Die Brüchigkeit der Bande

Leseprobe "Zum Glück ist es ein anderer, nicht ich bin der Tote, den man uns hier zeigt und über den man spricht, also kann ich mich heute sicherer fühlen als gestern, gestern bin ich entkommen. Den armen Teufel hat’s erwischt."

VOM ERSTEN TAG AN war mir klar, dass sie ein Ehepaar waren, er, um die fünfzig, sie, ein gutes Stück jünger, wohl noch nicht vierzig. Besonders nahm mich ein, wie sehr sie ihre Gesellschaft genossen. Zu einer Tageszeit, zu der kaum jemand für etwas zu haben ist, schon gar nicht fürs Scherzen und Lachen, redeten sie unentwegt, amüsierten und ermunterten sich, als hätten sie sich eben erst getroffen, ja kennengelernt, wären nicht gemeinsam aus dem Haus gegangen, hätten sich nicht gleichzeitig zurechtgemacht – vielleicht sogar im selben Badezimmer –, wären nicht im selben Bett aufgewacht und hätten nicht als Erstes das Gesicht des anderen gesehen, Tag für Tag seit langen Jahren, dazu noch Kinder, die sie ein paarmal begleiteten, das Mädchen um die acht, der Junge um die vier und seinem Vater unglaublich ähnlich.

Er kleidete sich distinguiert, eine Spur altmodisch, ohne dass er im Geringsten lächerlich oder unzeitgemäß gewirkt hätte. Das heißt, er ging immer im Anzug, passend kombiniert, maßgeschneiderte Hemden, teure, schlichte Krawatten, Einstecktuch, Manschettenknöpfe, blitzsaubere Schnürschuhe – schwarz oder aus Wildleder, Letzteres nur ab dem Frühsommer, wenn er die hellen Anzüge wählte –, manikürte Hände. Trotzdem vermutete man keinen eitlen Manager in ihm, keinen feinen Pinkel. Er schien eher ein Mann zu sein, dessen gute Erziehung es nicht gestattete, anders gekleidet auf die Straße zu treten, zumindest nicht an einem Wochentag; an ihm wirkte der Aufzug ganz natürlich, als hätte ihm sein Vater beigebracht, dass sich derlei ab einem bestimmten Alter gehört, unabhängig von den Moden, die schon bei ihrer Geburt hinfällig sind, und von unserer zerlumpten Zeit, auf die er nichts geben musste. So klassisch ging er, dass ich niemals ein ausgefallenes Accessoire an ihm entdeckte: Er wollte nicht den Originellen spielen und wirkte doch ein wenig so inmitten dieses Cafés, in dem ich ihn immer sah, ja inmitten unserer nachlässigen Stadt. Seine Natürlichkeit wurde noch verstärkt von einem zweifellos warmherzigen Charakter, heiter, ja ungezwungen (doch nie etwa den Kellnern gegenüber, die er siezte und mit heute ungebräuchlicher Liebenswürdigkeit behandelte, ohne sich dabei anzubiedern): Tatsächlich erregte sein häufiges, fast schallendes Gelächter Aufsehen, wirkte aber keineswegs störend. Er verstand es, zu lachen, kräftig, doch aufrichtig und herzlich, niemals, als wollte er sich einschmeicheln oder anpassen, sondern als bereitete ihm tatsächlich etwas Heiterkeit, und das war oft der Fall, ein großzügiger Mann, immer bereit, sich auf die Komik des Moments einzulassen und Witze zu würdigen, zumindest die sprachlicher Natur. Vielleicht erzählte sie ihm seine Frau, es gibt Menschen, die uns zum Lachen bringen, auch wenn sie es nicht darauf anlegen, es gelingt ihnen vor allem durch ihre Gegenwart, bei der unser Lachen nicht viel Anschub braucht, es reicht, sie zu sehen, bei ihnen zu sein, ihnen zuzuhören, auch wenn sie nichts Weltbewegendes von sich geben, ja bewusst dumme, plumpe Scherze aneinanderreihen, die jedoch alle unsere Heiterkeit erwecken. Die beiden schienen füreinander solche Menschen zu sein; und obwohl man ihnen ansah, dass sie verheiratet waren, überraschte ich sie nie bei einer affektierten, aufgesetzten Geste, nicht einmal bei einer eingeübten wie bei manchen Ehepaaren, die seit Jahren zusammenleben und sich öffentlich mit ihrer anhaltenden Verliebtheit brüsten wie mit einem Verdienst, das sie aufwertet, oder einer Zierde, die sie schmückt. Bei ihnen hatte man den Eindruck, dass sie einander sympathisch und angenehm sein wollten, wie im Vorfeld eines Werbens; oder dass sie sich bereits vor ihrer Ehe, ja bevor sie überhaupt ein Paar waren, so sehr geschätzt und gemocht hatten und einander in jedem Fall aus freien Stücken – nicht aus ehelicher Pflicht, nicht aus Bequemlichkeit oder Gewohnheit, nicht einmal aus Treue – zum Gefährten oder Begleiter, zum Freund, Gesprächspartner oder Komplizen erwählt hätten, in der Gewissheit, was auch immer geschehen oder eintreten mochte, was auch immer zu erzählen oder zu hören war, es wäre in jedem Fall weniger interessant oder amüsant mit einem anderen. Für ihn ohne sie, für sie ohne ihn. Da war Kameradschaft und vor allem Überzeugung.

