Warum Crashpropheten falschliegen
Im Übergang zu einem neuen Jahrzehnt prägt Zukunftspessimismus die Stimmung. Crashpropheten haben Zulauf. Nicht mehr ob, sondern nur noch wann eine Rezession ausbreche oder gar ein Absturz erfolge, interessiert viele Konjunkturexperten. Nach einer der längsten Phasen des ungebrochenen ökonomischen Aufschwungs verschlechtern sich für Deutschland die wirtschaftlichen Perspektiven. Jahrelang haben die Zentralbanken die Märkte mit Liquidität geflutet, nun beginnen sie mit einer Entziehungskur. Die amerikanische Notenbank hat die Leitzinsen bereits mehrfach erhöht, weitere Zinsschritte nach oben sind angekündigt. Auch in Europa dürfte die Europäische Zentralbank (EZB) zu Beginn der nächsten Dekade einen Kurswechsel vollziehen und vom lange praktizierten Expansionspfad abrücken. Die mit billigem Geld finanzierte Party der 2010er Jahre ist dann vorbei. Was folgt danach?
Die Erwartungen kippen. Schlechte Nachrichten machen mehr und mehr Optimisten mürbe. Auf breiter Front werden die Wachstumsprognosen für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) teilweise massiv nach unten korrigiert. Vielen scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis erst der Euro, danach die Europäische Union (EU) auseinanderbrechen. Negative kurzfristige Aussichten werden durch langfristige Trends des Klimawandels, der Umweltbelastungen und drohender militärischer Konflikte vor der europäischen Haustür zusätzlich getrübt.
Im Kampf um die geopolitische Vorherrschaft zwischen »America first« und »China 2025« drohen europäische Interessen zerrieben zu werden. Das Machtstreben national(istisch)er Autokraten in Russland, der Türkei und im Nahen Osten erzeugt ein explosives Spannungsfeld. Religionskriege und Terror tun ein Weiteres. Zusammen befeuern die weltpolitischen Brennpunkte eine pessimistische Endzeitstimmung, wie sie vor hundert Jahren schon einmal Europa befiel, als Oswald Spengler den »Untergang des Abendlandes« beschrieb.
»Was können wir vernünftigerweise erwarten, auf welchem Niveau der Wohlstand in hundert Jahren liegen wird? Was sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder?«, fragte 1930 in Zeiten großer ökonomischer wie politischer Not und grassierender Zukunftsängste kein Geringerer als John Maynard Keynes, einer der renommiertesten Ökonomen des letzten Jahrhunderts. In seinem Ausblick auf die wirtschaftlichen Chancen und Risiken für nachfolgende Generationen sah sich Keynes – angesichts der damaligen Krise nicht wirklich überraschend – einer skeptischen Perspektive seiner Zeitgenossen gegenüber: »Wir leiden gerade jetzt unter einer bösartigen Attacke des ökonomischen Pessimismus. Überall ist zu hören, dass die Epoche des enormen wirtschaftlichen Fortschritts, der das vergangene Jahrhundert kennzeichnete, vorbei sei; dass die rasche Verbesserung des Lebensstandards sich fortan verlangsamen werde; dass in dem vor uns liegenden Jahrzehnt ein Rückgang des Wohlstands wahrscheinlicher sei als eine Verbesserung.« Es ist, als hätte Keynes vor fast Warum Crashpropheten falschliegen hundert Jahren nicht allein seine Gegenwart von damals, sondern bereits die Ängste der Gesellschaft von heute im Auge gehabt.
Wie damals in der Zeit nach einem verheerenden Weltkrieg und während einer dramatischen Weltwirtschaftskrise steht die Menschheit im 21. Jahrhundert erneut vor großen Umbrüchen. Erderwärmung und ein Anstieg des Meeresspiegels, eine Übernutzung natürlicher Ressourcen, Hitzewellen und Dürreperioden, Massenarmut und Hungersnöte, Gewalt und Terror, Flüchtlingswellen und ein Aufeinanderprallen der Kulturen werden vorausgesagt. Dazu kommen demografische Entwicklungen, die in der nördlichen Hemisphäre komplett anders als andernorts verlaufen. Während in westlichen Gesellschaften die geringen Geburtenzahlen zu eher schrumpfenden und demografisch alternden Bevölkerungen führen, werden in Afrika, Asien und Lateinamerika die Bevölkerungsgrößen weiter zunehmen – teilweise beträchtlich. Was wird aus der Erde, wenn auf ihr in wenigen Jahrzehnten acht, neun oder gar zehn Milliarden Menschen leben werden?
