Eins
Sie hatte ein breites Gesicht, offen wie ein Buch. Ihre Augen verrieten eine Lebenslust, die nicht im Einklang mit dem grauen Ernst ihrer Umgebung war. Wenn sie morgens aus dem Bett kroch und aus dem Dachfenster schaute, sah sie, dass das Land unter Wasser stand, aus dem drei Meter lange Pfähle ragten, die die Landung alliierter Fallschirmjäger und Amphibienflugzeuge verhindern sollten. Alles hatte die Farbe von Schlamm – auch die Obstgärten waren überflutet. In der Küche schlang sie, weil es keinen Zwieback gab, einen mehligen Apfel hinunter; der Holundertee musste ungesüßt getrunken werden. Es blieb schummerig in dem kleinen Haus, das wie ein Pickel am Deich klebte; erst am späten Nachmittag fiel auf der Rückseite ein schmaler Lichtstreifen herein. Dennoch funkelten ihre Augen, als sähen sie das kreisende Riesenrad auf dem Jahrmarkt. Ihr jüngster Bruder beschrieb sie als Frohnatur und Jedermannsfreund. Letzteres wage ich zu bezweifeln. Sie suchte nach einem Blick, der länger als eine Sekunde auf ihr ruhte, nach einer Reaktion, einem Zeichen von Beachtung, notfalls von Missbilligung. Wenn man das zehnte von elf Kindern ist, steht man weit hinten in der Reihe: Sie wollte wahrgenommen werden. Sandrien de Regt war im Herbst 1944 ein auffallendes Mädchen, vierzehn Jahre alt.
Ernst Friedrich Lange, der seine gesamte Freizeit mit ihr verbrachte und sich nicht einmal die Zeit nahm, einen Brief nach Hause zu schreiben, gestand ihr jeden Abend, wie hinreißend er sie fand. Er tat das mit einer Flut von Worten, die sie längst nicht alle verstand. Für einen Soldaten redete er viel, überschwänglich, blumig; es war, als wolle er sie seine Uniform vergessen machen, indem er sie unentwegt ansah und zu ihr sprach. Attraktiv sei sie. Verführerisch. Wie eine Italienerin, behauptete er eines warmen Nachmittags, als er ohne besonderen Anlass ein Stück mit ihr spazieren ging. Sandrien hatte tatsächlich kurzes, festes, schwarzes Haar und ziemlich große, dunkle Augen. Doch fast alle Mädchen aus dem Dorf hatten das, was Ernst wohl noch nicht aufgefallen war. Seit er Ende August ein paar Häuser weiter einquartiert worden war, hatte er nur für sie Augen gehabt. Dass das Dorf aus Deichen bestand, aus eingedämmten Flüssen, Wassergräben und Schleusen, musste er offenbar erst noch entdecken.
Ernst Lange war selbst alles andere als blond, allerdings konnte mir niemand sagen, ob seine Haarfarbe stark von Sandriens nicht einmal besonders aufällig dunklem Schopf abwich. Ich nehme an, dass er kastanienbraune Augen hatte. Ansonsten tat Ernst Lange seinem Namen alle Ehre an: Er war lang und ernst. Manchmal stelle ich ihn mir nervös und argwöhnisch vor, musste er sich doch erst noch daran gewöhnen, Feind in einem Land zu sein, dessen Sprache ihm wie ein merkwürdiger Dialekt vorkam. In anderen Augenblicken hat er in meiner Vorstellung die siegesbewusste Haltung eines jungen Mannes, dem das Glück in den Schoß gefallen ist.
Kurz nach der Ankunft das hübscheste Mädchen des Dorfes in den Armen halten zu dürfen ist nicht jedem Soldaten vergönnt. Ich weiß es nicht. Ich räume das lieber von vornherein ein, um zu zeigen, dass diese Geschichte zwischen Fakten und Vermutungen hin- und herpendelt. Nicht, dass ich die Bilder schöner und die Gefühle stärker darstellen wollte, das würde dem bitteren Charakter dieser Geschichte zuwiderlaufen. Vielmehr habe ich Tausende von Seiten mit Notizen, Exzerpten, Dokumenten, Akten, Zeugenvernehmungen und Augenzeugenberichten studiert, um mir ein zutreffendes Bild von den Personen und Situationen zu machen. Manche Fakten lassen sich allerdings nicht mehr ermitteln.