MIGUEL DESVERN ODER DEVERNE hatte sehr angenehme Gesichtszüge, deren Ausdruck auf männliche Weise zärtlich war, was ihn aus der Distanz sehr anziehend machte und im Umgang, wie ich vermutete, unwiderstehlich. Wahrscheinlich war er, nicht Luisa, mir zuerst aufgefallen, oder er hatte mich veranlasst, auch auf sie zu achten, denn die Frau sah ich oft ohne ihren Mann – er verließ immer zuerst das Café, sie blieb meist ein paar Minuten länger, mal allein mit einer Zigarette, mal mit ein, zwei Kolleginnen, anderen Müttern oder Freundinnen, die sich an manchen Morgen im letzten Moment zu ihnen gesellten, wenn er schon aufbrach –, aber ihn sah ich niemals ohne seine Frau. Sein Bild existiert für mich nur mit ihr zusammen (das war einer der Gründe, weshalb ich ihn anfangs in der Zeitung nicht erkannt hatte, denn da war er ohne Luisa zu sehen gewesen). Doch sofort interessierten sie mich beide, sofern dies das treffende Verb ist.

Desvern hatte kurzes Haar, dicht und dunkel, nur an den Schläfen grau, wo es auch krauser zu werden schien (hätte er sich Koteletten wachsen lassen, wären ihnen womöglich überraschende Löckchen entsprossen). Sein Blick war lebendig, ausgeglichen und fröhlich, beim Zuhören mit einem Schimmer Naivität und Kindlichkeit, der Blick eines Menschen, den das Leben im Allgemeinen vergnügt oder der es nicht durchleben will, ohne seine abertausend heiteren Seiten zu genießen, selbst inmitten von Mühsal und Unglück. Wovon er allerdings weniger erlitten haben mochte, als ein Menschenschicksal gewöhnlich aufweist, was ihm wohl half, sich diese vertrauensvollen, lächelnden Augen zu bewahren. Sie waren grau und schienen alles zu bemerken, als wäre alles für sie neu, selbst das, was sich vor ihnen tagtäglich an Belanglosem wiederholte, dieses Café im oberen Teil von Príncipe de Vergara mit seinen Kellnern, mein stummes Gesicht. Er hatte ein Grübchen am Kinn. Dabei kam mir eine Filmszene in den Sinn, in der eine Schauspielerin Robert Mitchum oder Cary Grant oder Kirk Douglas, ich weiß nicht mehr, fragt, wie er sich dort bloß rasiere, und ihren Zeigefinger in die Kerbe legt. Ich hatte jeden Morgen nicht übel Lust, vom Tisch aufzustehen, zu Devernes zu gehen, ihm dieselbe Frage zu stellen und mit Daumen oder Zeigefinger seines zu berühren, ganz leicht. Er war immer makellos rasiert, Grübchen eingeschlossen.

