Einleitung
Auf einem Workshop kam ich mit einem jungen Strafgefangenen ins Gespräch. Dieser junge Mann, der dem Dozenten bei den Übungen assistierte, hatte mit 19 Jahren einen bewaffneten Raubüberfall begangen und war daraufhin in Haft gekommen. Während der Mittagspause berichtete er mir, dass er schon als Kind Probleme gehabt habe, sich an Regeln zu halten. Mit 13 Jahren sei er dann kriminell auffällig geworden, in den Folgejahren kamen immer neue Fälle hinzu. »Und all diese Jahre hindurch, nach jedem neuen Fall«, so sein Vorwurf, »haben sie mich nur vollgelabert und mich in dem Glauben gelassen, ich könne immer so weitermachen. Wirklich passiert ist sieben Jahre lang nichts. Erst dann, als ich 19 war. Ist das fair?«
Ich konnte diesem Vorwurf nicht widersprechen. In meiner 30-jährigen Arbeit als Lehrer mit verhaltensschwierigen Kindern und Jugendlichen habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass endlose Mahnungen, Erklärungen und Strafpredigten gegenüber dissozialem und gewalttätigem Verhalten wenig bewirken.
Dies gilt auch für viele der üblichen Interventionen auf Regelverstöße oder Gesetzesübertretungen. Sie werden von verhaltensschwierigen jungen Menschen weder besonders ernst genommen noch als wirksam eingeschätzt.
Dieser Sichtweise entsprachen auch die Klagen von Pädagogen, für die ich seit 2001 im Themenbereich Gewaltprävention Fortbildungen gegeben habe. Verstörend war vor allem die Erkenntnis, wie wenig Wirkung gut gemeinte, von Toleranz und Verständnis geprägte Reaktionen gegenüber dissozialen Verhaltensweisen zeigten. Angesichts akuter Probleme und des Anspruchs der Politik, im Rahmen der Inklusion verhaltensschwierige Kinder und Jugendliche in die Regelschulen aufzunehmen, fühlten sich die Kollegen hilflos und überfordert.
Doch nicht nur Schule und andere pädagogische Einrichtungen sind betroffen. Klagen kommen aus allen Bereichen der Gesellschaft. Aus Gesprächen mit Mitarbeitern anderer Institutionen, von Freizeiteinrichtungen und Verkehrsbetrieben lassen sich ähnliche Probleme erkennen. Die Wirtschaft beklagt bei vielen Berufsanfängern nicht nur unzureichende Kenntnisse der grundlegenden Kulturtechniken, sondern vor allem einen auffälligen Mangel an persönlichen und sozialen Kompetenzen. Eltern sind mit der Erziehung zunehmend überfordert, und in den Medien finden sich fast täglich Meldungen über dissoziale Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit. Was bei jungen Menschen zur Gewohnheit wird, hört mit dem Beginn der Volljährigkeit nicht auf.
Als Lehrer macht es mich betroffen, dass sogar Pädagogen vor den anstehenden Problemen kapitulieren. Diese Betroffenheit gilt auch jenen, die durch ihr Verhalten die Schwierigkeiten hervorrufen. Sie haben das Recht auf die bestmögliche Förderung. Und wer, wenn nicht wir als Pädagogen, sollte dazu in der Lage sein. Dabei soll keineswegs übersehen werden, dass die tieferen Ursachen vieler Verhaltensprobleme in sozialen und ökonomischen Mängeln gründen, die nur auf lange Sicht verändert werden können. Doch dies kann keine Entschuldigung dafür sein, einer langsamen Erosion der sozialen Umgangsformen tatenlos zuzuschauen und die gegebene Situation zu akzeptieren. Sind junge Menschen mit sozialen Defiziten erwachsen geworden, begrenzen sich in einer freien Gesellschaft die Möglichkeiten für eine nachhaltige Prävention und Intervention. Umso mehr stehen die Gesellschaft und ihre Institutionen in der Verantwortung, früh und eindeutig einer dissozialen Entwicklung entgegenzuwirken. Allerdings erfüllen sie diese Aufgabe mancherorts eher schlecht als recht. Das hat vielfältige Ursachen, die aktuelle gesellschaftliche Einstellungen und Haltungen spiegeln. Viele Bedingungen, die ich als Einschränkung der pädagogischen Handlungsfähigkeit erlebt habe, sind veränderbar. Dies betrifft neben bürokratischen, juristischen und finanziellen Einschränkungen vor allem den individuellen Umgang mit dissozialen Verhaltensweisen. Das allerdings setzt die Bereitschaft voraus, sich von einigen Illusionen zu lösen und die Probleme differenzierter zu betrachten. Es gilt, sich aus einer Art ideologischer Selbstbeschränkung zu befreien. Aus Verständnis für die individuellen und sozialen Schwierigkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird oft alles vermieden, was den Anschein von Konsequenz und Begrenzung erwecken könnte.
