zu wenig Wasser, kam es zu einer Hungersnot; gab es zu viel, geschah eine Katastrophe. Aber wenn die Wassermenge genau richtig war, dann wuchs und gedieh das ganze Land. Jedes einzelne Detail des ägyptischen Lebens war mit der Nilschwemme verknüpft. Sogar das Steuerwesen wurde vom Wasserpegel bestimmt, denn dieser legte fest, wie wohlhabend die Bauern in der folgenden Jahreszeit sein würden. Die Priester führten äußerst komplizierte Rituale durch, mit denen sie das Ausmaß der alljährlichen Flut und der daraus resultierenden Ernte prophezeiten. Die religiöse Elite konnte auf ein reichhaltiges System von Mythen zurückgreifen, das nicht nur die emotionalen Bedürfnisse der Menschen stillte, sondern auch über eine subtile, komplexe Symbolsprache verfügte, die sich aus eben jener Mythologie speiste. Daher nahm die Priesterschaft eine unangefochtene Machtposition im Zentrum dieser Gesellschaft ein – einer Gesellschaft, die außergewöhnlich stabil war und über Tausende von Jahren mehr oder weniger unverändert blieb.
Aber die Priester schummelten. Sie verfügten nämlich auch noch über etwas anderes: den Nilometer. Dabei handelte es sich um eine geheime Vorrichtung, mit deren Hilfe man den Flutpegel messen und im Voraus einschätzen konnte, wie hoch er werden würde. Die Einrichtung bestand aus einer großen, stationären Messanlage am Flussufer, mit Linien und Markierungen, die dazu dienten, den jährlichen Flutpegel vorherzusagen. An der Skala ließ sich mithilfe des Wasserstands ablesen, wie die Ernte aussehen würde, von »Entbehrung« bis hin zu »Hungersnot«, von »Glück« und »Sicherheit« bis hin zum »Überfluss« und – in den Jahren mit zu viel Wasser – zur »Katastrophe«. Die Nilometer waren ein – ja vielleicht das – Geheimnis der Priesterschaft und befanden sich innerhalb von Tempelanlagen, zu denen nur Priester Zutritt hatten. Herodot, der im 5. Jahrhundert vor Christus als erster Fremder einen Bericht über das Leben in Ägypten verfasste, erfuhr von ihrer Existenz, bekam aber keine Erlaubnis, einen von ihnen zu besichtigen. Sogar noch bis ins Jahr 1810, Tausende Jahre nachdem die Nilometer in Gebrauch genommen worden waren, war Ausländern der Zugang zu ihnen untersagt. Zusammen mit den jahrhundertealten, akribisch genauen Aufzeichnungen der Hochwasserperioden waren die Nilometer für die Ägypter ein unverzichtbares Machtinstrument. Und die herrschende Klasse musste dieses Instrument unbedingt geheim halten, denn nur so konnte es ein zentraler Pfeiler ihrer Herrschaftsgewalt bleiben.
Es gibt viele Priesterschaften auf der Welt. Und der Nilometer ist ein gutes Beispiel dafür, wie geschickt sie sein können und welch zahlreiche Spielarten der religiösen und professionellen Geheimnistuerei ihnen zur Verfügung stehen. Viele der Redewendungen, die wir benutzen, wenn jemand versucht, uns mit irgendwelchem Unsinn vorsätzlich zu verwirren, haben ihren Ursprung in priesterlichen Ritualen. Der englische Begriff »mumbo jumbo«, der so viel heißt wie »fauler Zauber«, stammt von dem Mandinka-Wort Maamajomboo, das einen zeremoniellen Schamanentänzer mit einer Maske bezeichnet. Und »Hokuspokus« stammt von einem Satz aus der lateinischen Messe zur Eucharistiefeier: hoc est enim corpus meum (Denn dies ist mein Leib). Auf der einen Seite stehen die ausgefeilten Sprachspiele und Rituale, die den nichtsahnenden Laien verwirren und einschüchtern sollen, auf der anderen Seite das stille und heimliche Kalkül der Profis. In fast jedem Metier, von Klempnern über Köche und Krankenschwestern bis hin zu Lehrern und Polizisten, klafft eine Lücke zwischen der Sprache, die die Eingeweihten untereinander benutzen, und der Art, wie sie mit ihren Kunden oder ihrem Publikum sprechen. Grayson Perry hat dieses Phänomen und seine Auswüchse in der Kunstwelt treffend und amüsant bei einem Interview mit Brian Eno beschrieben: »Was die Sprache der Kunstwelt betrifft – das sogenannte ›internationale Kunstenglisch‹ – denke ich, dass sie die Leute ganz bewusst verwirren sollte. Auf diese Weise wollte man das eigentlich ziemlich simple philosophische Gedankengut schützen und ein gewisses Mysterium aufrechterhalten. Man befürchtete, nicht mehr ernst genommen zu werden, falls die Sache zu leicht zu verstehen war.« Manchmal ist es gerade diese Lücke, die die Leute an einem Metier reizt. In der Politik dreht sich zum Beispiel alles um den Unterschied zwischen Öffentlichem und Privatem.
