Das Schicksal der Stadt und ihrer Einwohner
Der deutsche Angriff auf Stalingrad erfolgte mit dem erklärten Ziel der Auslöschung der Stadt und der Ausbeutung und Verschleppung der noch lebenden arbeitsfähigen Bewohner. Auf der Gegenseite befahl Stalin, die Stadt um jeden Preis zu halten, und er untersagte ausdrücklich ihre Evakuierung im Vorfeld des deutschen Angriffs. Wie sich die Stadt zur Verteidigung rüstete, bevor sie fast restlos zerstört wurde, und wie sich, um einen Gesprächsteilnehmer zu zitieren, der »Pulsschlag« von Stalingrad im Zuge der Schlacht veränderte, das veranschaulichen die hier zu einem fiktiven runden Tisch montierten Interviews, die die Historiker zwischen Januar 1943 und Januar 1944 mit Vertretern der Stadt- und Gebietsverwaltung, mit örtlichen Parteifunktionären, Werksleitern und Ingenieuren sowie mit einem Professor des Medizinischen Instituts führten.
Die Wehrmacht folgte in Stalingrad dem gleichen Schema, das den geplanten Angriffen auf Moskau und Leningrad im Herbst 1941 zugrunde lag. Vor der Besetzung einer sowjetischen Stadt war diese durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss dem Erdboden gleichzumachen. Es galt, unter allen Umständen das Leben der deutschen Soldaten zu schützen, die in die vernichtete Stadt einrücken würden. Dies erklärt, warum die gesamte Luftflotte 4 mit 780 Bombern und 490 Jagdfliegern über Stalingrad zum Einsatz kam und die Stadt vom 23. August bis zum 13. September fast unaufhörlich bombardierte.
Das Kommando hatte Generaloberst Wolfram von Richthofen, der als Stabschef der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg beim Luftangriff auf Guernica eine in der Geschichte eine neue Form des Flächenbombardements eingeführt hatte. Im April 1941 befehligte von Richthofen die Bombardierung von Belgrad, bei der einigen Schätzungen zufolge 17 000 Einwohner umkamen. Auch für die Bombenangriffe auf Sewastopol im Sommer 1942 zeichnete er verantwortlich. Der Angriff auf Stalingrad war der gewaltigste deutsche Luftschlag an der gesamten Ostfront, er markierte einen »Kulminationspunkt in Richt- hofens Karriere« (Beevor).
Die ersten deutschen Bomber hatten Stalingrad bereits im Oktober 1941 attackiert; im Frühjahr 1942 folgten weitere vereinzelte Angriffe. Die Bombenabwürfe nahmen in der zweiten Julihälfte zu, seitdem gab es in der Stadt fast täglich Fliegeralarm. Ab Anfang Juli bereiteten Gebietsfunktionäre eine umfassende Evakuierung des frontnahen Bereichs einschließlich der Stadt vor. Im auf Panzerproduktion umgestellten Traktorenwerk, im Elektrostahlwerk »Roter Oktober« und in der Geschützfabrik »Barrikaden« waren Vertreter der kriegswirtschaftlichen Ministerien aus Moskau, die die Verlegung der Betriebe nach Osten planten. Mitte Juli ließen sich die Leiter des Stalingrader Wehrkreises, die besser als alle anderen Bewohner der Region über die militärische Lage informiert waren, zusammen mit ihren Familien ins Hinterland evakuieren. In Stalingrad blieben diese Bewegungen nicht unbemerkt, der NKWD registrierte Panik in der Bevölkerung. Es gingen Gerüchte um, dass die Deutschen vor der Stadt stünden.
Stalins Anruf
In der Nacht zum 20. Juli ging beim Gebiets-Parteisekretär Alexei Tschujanow ein Anruf aus dem Kreml ein. Stalin war am Apparat. Er ordnete die sofortige Rückkehr der Leiter des Wehrkreises an. Die entstandene Unruhe sei mit allen Mitteln zu bekämpfen. Stalingrad dürfe niemals dem Feind überlassen werden. Tschujanow gab diese Anweisung am nächsten Abend seinen Parteigenossen weiter. Die Kommunisten, verkündete er, trügen die Verantwortung für die Verteidigung der Stadt.