Die beiden achteten weit weniger, unendlich weniger auf mich als ich auf sie. Sie bestellten ihr Frühstück an der Theke und trugen es selbst zum Tisch am Fenster, während ich weiter hinten saß. Im Frühling und im Sommer setzten wir uns alle nach draußen, und die Kellner reichten uns die Bestellungen durch ein offenes Fenster auf Höhe des Tresens, was zu häufigerem Hin und Her, zu häufigerem Augenkontakt führte, zu mehr kam es zwischen uns nie. Sowohl Desvern als auch Luisa tauschten hier und da einen Blick mit mir, aus reiner Neugier, ohne jede Absicht, niemals lang. Er sah mich nie schmeichelnd, verführerisch oder selbstgefällig an, das hätte mich enttäuscht, und auch sie zeigte mir keinerlei Argwohn, Überlegenheit oder Missfallen, das hätte mich geärgert. Die beiden gefielen mir, beide zusammen. Ich beobachtete sie nicht mit Neid, ganz und gar nicht, sondern mit der Erleichterung, dass es im wirklichen Leben tatsächlich so etwas geben kann, ein in meinen Augen perfektes Paar. Ein solches waren sie für mich noch mehr, weil Luisas Aussehen nicht mit Devernes harmonierte, was Stil und Kleidung anging. Neben einem Mann in solchem Anzug hätte man eine Frau von ähnlicher Erscheinung erwartet, klassisch und elegant, wenn auch nicht berechenbar, meist in Rock und hochhackigen Schuhen, in Kleidern von Céline zum Beispiel, mit Ohrringen und Armbändern, auffallend, aber geschmackvoll. Sie jedoch wechselte zwischen einem sportlichen Stil und einem, sagen wir, saloppen, lässigen, jedenfalls keineswegs aufgeputzten. Etwa gleich groß wie er, hatte sie eine leicht getönte Haut und eine braune Mähne, sehr dunkel, fast schwarz, und schminkte sich kaum. Wenn sie Hosen trug – oft Jeans –, zog sie dazu eine gewöhnliche Windjacke und Stiefel oder flache Schuhe an; trug sie Röcke, dann waren die Schuhe halbhoch und ohne Firlefanz, fast wie die der Frauen in den fünfziger Jahren, im Sommer dann feine Sandalen, die den Blick auf für ihre Statur kleine, zarte Füße freigaben. Niemals sah ich Schmuck an ihr, und ihre Taschen hatten immer Schulterriemen. Sie sah ebenso sympathisch und fröhlich aus wie er, und wenn ihr Lachen nicht ganz so klangvoll war, kam es doch nicht weniger prompt und womöglich noch herzlicher, mit ihren blitzenden Zähnen, die ihr einen fast kindlichen Ausdruck verliehen – bestimmt lachte sie seit ihrem vierten Lebensjahr nicht anders, immer spontan –, vielleicht waren es auch die Wangen, die runden Bäckchen. Als gönnten sich die beiden Tag für Tag zusammen diese Atempause, bevor jeder sich zu seiner Arbeit aufmachte, nach der morgendlichen Hetzerei einer Familie mit kleinen Kindern. Einen Moment für sich allein, damit sie sich nicht inmitten all des Durcheinanders trennen mussten und noch angeregt plaudern konnten, und ich fragte mich, worüber sie sprachen, was sie sich erzählten – wie es kam, dass sie sich so viel zu erzählen hatten, wenn sie doch gemeinsam zu Bett gingen und aufstanden und sich gewiss über ihre Gedanken und Erlebnisse austauschten –, doch von ihrem Gespräch erreichten mich nur Fetzen oder einzelne Wörter. Einmal hörte ich, wie er sie »Prinzessin« nannte.

Ich wünschte ihnen also das Allerbeste, wie den Figuren aus einem Roman oder einem Film, für die man von Anfang an Partei ergreift, im Wissen, dass etwas Schlimmes passieren, irgendwann etwas schiefgehen wird, sonst wäre es kein Roman, kein Film. Im wirklichen Leben jedoch war das nicht zwangsläufig so, und ich erwartete, sie wie üblich jeden Morgen zu sehen, ohne eines Tages eine einseitige oder gegenseitige Abneigung zu entdecken, ein stockendes Gespräch, die Ungeduld, einander aus den Augen zu kommen, eine Geste gegenseitigen Ärgers oder der Gleichgültigkeit. Die beiden waren das kurze, bescheidene Schauspiel, das mir gute Laune machte, bevor ich in den Verlag ging, wo ich mich mit meinem größenwahnsinnigen Chef und seinen lästigen Autoren herumschlug. Wenn Luisa und Desvern ein paar Tage ausblieben, fehlten sie mir, und ich ging meinen Arbeitstag bedrückter an. In gewisser Weise fühlte ich mich in ihrer Schuld, denn unbewusst und unbeabsichtigt halfen sie mir tagtäglich und erlaubten mir, über ihr Leben zu spekulieren, das ich mir gern makellos vorstellte, so makellos, dass ich froh war, es nicht ergründen, es nie überprüfen zu können, damit nichts mich aus meiner flüchtigen Verzauberung riss (meines war voller Makel, und tatsächlich dachte ich an die beiden erst wieder am nächsten Morgen, während ich im Bus darüber fluchte, so früh aufgestanden zu sein, denn das bringt mich um). Ich hätte ihnen zu gern etwas Ähnliches geboten, aber das war nicht der Fall. Sie brauchten mich nicht, vermutlich niemanden, ich war beinahe unsichtbar, ausgelöscht durch ihre Zufriedenheit. Nur zweimal, als er sich beim Gehen mit dem üblichen Kuss auf den Mund von Luisa verabschiedete – sie erwartete diesen Kuss niemals im Sitzen, sondern stand auf, um ihn zu erwidern –, machte er eine leichte Kopfbewegung in meine Richtung, fast ein Nicken, nachdem er zuvor den Hals gereckt und die Hand leicht angehoben hatte, um sich von den Kellnern zu verabschieden, als wäre ich einer von ihnen, nur weiblich. Seine Frau als gute Beobachterin machte eine ähnliche Bewegung in meine Richtung, als ich ging – immer nach ihm und vor ihr –, die beiden Male, an denen ihr Mann diese Geste gezeigt hatte. Aber als ich mit einem noch leichteren Nicken antworten wollte, hatten sowohl er als auch sie bereits den Blick abgewandt und sahen mich nicht. So schnell waren sie oder so besonnen.