Von allen Personen in diesem Buch ist Ernst Friedrich Lange jahrelang die unbekannteste für mich geblieben, die verschwommenste, der junge Mann, dem die Nebenrolle zukommt. Absolut sicher bin ich mir allerdings darin, dass Lange ein baumlanger Kerl war, wesentlich größer als seine Kameraden, die höchstens eins achtzig maßen. Diese Größe sollte ihm zum Verhängnis werden. Was sein Alter betrifft, habe ich lange im Dunkeln getappt. In verschiedenen Polizeiberichten steht schwarz auf weiß, dass Ernst siebzehn war, als er in das südholländische Dorf Rhoon abkommandiert wurde, doch ich wusste anfangs nicht, ob er siebzehn Jahre und zwei Monate alt war oder siebzehn und elf Monate. Es ist schließlich ein großer Unterschied, ob er ein Junge am Ende der Pubertät war oder ein fast erwachsener Bursche.
An keiner Stelle wird in den niederländischen Dokumenten sein exaktes Geburtsdatum genannt, lediglich: geboren im Jahr 1927. Das war, wie sich später herausstellte, nicht richtig. Vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurde mir ein anderes Geburtsjahr genannt: 1926. Mitsamt der Angabe von Tag und Monat: 24. Juli. In jenem Oktober 1944 war Ernst Lange also achtzehn Jahre und zweieinhalb Monate alt. In den offiziellen Papieren ist auch seine Konfession vermerkt: evangelisch. Als Protestant wird er eher im Westen oder Norden Deutschlands aufgewachsen sein als in Bayern. In Nordrhein-Westfalen, meinten einige Dorbewohner, die sich an Ernst Lange noch schwach zu erinnern glaubten. In Essen. Die niederländischen Dokumente schweigen zu seinem Geburtsort. Eine Nachfrage beim Militärarchiv in Freiburg ergab als Geburtsort Jörnsdorf im Kreis Weimar. Kreis Weimar heißt inzwischen Kreis Weimarer Land, doch kein Dorf oder Weiler hat dort einen Namen, der auch nur entfernte Ähnlichkeit mit Jörnsdorf hätte. Unter Ernst aus Essen stelle ich mir einen anderen jungen Mann vor als unter Ernst aus Weimar. Den Ernst aus Weimar schätze ich strenger ein.
Alles falsch. Ernst Friedrich Lange, so stellt sich heraus, stammt aus Jörnstorf, mit t anstatt d. Ein einziger Buchstabe Unterschied, und ich sehe ein anderes Gesicht vor mir. Jörnstorf liegt im Nordosten Deutschlands, in Mecklenburg-Vorpommern, nicht weit von der Ostsee entfernt. Das macht Ernst für mich wesentlich sympathischer, als wenn er ein Deutscher aus Thüringen gewesen wäre. Als zwölfjähriger Junge muss er häufig zum Strand geradelt sein oder in die nächstgelegene Hafenstadt – Rostock –, um allein oder mit seinem Vater den Schiffen zuzuschauen. Es ist aber genauso gut möglich, dass er bereits beim Gedanken an Wellen seekrank wurde und die Marine als Strafe empfand. Von ihm sind keine Briefe erhalten geblieben, und selbst wenn, so hätte er darin den Markigen spielen können.