Stalins Anruf kam eine Woche vor dem Fall von Rostow und dem Erlass des Befehls Nr. 227. Der Befehl führte im Grunde nur die harte Linie weiter, die Stalin bei der Verteidigung von Stalingrad von Anfang an verfolgte. Alle arbeitsfähigen Stadteinwohner, die nicht ohnehin schon in der Kriegsproduktion arbeiteten, wurden zu Schanzungsarbeiten verpflichtet. Begleitet von einem Kontingent von Agitatoren – an einem Abschnitt betreuten 96 Politruks den Arbeitseinsatz von 4000 Stadtbewohnern –, hoben sie auf drei vorgelagerten Ringen vor der Stadt Gräben aus.
Verlassen durften die Stadt nur Menschen, die zu Kriegszwecken zu evakuieren waren: 50000 verletzte Rotarmisten und das sie betreuende medizinische Personal sowie die Kinder aus allen städtischen Kinderheimen. Mit einer Evakuierungsorder für alle nichtarbeitenden Frauen und deren Kinder sicherten sich die Funktionäre der Gebiets- und Stadtverwaltung die Rettung ihrer eigenen Familien, denn nur in den Familien der sowjetischen Elite konnten es sich die Frauen leisten, nicht zu arbeiten. Ar- beitende Frauen durften nur zusammen mit ihren Fabriken evakuiert werden; diese mussten bis auf weiteres in Betrieb bleiben.
Bis Mitte August wurden knapp 8000 Familien der städtischen Oberschicht weggebracht. Diese Vorkehrungen wurden öffentlich nicht bekanntgemacht, blieben der Stadtbevölkerung jedoch nicht verborgen. Anfragen irritierter Arbeiter brachten kommunistische Agitatoren in den Betrieben in Erklärungsnot, und es fiel ihnen schwer, die Menschen zum Durchhalten zu bewegen. In Stalingrad ging das normale Leben bis zum 22. August weiter mit Vorbereitungen für das neue Schuljahr, Kino- und Theatervorführungen vor ausverkauften Häusern und Versicherungen vonseiten der kommunistischen Herrscher, dass die Deutschen die Stadt unmöglich einnehmen würden.
Wie viele Opfer der verheerende Luftangriff des 23. August und die täglichen Folgeangriffe bis zum 13. September forderten, ist umstritten. Die meisten Forscher gehen von 40000 Toten aus; diese Zahl fand auch Eingang in die Nürnberger Prozessakten. Den Historikern in Stalingrad gab Stadtkommandant Wladimir Demtschenko 1943 zu Protokoll, dass die 2000 bezifferten Bombereinsätze in den Nachmittags- und Abendstunden des 23.August 10000 Menschen das Leben gekostet hätten. Vielen der bei den Angriffen verwundeten Menschen konnte nicht geholfen werden, da das meiste verfügbare medizinische Personal zum nördlichen Stadtrand geschickt worden war, wohin deutsche Panzereinheiten am gleichen Nachmittag durchgebrochen waren. Auch die 8. sowjetische Luftflotte, die im Sommer 1942 insgesamt sehr ineffektiv kämpfte, war überwiegend gegen die vordringenden deutschen Panzertruppen im Einsatz und nicht über der Stadt.
Verminung der Industrieanlagen
In den späten Abendstunden des 23. August kam es in General Jerjomenkos Hauptquartier zu einem Treffen der Militärführung mit örtlichen Parteichefs und Vertretern des NKWD und der Wirt- schaft. Anwesend war auch der Chef des sowjetischen Generalstabs, Alexander Wassiljewski. Auf der Tagesordnung stand die sofortige Evakuierung der Stalingrader Arbeiterschaft und die Verminung der Industrieanlagen. Nach Mitternacht rief Tschujanow Stalin an und unterrichtete ihn über die Überlegungen. Wie Jerjomenko später berichtete, untersagte Stalin nicht nur die Evakuierung, sondern auch jegliche weitere Erörterung dieser Frage mit der Begründung, dass solche Überlegungen nur defätistische Stimmungen befördern würden.
