Prolog
Es war um die Mittagszeit, an einem strahlenden Septembertag. Gemeinsam mit Mitarbeitern und Studenten setzten wir uns im Speisesaal zu Tisch und genossen die Düfte, die ihren Weg aus der nahe gelegenen Küche fanden. Endlich wurden die Handwagen mit den unterschiedlichsten Speisen in die Halle gerollt und die Köstlichkeiten auf Teller geschöpft. Ich begann mit dem nach Zimt und Kokus duftenden Curry. Genüsslich ließ ich den ersten Bissen auf der Zunge zergehen, doch plötzlich: »Aaah, was ist das denn?« Ich sprang hoch und japste, schüttelte meine Hände, als stünden sie in Flammen. Im Nu war meine Stirn schweißnass. Eine heiße Wolke umhüllte mich. Alle Sinne waren in Alarmstimmung. »Was war das bloß?«, keuchte ich. Prasanth, ein Kollege, brach in Gelächter aus: »Oh, keine Sorge, nichts Schlimmes, nur eine Kanthari!«
Für den, der noch nie von einer »Kanthari« gehört hat, nur so viel: Es handelt sich um eine besondere Chili-Art, die im südindischen Kerala überall wild wächst. Sie ist klein und harmlos in ihrer Erscheinung, aber scharf und feurig, wenn man sie kostet. Außerdem besitzt sie viele medizinische Eigenschaften, wirkt blutreinigend, schmerzlindernd und senkt den Blutdruck. Die Kanthari wächst wild im Abseits. Man pflanzt und pflegt sie nicht, sie sät sich selbst aus. Wenn sie es schafft, Wurzeln zu treiben, übersteht sie Dürren und Fluten. Das war es doch, wonach wir so lange gesucht hatten! Ein perfektes Symbol für einen ganz besonderen Menschentyp, der wie eine Kanthari-Chili im Abseits zu finden ist und allen Widrigkeiten trotzt, der mit Biss und feurigem Engagement gesellschaftliche Konventionen verändern will. Jemand, der sich nicht scheut, gegen den Strom zu schwimmen und dabei, wie die Kanthari-Chili, nicht allen gefallen muss.
Und deshalb nannten wir diesen ganz besonderen Typ Mensch fortan »kanthari«, mit einem kleinen »k«, – und hatten zugleich einen Namen für unser Institut in Kerala gefunden. Das kanthari-Institut ist mehr als ein Ausbildungszentrum für Führungskräfte sozialer Initiativen. Es handelt sich um ein Trainingszentrum, in dem Menschen aus der ganzen Welt, manche blind, andere nicht, wieder andere als Minderheit ausgegrenzt in ihrer Gemeinschaft, lernen können, ihre Wut über erfahrene Benachteiligungen in konstruktive Lösungen zu ver- wandeln. kanthari soll eine Art Sprungbrett für ihre Projekte sein; hier können sie Netzwerke mit anderen sozialen Initiativen knüpfen, um gemeinsam lokale und globale Herausforderungen auf kreative und unkonventionelle Weise zu lösen.
Die Idee zu diesem Institut war schon vor langer Zeit entstanden. Ich lebte damals mit meinem Partner Paul Kronenberg im Autonomen Gebiet Tibet, und wir bauten unsere Blindenschule in Lhasa auf. Trotz vieler Warnungen, vieler Hürden und mancher Rückschläge haben wir unsere Pläne in etwa sieben Jahren weitgehend realisieren können – weil wir »naiv« und stur genug waren, an unseren Traum glaubten und nicht auf all die Bedenken und Warnungen hörten, die uns vielleicht entmutigt hätten.
Heute haben viele ehemalige blinde Schüler dieser Schule ihre eigenen Träume verwirklicht. Manche haben Geschäftsideen umgesetzt, andere soziale Einrichtungen geschaffen. Zwei unserer ehemaligen blinden Schüler leiten heute die Schule. Viele fragen sich, wie es zu solchen Erfolgen kommen kann, in einer Region, in der Blindheit als Strafe gilt. Ganz einfach: Die blinden Schüler hatten nichts zu verlieren und konnten daher Risiken eher als Abenteuer ansehen und angehen. Da sie nicht zum »Mainstream« gehören, müssen sie niemandem gefallen und sind so in der Lage, ihre unkonventionellen Ideen zu verfolgen. Sie handeln sozial verantwortungsvoll, besitzen Durchsetzungswillen und Energie und haben keine Scheu, Zukunftsvisionen umzusetzen.
Damit waren sie bereits »kantharis«, auch wenn es den Begriff damals noch nicht gab. Wir fragten uns, warum die positiven Veränderungen, die wir an den Blinden in Tibet erlebten, nicht auch für andere Randgruppen, in welchem Land auch immer, möglich sein sollten. Warum nicht ein Institut für Außenseiter? Eine Traumwerkstatt, in der sie lernen, ihre Ideen wirklich werden zu lassen. Wir machten uns auf den Weg, einen geeigneten Ort für unser neues Vorhaben zu finden. Es gibt viele Gründe, warum unsere Suche nach einem geeigneten Standort schließlich an der Südspitze Indiens endete: interessierte Menschen, eine im Vergleich zum kargen tibetischen Hochland üppige Natur ... und dann natürlich das gute Essen! Und noch etwas: Südindien ist geografisch der perfekte Ort für ein solches Institut. Kerala ist zentral gelegen zwischen Afrika und Südostasien, ein Sprungbrett für kantharis, die überall als Problemlöser und Weltveränderer gebraucht werden.
Heute, nach sechs Jahrgängen, gibt es bereits 117 Absolventen aus 37 Ländern, mit über 70 sozialen Initiativen, die wiederum Tausende von Menschen erreichen. Vor Kurzem besuchten Paul und ich, begleitet von Dokumentarfilmern, einige dieser Initiativen der kanthari-Absolventen in ihren Ländern. Unsere Reise führte uns von Kerala nach Ostafrika, nach Kenia, in die Region der Massai, in Slums und in den tiefsten Busch. Von dort ging es in den Norden Ugandas, der vor nicht allzu langer Zeit von Rebellen terrorisiert worden ist. Es ging weiter in die Hauptstadt Kampala und da quer durchs Rotlichtviertel von Kabalagala. Dabei erhielten wir einen direkten Einblick in die Arbeit der kantharis, von der ich in diesem Buch erzählen will.
Ich berichte von ihren aufregenden Biografien und dem turbulenten Leben auf dem kanthari-Campus in Kerala, aber auch von meinem eigenen Weg und unseren Erfahrungen und Einsichten, die wir in Tibet und Indien weitergeben konnten. »Nur nicht die Wut verlieren« – so lautete meine erste Titelidee für dieses Buch, und für mich ist das nach wie vor ein gutes Motto für alle, die sich mit der Welt, wie sie ist, nicht abfinden können.