Diese Haltung findet sich nicht nur bei professionellen Pädagogen, sondern kennzeichnet die Ansicht breiter Bevölkerungsschichten. Die Aufbruchsstimmung pädagogischer Reformdiskussionen der letzten Jahre beförderte eine öffentliche Erwartungshaltung an die positive Wirkung einer Erziehungspraxis, die vornehmlich auf eine tolerante Vorgehensweise gründet. Aber nicht selten scheitern Eltern ebenso wie Pädagogen und andere erziehungsrelevante Berufsgruppen mit dieser einseitigen Sichtweise an der Realität. Viele Kinder und Jugendliche entsprechen nicht den idealen Ansprüchen an das erwartete sozial kompetente Verhalten.
Was schon im schulischen Bereich misslingt, setzt sich unter ungünstigeren Vorzeichen im Leben der jungen Erwachsenen fort und prägt immer stärker die öffentliche Kommunikation. Rüpelhaftigkeit, Rücksichtslosigkeit und Aggressionen nehmen zu und werden nicht selten als Ausdruck individueller Freiheitsäußerungen (miss)verstanden. Das Gefühl der allseitigen Überforderung von Eltern, Pädagogen und betroffenen Bürgern zeigt sich in Hilflosigkeit und Resignation.
Was tun? Erziehungsideale und -modelle müssen überprüft werden. Es gilt, kritisch zu hinterfragen, ob deren hoher Anspruch auf Freiwilligkeit, Einsicht und Selbstständigkeit die aktuell vorhandenen Fähigkeiten sozial behinderter junger Menschen in vielerlei Hinsicht überschätzt. Dabei fängt die Handlungsunsicherheit von Lehrern, Eltern und Erziehern keineswegs erst bei schweren, medienträchtigen Vorkommnissen an. Kein dissozial auffälliger, gewalttätiger Jugendlicher beginnt als Intensivtäter. Aber jeder dieser jungen Menschen wird mit Erfahrungen groß, die sein weiteres Verhalten mitbestimmen. So zeigen sich die Probleme schon im alltäglichen Umgang mit sozial belastenden Verhaltensweisen. Indem Erwachsene hierbei oft nachlässig oder unsicher intervenieren, werden den Kindern und Jugendlichen, die mit ihrem Verhalten Schwierigkeiten haben, vielversprechende Orientierungen und Hilfestellungen für ihre Persönlichkeitsentwicklung vorenthalten.
Begünstigen wir also mit unseren Erwartungen und Idealen, mit unserem Denken und Handeln, vor allem aber mit unseren Unterlassungen die Entstehung und Ausbreitung dissozialen und vielfach gewalttätigen Verhaltens? Bieten wir denen, die mit dem Prozess der sozial-emotionalen Entwicklung größere Schwierigkeiten haben und deshalb besonderer Hilfe bedürfen, ausreichend Unterstützung und Halt? Reicht unser liberales und auf oft grenzenlose Toleranz fußendes Verständnis von Erziehung aus? Falls nein, wie könnten wir es besser machen, ohne in autoritäre Erziehungsmuster der Vergangenheit zurückzufallen? Fragen, die uns tagtäglich beschäftigen und in Zukunft an Dringlichkeit gewinnen werden. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die beabsichtigte Inklusion verhaltensschwieriger Schüler in die allgemeinbildende Schule, sondern ganz aktuell auch hinsichtlich hunderttausender junger Menschen, die mit den Verhaltens- und Wertvorstellungen fremder Kulturen im Gepäck als Flüchtlinge zu uns kommen und in das demokratische Wertesystem einer offenen, liberalen Gesellschaft integriert werden müssen.
Ganz gleich, ob wir aus professionellem Interesse, als Lehrer, Erzieher, Eltern oder interessierte Bürger damit konfrontiert werden – die Aufgabe, jungen Menschen die Regeln unseres Rechtsstaates und einer freien, offenen Gesellschaft zu vermitteln, geht uns alle an. Es ist eine der schwierigsten und zugleich entscheidendsten Fragen unserer heutigen Gesellschaft. Von ihrer Beantwortung wird abhängen, ob und wie wir die sozialen und politischen Probleme in der nahen Zukunft meistern können.