Die Parteiführung verhängte am 25. August den Belagerungszustand und begann rücksichtslos gegen Plünderer in der brennenden Stadt vorzugehen. Auch die Agitationsarbeit wurde verstärkt. Das Gebietskomitee der Partei druckte in den letzten Augusttagen eine Million Flugblätter. Überall in der Stadt wurden auf Schildern oder Hauswänden Durchhaltelosungen angebracht: »Wir werden unsere Heimatstadt halten!« »Keinen Schritt zurück!« Viele Menschen, die panisch der Stadt zu entkommen suchten, wurden an den vom NKWD kontrollierten Fährstellen aufgehalten. Vorrang bei der nun endlich einsetzenden Evakuierung hatten technische Spezialisten und Arbeiter, deren Betriebe niedergebrannt waren.
Die Massenevakuierung der Bevölkerung wurde erst am 29. August eingeleitet, doch immer noch hatten Arbeiter Vorrang. In einigen Fällen mussten sie ihre Familienangehörigen wegen Platzmangels auf den Booten in Stalingrad zurücklassen.Die Wolgafähren wurden fortwährend von den Deutschen beschossen. Am 27. August gerieten mehrere Passagierdampfer, die flüchtende Zivilisten von Stalingrad flussaufwärts nach Saratow bringen wollten, die Schiffe »Michail Kalinin,« »Gedenken an die Pariser Kommune« und »Josef Stalin«, unter deutschen Artilleriebeschuss. Die beiden ersten Dampfer überstanden den Beschuss, die »Josef Stalin« lief beschädigt auf Grund und wurde weiter beschossen. Von den 1200 Passagieren konnten nur 186 gerettet werden. Bis zum 14. September, dem Tag, als deutsche Truppen in das Stadtinnere eindrangen und zur zentralen Fährstelle vorstießen, wurden 315 000 Menschen evakuiert. Einer Schätzung zufolge befanden sich zu dem Zeitpunkt noch ebenso viele Menschen in der Stadt.Nun setzten sich auch Tschujanow und die meisten anderen örtlichen Parteichefs sowie der Leiter des NKWD ab.
"Großer Vaterländischer Krieg"
Die großen Industriewerke in der Stadt, der »Rote Oktober«, die »Barrikaden«-Fabrik, das Traktorenwerk und das »Stalgres«-Elektrizitätswerk, hielten ihren Betrieb zum Teil noch sehr viel länger aufrecht. Das Elektrostahlwerk »Roter Oktober«, das bis zum Sommer 1942 10 % der gesamten sowjetischen Stahlproduktion stellte und besonders die Flugzeug- und Panzerindustrie belieferte, daneben aber auch Raketenwerfer produzierte, stellte seine Tätigkeit nach der Verhängung des Belagerungszustands auf die Herstellung von MG-Nestern, Panzersperren und Schaufeln und die Reparatur von Panzern und Raketenwerfern um. Die Metallproduktion im Werk lief bis zum 2. Oktober, wenige Tage später wurde es geräumt.Das Werksgelände war vom Oktober 1942 bis Anfang Januar 1943 schwer umkämpft und befand sich dabei überwiegend in deutscher Hand. Die Geschützfabrik »Barrikaden« produzierte seit Anfang des »Großen Vaterländischen Krieges« Panzerabwehrkanonen und Minenwerfer in großer Stückzahl. Der Direktor verließ das Werk am 25. September, die letzten Techniker gingen am 5. Oktober. Am Vortag hatten die Deutschen ihren Angriff auf das Werk begonnen (siehe Gross- mans Erzählung »Hauptstoßrichtung«, S. 235 ff.).
Die riesige Stalingrader Traktorenfabrik mit 20000 Beschäftigten hatte ihre Produktion schon Ende der dreißiger Jahre von Traktoren auf Panzer umgestellt und war nach Kriegsausbruch der größte sowjetische Hersteller von T-34-Panzern. Mit dem Vorstoß der 16. Panzerdivision zur Wolga am 23. August rückte die Front in unmittelbare Nähe des Werksgeländes, doch wurden bis zum deutschen Angriff auf die Stadt am 13. September weiterhin Panzer produziert. Erst in den Tagen danach wurde das Gros der überlebenden Arbeiter aus dem Werk evakuiert. Die 62. Armee behielt ein kleines Kontingent von Arbeitern zurück, das für die Panzerregimenter Reparaturarbeiten ausführte.