Zwar wurden in Paris 2015 oder Ende 2018 in Kattowitz weitreichende Klimaziele vereinbart. Die Erderwärmung soll auf 1,5 Grad im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung beschränkt werden. Aber in der Praxis ist man meilenweit davon entfernt, umzusetzen, was im Prinzip beschlossen wurde. Ähnliche Gräben zwischen dem, was an sich zu tun wäre, und dem, was tatsächlich getan wird, klaffen bei vielen Themen, die weltweit gemeinsam anzugehen wären. Eher macht sich das Gegenteil breit, globales Vorgehen scheitert an nationalen Interessen. Grassierender Populismus und autoritäre Tendenzen provozieren das freiheitliche, offene und demokratische Gesellschaftsmodell Westeuropas. Protektionismus und Handelskonflikte verunsichern die Wirtschaft. Aus unterschiedlichen Gründen um Asyl Suchende verursachen vielfältige Spannungen – gerade auch innerhalb der Aufnahmegesellschaften in Europa und in Deutschland.
Künstliche Intelligenz und kluge Algorithmen eröffnen neue Perspektiven jenseits menschlicher Vorstellungskraft. Werden Roboter Arbeitskräfte unterstützen, ergänzen oder verdrängen? Ein »Ende der Arbeit« ist für Teile der Gesellschaft eher Fluch denn Segen. Viele fürchten gar, dass selbst lernende digitale Systeme und virtuelle Netzwerke gerade dabei sind, komplett unabhängige und unkontrollierbare künstliche Wesen zu schaffen, die dereinst die Menschheit nicht nur besiegen, sondern zum Untergang verdammen werden. In rasendem Tempo stellen neue Technologien lange gültige Weisheiten und alte Glaubenssätze in Frage. Lebenswirklichkeit und Alltag verändern sich in fundamentaler Weise und mit enorme Dynamik. Die sich nur schemenhaft abzeichnenden Veränderungen bleiben diffus. Gerade die extreme Unsicherheit darüber, was sein wird, löst bei vielen Menschen starke Befürchtungen aus. Klar ist lediglich, dass wenig bleibt, wie es ist. Vertrautes und Bekanntes wird verloren gehen. Was jedoch als Neues folgen wird, ist kaum erkennbar und bleibt unbekannt.
Keine Zweifel bestehen jedoch, dass die Menschheit in der Tat vor existenziellen Herausforderungen steht. Dabei verfügt sie über Mittel, alles mit Bravour und Erfolg zu bewältigen oder aber alles zu zerstören und die Apokalypse herbeizuführen. Und es ist nicht auszuschließen, dass morgen schon vieles schlechter wird – noch bevor das vorliegende Buch gedruckt, ausgeliefert und der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist, kann manches schiefgehen. Vieles wäre dann Makulatur, aber – und das ist entscheidend – nicht alles. Denn selbst wenn das Bisherige zusammenbricht, ist das nicht der Weltuntergang. Es würde weitergehen, vielleicht völlig neu und komplett anders, möglicherweise zunächst schlechter. Aber selbst das wäre nicht das Ende, sondern böte Chancen für einen Neuanfang. So wie das nach früheren Krisen und Katastrophen, politischen Umstürzen, wirtschaftlichen Kollapsen und gesellschaftlichen Umbrüchen nicht anders war.
Die Stunde der Optimisten schlägt jetzt
In Zeiten größter Not, nach Volksaufständen, Revolutionen und Kriegen oder Weltwirtschaftskrisen hat immer schon die Stunde null geschlagen. Deshalb beginnt jetzt die Stunde der Optimisten. Gerade die Erinnerung daran, dass der Zukunftspessimismus nichts Neues ist, hilft weiter.