ICH BEOBACHTETE SIE, wusste jedoch nicht, wer sie waren, was sie taten, auch wenn sie zweifellos Leute mit Geld waren. Reich wohl nicht, aber wohlhabend. Denn wären sie Ersteres gewesen, hätten sie ihre Kinder nicht selbst in Schule und Kindergarten gebracht, was sie, da war ich mir sicher, vor ihrer Pause im Café taten, bestimmt ins Colegio Estilo gleich um die Ecke, obwohl es in der Gegend mehrere gibt, renovierte Villen in El Viso, kleine Residenzen, wie man sie früher nannte; in einer solchen war ich selbst früher im Kindergarten gewesen, in der Calle Oquendo, nicht weit weg; auch hätten sie nicht fast täglich in diesem einfachen Lokal gefrühstückt, wären nicht um neun zur Arbeit gegangen, er kurz vorher, sie kurz danach, wie mir die Kellner versicherten, als ich mich nach den beiden erkundigte, und ebenso eine Kollegin aus dem Verlag, mit der ich später über den makaberen Vorfall sprach und die sie zwar auch nicht besser kannte als ich, jedoch so einiges in Erfahrung gebracht hatte, vermutlich finden Klatschsüchtige und Böswillige immer heraus, was sie wissen wollen, vor allem, wenn es unerfreulich oder ein Unglück im Spiel ist, sowenig es sie auch betreffen mag.

An einem Morgen Ende Juni blieben die beiden aus, was an sich nicht ungewöhnlich war, das kam vor, und ich nahm an, dass sie auf Reisen waren oder zu beschäftigt, um sich diese Atempause zu gönnen, die sie offensichtlich so genossen. Dann war ich selbst fast eine Woche fort, mein Chef hatte mich zu einer idiotischen Buchmesse ins Ausland geschickt, damit ich Public Relations machte, aber im Grunde nur an seiner statt den Trottel spielte. Nach meiner Rückkehr erschienen sie immer noch nicht, an keinem Tag, und das beunruhigte mich doch, weniger um ihret- als um meinetwillen, die ich nun meinen morgendlichen Antrieb verlor. Wie leicht verschwindet jemand von der Bildfläche, dachte ich. Da muss einer nur woanders arbeiten oder wohnen, schon erfährt man nichts mehr von ihm, sieht ihn sein Lebtag nicht wieder. Ja er muss bloß seinen Zeitplan ändern. Wie brüchig sind doch die visuellen Bande. Ich fragte mich, ob ich nicht doch einmal das Wort an sie hätte richten sollen, nachdem sie so lange für mich die Fröhlichkeit verkörpert hatten. Nicht, um sie zu belästigen oder ihnen den Moment ihres Beisammenseins zu verderben, schon gar nicht, um sie außerhalb des Cafés zu sehen, versteht sich, das wäre fehl am Platz gewesen; nein, nur um ihnen meine Sympathie zu zeigen, meine Wertschätzung, sie von da an zu grüßen und mich zu einem Wort des Abschieds verpflichtet zu fühlen, falls ich den Verlag verließ und nicht mehr in diese Gegend kommen würde, und auch sie zu Ähnlichem zu verpflichten, falls sie umzogen oder ihre Gewohnheiten änderten, so, wie uns der Händler im Viertel Bescheid sagt, wenn er den Laden schließt oder weitergibt, und auch wir fast alle Welt benachrichtigen, wenn wir umziehen. Damit man sich wenigstens bewusst macht, dass man die Menschen, die alltäglich um uns sind, nicht mehr vor Augen haben wird, auch wenn man ihnen immer nur einen distanzierten oder zweckdienlichen Blick geschenkt hat, bei dem man kaum auf die Gesichter achtet. Ja, das tut man gewöhnlich.