Der deutsche Großangriff vom 14. Oktober, den General Tschuikow im Gespräch ausführlich schildert, konzentrierte sich auf das Traktorenwerk. Von dort aus sollten die deutschen Divisionen nach Süden vorstoßen und die letzten von den Sowjets gehaltenen Streifen am Wolgaufer einnehmen. In Kämpfen, die sowjetische wie deutsche Zeitzeugen als die schwersten Kämpfe der gesamten Schlacht von Stalingrad beschreiben, geriet das Werk bis zum 17. Oktober vollständig in deutsche Hand. Dabei verlor die 62. Armee 13 000 und die Wehrmacht 1500 Soldaten. Erst am 2. Februar 1943 eroberte die Rote Armee das Werksgelände zurück.
Hochzeit unter Artilleriefeuer
Das städtische Elektrizitätswerk »Stalgres« befand sich im süd- lichsten Stadtzipfel nahe Beketowka, mehrere Kilometer abseits der Frontlinie. In das relativ sichere Beketowka verlegte Tschujanow im Oktober den Sitz seiner Parteibehörde. Hier befand sich auch das Hauptquartier der 64. Armee. Nach dem Einrücken der Deutschen in die Stadt am 13. September kam das »Stalgres« in die Reichweite von Artilleriefeuer und Minenwerfern und wurde täglich beschossen, doch wurde der Betrieb nicht eingestellt. Erst ein deutscher Großangriff am 5. November setzte das E-Werk außer Betrieb. Am 12. Oktober notierte Tschujanow in seinem Tagebuch, dass der Chefingenieur Konstantin Subanow im Keller des Elektrizitätswerks unter anhaltendem Artilleriefeuer seine Hochzeit mit der Ärztin Maria Terentjewa begangen hatte.
Subanow ist einer der Zeitzeugen, mit dem die Historiker in Stalingrad sprachen. Wie er seine Bindungen zum Betrieb beschreibt und den elektrischen Puls des Werks mit dem Pulsschlag der Stadt assoziiert, erinnert an die futuristischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts, die in der russischen Arbeiterschaft tiefe Wurzeln hatten.Subanows Metapher könnte aber auch auf die bekannten Metronomschläge im Leningrader Radio während der Blockade verweisen. Die Toningenieure des Leningrader Radios führten das Metronom in den dreißiger Jahren als Klangteppich bei Sendepausen ein. Nach Kriegsbeginn verwendeten sie es als Frühwarnsystem: Das Metronom taktete schneller, wenn feindliche Flieger im Anflug waren. Im Laufe der Blockade musste die Radiostation ihren Betrieb einschränken. Die weiterhin übertragenen Pulsschläge des Metronoms suggerierten den Leningradern, dass ihre Stadt noch lebte.
Die Interviews mit Subanow und den zwei Dutzend anderen Zeitzeugen beginnen mit Schilderungen des Auf- und Ausbaus der Industriestadt in den dreißiger Jahren und ihrer Umstellung auf die Kriegswirtschaft. Im Mittelpunkt stehen die Bemühungen zur Verteidigung der Stadt, ihre Zerstörung durch die verheerenden deutschen Bombenangriffe und das Drama um die Evakuierung der Zivilbevölkerung. Bemerkenswert ist, wie heftig General Tschuikow und Kommissar Wassiljew die Parteifunktionäre von Stalingrad für ihr Versagen bei der Verteidigung und Evakuierung der Stadt kritisierten. Die Kritik, die stellenweise nicht berechtigt war, weil die unterlassene Evakuierung auf Stalins ausdrückliches Verbot zurückging, sollte nicht als eine Kritik von Militärs an Kommunisten missverstanden werden. Die Trennlinie verlief vielmehr zwischen denen, die an der Front kämpften (einschließlich Kommunisten wie Wassiljew), und jenen, die aus der Sicht der Kämpfenden ihre Schäfchen ins Trockene retteten.
Gesprächein der zerstörten Werksanlage
Die frühesten der aufgezeichneten Gespräche (mit Tschuikow, Wassiljew und den Ingenieuren Schukow und Matewosjan) wurden am 8. Januar 1943 in der zerstörten Werksanlage des »Roten Oktober« durchgeführt. Parteifunktionäre fanden die Historiker erst bei ihrem zweiten Besuch in der Stadt im März 1943 vor. In das Gruppengespräch hineingewoben sind kursiv abgesetzte Passagen aus dem 1968 erstmals veröffentlichten Kriegstagebuch des örtlichen Parteichefs Alexej Tschujanow. Mit ihm wurde kein Interview geführt.