Seit der Vertreibung aus dem Paradies plagte die Menschen immer schon die Sorge, dass über ihnen der Himmel einstürzt, die Sintflut alles mitreißt und die Apokalypse all das zerstört, was über Jahrtausende aufgebaut worden war. Aber die Welt ist nicht untergegangen. Weder Naturkatastrophen noch Hungersnöte und Versorgungskrisen, weder Seuchen und Epidemien wie die Pest noch Weltkriege, weder das Waldsterben noch das Ozonloch haben die Menschheit auf ihrem langen Weg zu stetig verbesserten Lebensbedingungen wirklich aufhalten können.
Allerdings sind einzelne Kulturen und Gesellschaften im Laufe der Weltgeschichte zusammengebrochen und verschwunden, wie es der US-amerikanische Physiologe und Evolutionsbiologe Jared Diamond in seinem Buch »Kollaps« eindrücklich beschreibt. Und der interdisziplinär forschende Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson hat in seinem »Aufstieg und Niedergang von Nationen« gezeigt, wie mikroökonomische Profitmaximierung Einzelner zu makroökonomischem Scheitern ganzer Volkswirtschaften führen kann – aber eben nur für einzelne Gesellschaften, nicht jedoch für die Welt insgesamt.
Offenbar gab es für die Menschheit insgesamt bisher immer wieder Überlebensstrategien, die es Bevölkerungen ermöglichten, Existenzkrisen mit unglaublichem Erfolg zu bewältigen. Alles in allem jedoch ist die Geschichte der Menschheit eine Erfolgsgeschichte – zumindest wenn man sich bewusst macht, dass bei allem Auf und Ab im Laufe der Jahrtausende immer mehr Menschen immer länger, gesünder und materiell besser ausgestattet leben als ihre Vorfahren. Wieso sollte es ausgerechnet im 21. Jahrhundert der Menschheit erstmals in der Geschichte nicht gelingen, den Kindeskindern eine bessere Welt zu hinterlassen? So viel Pessimismus und die Hoffnungslosigkeit, dass die besten Jahre vorbei sind und nicht noch kommen werden, haben kommende Generationen nicht verdient.
Das Gespenst des Endes des Wohlstands ist immer wieder aus dem Sarg der Geschichte geholt worden. Bisher jedoch immer zu Unrecht. Wenn Zeiten schlechter wurden, wie in der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts oder nach dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit, sorgten Basisinnovationen wie Containerschiffe oder das Internet für neuen Schwung. Die Digitalisierung ist die Basisinnovation der Gegenwart. Sie wird in Zukunft für eine Dynamik sorgen, deren Dimensionen mit den herkömmlichen Messverfahren heute nicht einmal ansatzweise erfasst werden können. Damit einher gehen – bei allen Risiken – gute Chancen auf ein besseres Leben für kommende Generationen.
Für die positive Erwartung der Optimisten und gegen die negative der Pessimisten spricht schlicht die Empirie. Bis heute liefert die lange Evolutionsgeschichte einen klaren Beleg zugunsten der optimistischen Sicht. Es geht der Menschheit heute materiell besser als jeder Generation früherer Zeiten, und zwar überall, nicht etwa nur in Europa. Nahezu weltweit ist die Kindersterblichkeit niedriger, ist die Lebenserwartung höher und haben mehr Menschen mehr Wohlstand, als es für ihre Vorfahren der Fall war: »Schritt für Schritt, Jahr für Jahr wird die Welt besser. Nicht nach jedem einzelnen Maßstab in jedem einzelnen Jahr, aber in der Regel trifft es zu. Auch wenn wir vor riesigen Herausforderungen stehen: Wir haben enorme Fortschritte gemacht. Das ist die faktengestützte Weltsicht« – so ist es in einem rundum überzeugend dokumentierten Bestseller des zu Ende gehenden Jahrzehnts zu lesen, in »Factfulness«, geschrieben vom schwedischen Arzt, Statistiker und Professor für Gesundheitswissenschaften Hans Rosling, gemeinsam mit seiner Schwiegertochter und seinem Sohn.