Also fragte ich schließlich die Kellner. Ihrer Ansicht nach war das Paar bereits in die Ferien gefahren. Das klang mehr nach Vermutung als nach verlässlicher Auskunft. Es war ein wenig früh dafür, aber manche verbringen den Juli lieber nicht in Madrid, wenn die Hitze zu Feuer wird, und vielleicht konnten Luisa und Deverne es sich erlauben, zwei Monate wegzufahren, wohlhabend und frei genug schienen sie zu sein (ihr Einkommen hing womöglich nur von ihnen ab). Zwar bedauerte ich es, bis September auf meinen kleinen morgendlichen Anreiz verzichten zu müssen, war jedoch beruhigt, dass er zurückkehren würde und nicht für immer vom Erdboden verschwunden war.

Ich erinnere mich, dass mir damals eine Schlagzeile untergekommen war, die von einem erstochenen Madrider Unternehmer handelte, und schnell weitergeblättert hatte, ohne den Artikel ganz zu lesen, gerade wegen des Bilds zur Nachricht: das Foto eines hingestreckten Mannes mitten auf der Straße, auf der Fahrbahn, ohne Sakko, Krawatte und Hemd oder vielmehr mit offenem, herausgezogenem, den die Samur-Sanitäter wiederzubeleben, zu retten versuchten, inmitten einer Blutlache, das weiße Hemd durchtränkt und befleckt, wie ich es mir nach flüchtigem Blick zumindest ausmalte. Das Gesicht war aus dem gewählten Blickwinkel kaum zu erkennen, und ich schaute es mir ohnehin nicht an, ich hasse die heutige Manie der Presse, dem Leser oder Zuschauer die brutalsten Bilder nicht zu ersparen – oder womöglich verlangen sie gerade danach, gestört, wie sie sind, im Großen und Ganzen; doch verlangt niemand, was er nicht schon kennt und bekommen hat –, als reichte die Beschreibung mit Worten nicht, und ohne die geringste Rücksicht gegenüber dem brutal Misshandelten, der sich nicht mehr wehren oder vor den Blicken schützen kann, denen er sich bei Bewusstsein niemals ausgesetzt hätte, wie er sich vor Unbekannten auch nicht im Bademantel oder Pyjama zeigen würde, weil er sich darin nicht für präsentabel hält. Einen toten oder sterbenden Menschen zu fotografieren, vor allem nach einer Gewalttat, halte ich für eine Unverschämtheit, für die größte Respektlosigkeit vor dem, der gerade zum Opfer, zum Leichnam geworden ist – solange man ihn sieht, scheint er noch nicht ganz tot, nicht ganz Vergangenheit zu sein, und dann muss man ihm gestatten, vollends zu sterben und ohne störende Zeugen oder Zaungäste aus der Zeit zu treten –, ich bin nicht bereit, mir diese Sitte aufzwingen zu lassen, habe keine Lust, das anzusehen, wozu man uns drängt oder fast nötigt, und neugierige, entsetzte Augen unter die der Tausenden zu mischen, deren Köpfe beim Zuschauen mit unterdrückter Faszination oder wohliger Erleichterung denken mögen: ›Ich bin es nicht, ein anderer liegt da vor mir. Bin es nicht, weil ich sein Gesicht sehe, und es ist nicht meins. Ich lese seinen Namen in der Presse, und auch der ist nicht meiner, sie stimmen nicht überein, so heiße ich nicht. Es hat einen anderen getroffen, was mag der getan haben, auf welche Geschichten, welche Schulden mag er sich eingelassen haben, was hat er Furchtbares angerichtet, dass man ihn dergestalt aufschlitzt. Ich lasse mich auf nichts ein, schaffe mir keine Feinde, halte mich fein raus. Oder halte mich nicht raus, richte auch mein Teil an, doch erwischt hat man mich nicht. Zum Glück ist es ein anderer, nicht ich bin der Tote, den man uns hier zeigt und über den man spricht, also kann ich mich heute sicherer fühlen als gestern, gestern bin ich entkommen. Den armen Teufel hat’s erwischt.‹ Nicht einen Augenblick kam mir der Gedanke, diese überblätterte Nachricht mit dem angenehmen, lächelnden Mann in Verbindung zu bringen, den ich täglich frühstücken sah, und der, ohne es zu wissen, mit seiner Frau die unendliche Freundlichkeit besessen hatte, mich zuversichtlich zu stimmen.

25.07.2012, 18:03

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