Es sprechen:
Stadt- und Gebietsverwaltung
Pigaljow, Dmitri Matwejewitsch – Vorsitzender des Exekutivkomitees des Sowjets der Arbeiterdeputierten für die Stadt Stalingrad (Stalingrad, 14. März 1943)
Poljakow, Alexei Michailowitsch – stellvertretender Vorsitzender des Exekutivkomitees des Sowjets der Arbeiterdeputierten für das Gebiet Stalingrad (Stalingrad, 14. März 1943)
Romanenko, Grigori Dmitrijewitsch – 1. Sekretär des Bezirks »Barrikaden« der Stadt Stalingrad (o. O., März 1943)
Simenkow, Iwan Fjodorowitsch – Vorsitzender des Sowjets der Arbeiterdeputierten für das Gebiet Stalingrad (Stalingrad, 14. März 1943)
Parteifunktionäre
Babkin, Sergej Dmitrijewitsch – 1. Sekretär des WKP(b)-Komitees des Kirow-Bezirks Stalingrad (Stalingrad, 13. März 1943)
Denissowa, Klawdija Stepanowna – Sekretärin des WKP(b)-Komitees des Jerman-Bezirks Stalingrad (Stalingrad, 1. März 1943)
Kaschinzew, Semjon Jefimowitsch – Sekretär des WKP(b)-Komitees des Bezirks »Roter Oktober« Stalingrad (Stalingrad, 14. März 1943)
Odinokow, M. A. – Sekretär des WKP(b)-Komitees des Woroschilow-Bezirks Stalingrad (Stalingrad, 24. Juni 1943)
Petruchin, Nikolai Romanowitsch – Leiter der Militärabteilung des Stalingrader WKP(b)-Gebietskomitees (Stalingrad, 12. März 1943)
Pixin, Iwan Alexejewitsch – Sekretär des Stalingrader WKP(b)-Stadtkomitees (Stalingrad, 13. März 1943)
Prochwatilow, Wassili Petrowitsch – Sekretär des Stalingrader WKP(b)-Gebietskomitees (Stalingrad, 13. März 1943)
Tschujanow, Alexej Semjonowitsch – 1. Sekretär des Stalingrader WKP(b)-Gebietskomitees, Vorsitzender des Städtischen Verteidi- gungskomitees (Auszüge aus seinem veröffentlichten Tagebuch)
Wodolagin – Sekretär des Stalingrader WKP(b)-Gebietskomitees (o. O., 26. März 1943)
Spezialisten, Arbeiter, Bewohner
Joffe, Esri Israilewitsch – kommissarischer Direktor des Medizinischen Instituts Stalingrad
Matewosjan, Pawel Petrowitsch – Chefingenieur der Fabrik »Roter Oktober«
Schukow, Wenjamin Jakowlewitsch – Leiter des Werks Nr. 7 der Fabrik »Roter Oktober«
Subanow, Konstantin Wassiljewitsch – Chefingenieur im Energiekombinat Stalingrad (Stalgres) (o. O., 1. Februar 1944)
Militärs
Burin, Ilja Fjodorowitsch – Aufklärer der 38. Schützenbrigade (mot), ehemaliger Schlosser der Fabrik »Barrikaden« (Stalingrad, 28. Februar 1943)
Burmakow, Iwan Dmitrijewitsch – Generalmajor, Kommandeur der 38. Schützenbrigade (mot) (Stalingrad, 28. Februar 1943)
Demtschenko, Wladimir Charitonowitsch – Major, Kommandant Stalingrads (Stalingrad, 14. März 1943)
Gurow, Kusma Akimowitsch – Generalleutnant, Mitglied des Mili- tärrats der 62. Armee (Stalingrad, 6. Januar 1943)
Simin, Alexej Jakowlewitsch – Leutnant, Stabskommandant der 38. Schützenbrigade (mot), ehemaliger Arbeiter der Fabrik »Barrikaden« (Stalingrad, 28. Februar 1943)
Tschuikow, Wassili Iwanowitsch – Generalleutnant, Oberbefehlshaber der 62. Armee (Stalingrad, 5. Januar 1943)
Wassiljew, Iwan Wassiljewitsch – Brigadekommissar, Chef der Politabteilung der 62. Armee (Stalingrad, 9. Januar 1943)