Die Wirtschafts- und Finanzwelt kann auf einen Außenseiter einen ganz ähnlichen Eindruck machen wie jener alte Trick mit dem Nilometer. Vor nicht allzu langer Zeit las ich einen Artikel in der Wochenzeitschrift The Economist. Er handelte von einer deutschen Bank, die einigen Fachleuten Sorgen bereitete. Der Verfasser des Artikels war der Ansicht, die Bank werde die Krise trotz aller Unkenrufe überstehen, weil sie »die von ihr gehaltenen Staatsobligationen der Eurozonen-Peripherieländer behutsam abstoßen kann, indem sie sie einfach auslaufen lässt«. Was um alles in der Welt soll das bedeuten? Die Art, wie in dem Satz »abstoßen«, »halten« und »auslaufen« miteinander verknüpft werden, klingt ein wenig verrückt – als befänden wir uns mitten in einer schrägen Filmkomödie aus den dreißiger Jahren. Aber das trifft die Sache nicht ganz, denn tatsächlich ist hier von Folgendem die Rede: Die Bank besitzt zu viele Schuldverschreibungen aus Euroländern wie Griechenland, Italien, Spanien und Irland. Aber statt diese Schulden zu verkaufen, wartet sie einfach das Ende ihrer Laufzeit ab und investiert dann in keine weiteren derartigen Schuldscheine. Auf diese Weise lässt sich der Berg an Schuldverschreibungen, die der Bank gehören, nach und nach abtragen, statt ihn durch einen Verkauf schnell zu reduzieren. Also kurz gesagt: Die gehaltenen Bestände werden behutsam abgestoßen, indem man sie auslaufen lässt.
Solcherlei Formulierungen gibt es mehr als genug. Wenn Sie hören, wie Finanzleute von dem Effekt sprechen, den die QE2 auf das M3 hat oder von den angebotsseitigen Auswirkungen einer bestimmten Strategie oder dem Effekt der Rentenrendite-Retardierung – wenn sie über einen Skandal im Zusammenhang mit ETF-Luftbuchungen oder MBS-Papieren sprechen oder über Subprime-Hypotheken und REITs und CDOs und CDSs und die gesamte übrige Palette von Akronymen, bei denen die zugrundeliegende Realität genauso kompliziert ist, wie es klingt – nun, wenn Sie solche Formulierungen hören, können Sie leicht schon mal auf den Gedanken kommen, dass man Sie gerade über den Tisch ziehen will. Oder zumindest, dass hier eine Vernebelung der Tatsachen, eine absichtliche Verwirrung vor sich geht und dass all das Geschwafel es Ihnen unmöglich machen soll, den Inhalt des Gesprächs zu begreifen, es sei denn, Sie wissen schon im Voraus, worum es sich dreht.
Während der Kredit-Krise verbreitete sich allgemein das Gefühl, dass viele der gebräuchlichen Begriffe für die damals angebotenen Finanzprodukte mit Absicht nebulös und verwirrend waren. Es war nur sehr schwer zu verstehen, warum jene »Credit Default Swaps«, von denen man zwei Minuten zuvor das erste Mal gehört hatte, plötzlich im Begriff stehen sollten, das globale Finanzsystem zum Zusammenbruch zu bringen.
Gewiss, manchmal ist die Sprache der Finanzwelt wirklich undurchsichtig und vernebelt die Tatsachen. (Eines meiner Lieblingsbeispiele findet sich unter den Finanz-Derivaten, die während der Finanzkrise 2008 eine Rolle spielten: eine »synthetische Vanilla-Mezzanine-RMBS-CDO«). Oft genug ist die Sprache der Finanzwelt aber deshalb so kompliziert, weil auch die zugrundeliegenden Inhalte kompliziert sind und erst einmal erklärt und analysiert werden müssen, bevor man sie verstehen kann. Auch für einen noch so bemühten Außenseiter ist so eine Sprache nicht leicht zu durchschauen. Doch ist diese fehlende Transparenz nicht unbedingt von Natur aus schlecht oder böse, und man trifft sie durchaus auch in anderen Bereichen an – zum Beispiel in der Welt der Gourmets. So manchen Geschmack oder Geruch verpasst man einfach deshalb, weil man den Begriff dafür nicht kennt. Und wenn man den Geschmack oder Geruch dann plötzlich ganz bewusst erlebt und im selben Augenblick das Wort, das ihn bezeichnet, kennenlernt, bereichert dies sowohl den Gaumen als auch das eigene Vokabular.
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