Dass die besten Jahre nicht vorbei sind, sondern erst noch kommen werden, soll die zentrale Botschaft dieses Buches sein. Ziel der folgenden Darlegungen ist es, eine optimistische Alternative zu pessimistischen Untergangsszenarien anzubieten. Das geschieht durchaus im Bewusstsein, dass schwergewichtige Risiken und eine Vielzahl von Gefahren die Menschheit bedrohen und eine existenzielle Krise verursachen können – aber eben nicht zwangsläufig müssen.
Völlig unstrittig ist, dass Unsicherheit und Unschärfe der zu erwartenden Entwicklungen bestenfalls schemenhaft erkennen lassen, was kommen könnte und sein wird. Deshalb kann es kein vernünftiges Ziel sein, alles und jedes beschreiben, erklären und bewerten zu wollen, was sich in künftigen Zeiten verändern und ergeben wird. Vielmehr ist es die Absicht des Verfassers, aus einer europäischen Perspektive aufzuzeigen, wie Ökonomie und Ökonomik in Zukunft funktionieren und wie westliche Gesellschaften auf die kommenden Herausforderungen reagieren sollten, um den Wohlstand ihrer Kindeskinder zu mehren. Dabei steht Deutschland im Zentrum. Die Interessen der Nachbarn werden vergleichsweise vernachlässigt. Das gilt ganz besonders für die Hoffnungen und Erwartungen, Nöte und Sorgen von Gesellschaften außerhalb Europas.
Das Buch will für Deutschlands Politik, Gesellschaft und Wirtschaft angemessene Reaktionen auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aufdecken. Weil viele Veränderungen alles andere als scharf erkennbar sind, plädiert es für schrittweise graduelle Anpassungsverfahren und weniger für konkrete Handlungsanweisungen. Es soll ein Kompass geliefert und nicht die Marschrichtung vorgegeben werden. Es geht um allgemeine Orientierung und nicht um das Aufzeigen großer Würfe und konkreter Wege oder gar eine Umsetzung alles umfassender Masterpläne mit detaillierten Maßnahmenkatalogen. Auch wenn momentan der Wohlstand in mancher Hinsicht gefährdet scheint, sodass Optimismus schwerfällt, wird – gerade deswegen – im Folgenden ganz bewusst Partei ergriffen für die klar normative Position, dass die deutsche Gesellschaft es in ihren eigenen Händen hat, kommende Anforderungen bewältigen zu können. Wegweisend ist dabei die Überzeugung, dass der erste Schritt zu einer erfolgreichen Problemlösung darin besteht, zu begreifen, was sich – bei aller durchaus immensen Unsicherheit, die natürlich auch für eine optimistische Vorausschau zu beachten ist – an künftigen Herausforderungen dennoch bereits heute erkennen lässt. Verstehen, wie sich die Wirtschaft in Zukunft ändert, beraubt viele Ängste ihrer Grundlagen.
In einem zweiten Schritt können danach Chancen und Risiken abgeleitet werden, die sich aus den prognostizierten Veränderungen ergeben. Ein besseres Verständnis der Ökonomie ermöglicht und erzwingt eine neue Ökonomik. Damit ist die Wissenschaft gemeint, die analysiert, wie die Wirtschaft der Zukunft funktioniert. Daraus lassen sich in einem dritten Schritt erst eher allgemeine Erfolg versprechende Überlebensstrategien erarbeiten, die dann in einem vierten Schritt für Deutschland weiter zu analysieren sind.
Quintessenz der folgenden Gedankengänge ist, dass die Erfolgschancen dafür, dass es in Deutschland den Kindeskindern besser und nicht schlechter als ihren Eltern gehen wird, nicht gottgegeben sind. Sie sind das Ergebnis einer von Menschen gemachten Politik. Und mehr Wohlstand für alle muss nicht Utopie bleiben. Ein besseres Leben für kommende Generationen kann – ja, muss! – realistisches und realisierbares Ziel für Deutschlands Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sein. Bedingung für eine gut gelingende Zukunft ist jedoch, dass die Stunde der Optimisten schlägt. Und zwar jetzt.