Pigaljow (Vorsitzender des Sowjetkomitees, Stadt Stalingrad): Stalingrad hatte 1930 etwa 25 000 Einwohner, bei Kriegsausbruch 400 000, mit den Evakuierten zusammen 550 bis 560 000. Besonders stürmisch wuchs die Stadt nach 1930. Als das Traktorenwerk gebaut wurde, wuchs die Bevölkerung sofort auf 70 bis 80 000. Wir hatten ein schönes Stadtzentrum. Zwei Bahnhöfe gab es – einen am Wolgaufer, einen im Zentrum. In der letzten Zeit wuchs die Stadt dank der Fabriken. Seit 1934, 1935 hat sich die Stadt sehr verschönert. Seither wurden gebaut: das Große Stalingrader Hotel (370 Zimmer) und das Intourist- Hotel am Platz der Gefallenen Kämpfer, das grandiose Kaufhaus, das 1938 oder 1939 eröffnet wurde, das erste und das zweite Haus der Sowjets, auch am Platz der Gefallenen Kämpfer gegenüber vom Intourist, das Gebäude des Gebietsexekutivkomitees (das einen Anbau bekam), das Haus des Buches wurde errichtet, ebenso das imposante vier- oder fünfstöckige Gebäude der Holzwirtschaft neben dem Intourist. So wurde der Platz durch die neuen Bauten sehr verschönert. [...] Im Stadtzentrum befanden sich das große neue Gorki-Theater, das Theater der Musikkomödie, das Jugendtheater. Das waren Theater mit festen Schauspieler-Ensembles. Das prächtige Gebäude des Pionierpalasts, das Institut für Polygraphie. Sehr schön war der Sportpalast mit dem Ausgang zur Wolga hin. Allein im Jerman-Bezirk46 gab es eine ganze Reihe kultureller Einrichtungen. [...] Unser Medizinisches Institut war groß. Etwa anderthalbtausend Studenten hatte es.
Joffe (Direktor Medizinisches Institut): Das Medizinische Institut Stalingrad wurde 1935 gegründet. Damals wurden 160 Personen ins erste Studienjahr aufgenommen. Innerhalb kurzer Zeit kam ein junges, aber außerordentlich tatkräftiges Kollektiv zusammen. Zum Umkreis des Instituts gehörten bei Kriegsausbruch 22 habilitierte Mediziner und mehr als zehn Dozenten und promovierte Mediziner. Das Institut war in einem dreistöckigen weiträumigen Neubau untergebracht, wo es drei große Hörsäle, zehn Lehrräume und eine Bibliothek mit Lesesaal und 30 000 Bänden gab, außerdem ein anatomisches und ein pathologisches Museum sowie reich ausgestattete Labore. Wir hatten mehr als 300 Mikroskope, mehr als zehn Kymographen, 47 Röntgenapparate etc. Der erste Jahrgang, 150 ausgebildete Ärzte, verließ das Institut 1940. Der zweite Jahrgang von 300 Ärzten ging in den ersten Kriegstagen ab, und dann gab es bis zur Zerstörung der Stadt noch vier Jahrgänge.
Subanow (Chefingenieur im Energiekombinat Stalgres): Ich bin 1911 geboren. Bei Stalgres arbeite ich schon länger als fünf Jahre. Ich habe mein Studium 1934 abgeschlossen. Auf Ordschonikidses Zuteilung hin wurde ich nach Moskau geschickt, in ein Projektinstitut. Die drei Jahre in dem Institut waren eine ungute Phase in meinem Leben. Ich bin meiner Veranlagung nach kein Projektmensch, ich wollte die ganze Zeit ins Kraftwerk. Und ich wurde hierher geschickt, nach Stalingrad. Hier habe ich alle Stadien durchlaufen: Seit Dezember 1937 war ich Ingenieur vom Dienst, also verantwortlicher Ingenieur des Kraftwerks, seit 1939 bin ich Chefingenieur des Kombinats. Als ich meinen Abschluss machte, war ich Elektroingenieur, jetzt bin ich eher Wärmetechniker oder Energieingenieur.
Pigaljow (Vorsitzender des Sowjetkomitees, Stadt Stalingrad): Was es an Kultureinrichtungen bei uns gab? In den Werksiedlungen waren Klubs und Kulturpaläste. In der Traktorenwerk-Siedlung gab es den Gorki-Klub, das Kino »Stoßarbeiter« und eine Reihe kleinerer Klubs. Einige Schulen gab es, alle waren sie schön. Die Dserschinski-Schule, die Schule Nr. 3 war sehr gut, nicht groß, drei Stockwerke. Insgesamt gab es acht oder neun Schulen, neben den kleinen. In der »Barrikaden«-Siedlung gab es ein Haus der Kultur, in der Unteren Siedlung einen »Klub der Ingenieure und Techniker«, zwar nicht groß, aber ein netter Klub, ein eigener Park dabei, ein Sommertheater hatten sie. In der Fabrik »Roter Oktober« war auch ein Klub, und ein gutes Haus der Technik gab es da.
Subanow (Chefingenieur im Energiekombinat Stalgres): Allgemein gesprochen sind Elektrizitätswerke ja das Zentrum der Industrie, ich würde sogar sagen, der Kultur einer Stadt. Davon, wie gut eine Stadt energetisch ausgestattet ist, wie gut sie elektrifiziert ist, wie sehr die Elektrifizierung in den Alltag, in die Kommunalwirtschaft eingedrungen ist, davon hängt ihre kulturelle Entwicklung ab, und auch wirtschaftlich ist sie entwickelter als Städte, die energetisch unzureichend ausgestattet sind. Das Kraftwerk ist für die Industrie etwa das, was das Herz für den Menschen ist. Hat das Herz einen bestimmten Pulsschlag, so besitzt das Kraftwerk ebenfalls einen. Dieser Puls misst sich in 50 Perioden pro Sekunde. Sobald der Puls auch nur einmal nicht schlägt, sobald er aussetzt, steht buchstäblich die ganze Tätigkeit der Stadt still – die Fabriken stehen still, es wird dunkel. Unter unseren Bedingungen, unter den Bedingungen der Gegenwart, ist das absolut ungewöhnlich. Die Theater, die Kinos zeigen nichts mehr. In Stalingrad war ein solches Herz das Stalingrader Bezirkskraftwerk.
Pixin (Sekretär des Parteikomitees, Stadt Stalingrad): Stalingrad ist eine Industriestadt, wo es etwa zehn Betriebe von Unionsbedeutung gab, wie das Traktorenwerk, Nr. 211 (»Barrikaden«), »Roter Oktober«, Nr. 264 und eine Reihe anderer. Während des Krieges wurden nicht nur diese Betriebe, sondern auch alle anderen auf die Produktion von Munition und militärischer Ausrüstung umgestellt.
Schukow (Werksleiter in der Fabrik »Roter Oktober«): Mit der Fabrik bin ich seit 1932 verwachsen. Hier bin ich groß geworden, habe als Fahrer begonnen, mich bis zum Werksleiter hochgearbeitet. Die Fabrik wuchs vor meinen Augen. [...] Die Fabrik arbeitete, ich arbeitete, und ich wuchs mit der Fabrik. Die Parteiorganisation hat mich großgezogen. In der letzten Zeit hatten wir eine interessante Arbeit, die Produktion von BMs, »Katjuscha«-Lafetten. [...] Die wichtigsten Materialien wurden bei uns mit Kraftwagen hertransportiert. Am ersten Kriegstag übergaben wir der Armee etwa 40 Fahrzeuge; von der militärischen Gebietsorganisation bekamen wir die Bewertung »Ausgezeichnet« für die abgelieferten Fahrzeuge, obwohl sie unter extrem schweren Bedingungen genutzt wurden.
Das Werkskollektiv, 60 Personen, ging mit großem Eifer an die Herstellung der BMs heran. Später, als entschieden wurde, den Laster aus der Produktion zu nehmen, ließ das Kollektiv quasi den Kopf hängen: Sind wir etwa unwürdig, ihn weiter zu produzieren? Es hatte gutgetan, am vaterländischen Krieg teilzunehmen.
Subanow (Chefingenieur im Energiekombinat Stalgres): Wenn es um die Zeit der Kampfhandlungen geht, so reichte die erste Etappe vom Kriegsbeginn bis zur Belagerung unserer Stadt. [...] Wir bemühten uns, in den Rhythmus zu kommen, in dem das ganze Land atmete, das die Schläge der faschistischen Horden abwehrte. Der Krieg veränderte unsere Technologie einschneidend. Als die Deutschen das Donbass besetzten, saßen wir ohne Kohle da. Wir mussten einen anderen Brennstoff einsetzen, Masut. Das bereitete uns kein Kopfzerbrechen. Ohne jede Stockung, das heißt, wir spürten den Übergang nicht einmal, vollzogen wir in kürzester Zeit den Übergang von Kohle zu Ma- sut. Monteure wie Meister Sergej Wassiljewitsch Iwlew und Spezialisten wie Mudrenko, Leiter des Kesselhauses, ermöglichten es, dass die Stadt den Übergang gar nicht wahrnahm und unser Kraftwerk den Verbraucher ohne Störung und ohne Stockung mit Elektroenergie aus dem neuen Brennstoff versorgte.
Leutnant Simin (38. Schützenbrigade, ehemaliger Arbeiter der Fabrik »Barrikaden«): Die Fabriken arbeiteten mit voller Kraft, erprobten alle möglichen Geschütze auf Schießplätzen oder hievten sie mit Hilfe von Kränen direkt auf die Dächer, fuhren Panzer ein. Damals fühlten die Leute in den Arbeitersiedlungen sich voller Schwung. Sie gruben Unterstände, Bunker, gruben Wasserbecken. An den Leuten fiel nur der Schwung auf, sonst nichts.
Joffe (Direktor Medizinisches Institut): Das Institut beteiligte sich aktiv an den Verteidigungsmaßnahmen der Stadt. Im Herbst 1941 und im Juli / August 1942 baute das Institut Verteidigungslinien. Hunderte von Studenten mit Professoren und Dozenten an der Spitze errichteten Befestigungen innerhalb und außerhalb der Stadt.
Tschujanow (1. Sekretär des Parteikomitees, Gebiet Stalingrad):
12. Juli. [...] Es wird immer deutlicher, dass in Kürze Kampfhandlungen auf den Annäherungswegen nach Stalingrad stattfinden werden. [...]
19. Juli. Wie üblich saß ich bis zum Morgengrauen, das sich im Sommer früh ankündigt, im Gebietskomitee. Kurz vor drei Uhr nachts wird über die Hochfrequenzverbindung angerufen:
»Genosse Stalin will mit Ihnen sprechen.«
»Wollen Sie die Stadt an den Feind ausliefern?«, fragte Stalin wütend. »Warum haben Sie den Militärbezirk nach Astrachan verlegt? Wer hat Ihnen das erlaubt? Antworten Sie!« [...]
J. W. Stalin fragte nach der Situation in der Stadt, erkundigte sich nach der Rüstungsproduktion der Fabriken und gab dann die Direktiven des ZK im Zusammenhang mit der verschärften militärischen Lage wieder. Abschließend sagte er:
»Stalingrad wird nicht an den Feind ausgeliefert. Sagen Sie das allen weiter.«
Der Hörer ruht schon lange wieder auf der Gabel, doch ich bin noch immer unter dem Eindruck des Gesprächs. Nach Hause gehen mag ich nicht, es ist auch schon zu spät. Ich stehe am weit geöffneten Fenster, atme die Frische des anbrechenden Morgens und fühle einen riesigen Zustrom von Kraft, denn das Wichtigste ist klar: Die Stadt wird nicht an die Hitlersoldaten ausgeliefert.
Pixin (Sekretär des Parteikomitees, Stadt Stalingrad): Noch vor dem Heranrücken des Feindes an die Stadt waren in jeder Fabrik Zerstörungsbataillone aus Freiwilligen gebildet worden. In die Zerstörungsbataillone traten die besten Fabrikleute ein, die besten Arbeiter, Kommunisten und Komsomolzen und die besten Parteilosen.
Der gesamte Militärunterricht ging nach der angestrengten Arbeit in der Produktion vor sich. Es muss gesagt werden, dass diese Fertigkeiten denn auch zur Kriegszeit brauchbar waren, als schwere Stunden für die Stadt anbrachen.