Ein Militärangehöriger hat eine Nummer, gehört einer Teilstreitkraft an und einer Einheit. Solche Angaben scheinen wertvoller, als sie tatsächlich sind. Was sagt es über Lange aus, dass er der 6. Kompanie der 20. Schifsstammabteilung (SStA) der Land-Kriegsmarine angehörte und dass in die Erkennungsmarke, die er an einer Kette um den Hals trug, die Nummer 38190/44D eingraviert war? Nur dies: Die Zahl nach dem Schrägstrich steht für das Jahr seines Dienstantritts: 1944. Aber das wusste ich bereits aus einer anderen Quelle. Die Marke diente der Identifizierung. Ernst wurde damit beigesetzt, zunächst in Rotterdam-Crooswijk und vier Tage danach auf dem deutschen Militärfriedhof Ysselsteyn in der Provinz Limburg. Dort liegt er zwischen 32 000 Deutschen, die während des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden gefallen sind. Im Block BW, Reihe 5, Grab 103. Merkwürdig, dass ich von Anfang an wusste, wo sein Grab lag, als dürfte ich nur über seinen Tod ein paar Einzelheiten in Erfahrung bringen, nicht aber über seine Jugend und seine Schuljahre unter dem Naziregime.
Wie jeder deutsche Wehrmachtsangehörige hatte Ernst Lange eine Feldpostnummer, M (für Marine) 64802 (Nachrichten-Kompanie Führungsstab Nordküste). Unter dieser Nummer ist nie Post für ihn eingegangen. Ernst Lange war Matrose in Ausbildung. Nicht verwunderlich, das gesamte junge Kanonenfutter, das Hitler 1944 für seinen totalen Krieg benötigte, befand sich »in Ausbildung«. »Matrose« ist eher eine falsche Fährte denn ein nützlicher Hinweis: Gut und gern die Hälfte der Mannschaften der Kriegsmarine hat nie einen Fuß auf ein Schiff gesetzt. Ernst gehörte zu den Truppenteilen, die gemeinhin als »Landmarine« bezeichnet wurden. Das Fußvolk dieser Landmarine musste Häfen, Wasserstraßen, Brücken und mögliche Landeplätze der Alliierten bewachen.
Die meisten der fast achtzehnjährigen Jungen meldeten sich freiwillig zur Kriegsmarine, um einer Einberufung zur Waffen-SS oder zum Heer zu entgehen und damit einem Marschbefehl ohne Rückkehr in Richtung Ostfront. Die Landmarine überwachte die Küste von Bremen bis Biarritz. Nach dem D-Day war auch das kein Zuckerschlecken, doch theoretisch hatte ein Matrose der Landmarine eine größere Überlebenschance als die Soldaten, die in Schnee und Schlamm auf Einheiten der Roten Armee stießen.
Ernst Lange wuchs in ausreichender Nähe zu Polen auf, um die Winter an der Ostfront zu fürchten, aber ob er sich tatsächlich freiwillig zur Marine in Rostock gemeldet hat, vermag kein Archivdienst mir anhand eines Dokuments nachzuweisen.
Bei Sandrien bleiben weniger Fragezeichen. Geboren am 11. August 1930, war sie zu dem Zeitpunkt, da ich sie hier auftreten lasse, vierzehn Jahre und zwei Monate alt. Sie sah mindestens zwei Jahre älter aus, habe ich von verschiedenen Zeugen erfahren. Sie war nicht kleiner als ihre Schwester Dien, von der sie neun Jahre trennten. Im Übrigen waren beide nicht besonders groß: 1,71. Sandrien musste zu Ernst aufblicken, der sie um sechzehn oder siebzehn Zentimeter überragte.
Damals wie heute ist Sandrien kein geläufiger Name für ein protestantisches Mädchen. Getauft wurde sie auf den Namen Sandrina. Ihr Vater nannte sie Sandrien, mit scharfem S. Ihre Lehrerin, Juffrouw Corthals, nannte sie Sien, ebenso der Rektor der Grundschule. Sandrien konnte Jufrouw Corthals nicht ausstehen. Bei Rektor Brons hoffte sie immer, er würde vom Fahrrad fallen und sich den Hals brechen. Jufrouw Corthals und Meester Brons rümpften die Nase über Kinder aus großen Familien. Ihre Schwester Berdien – Rufname Dien – war noch deutlicher, sie nannte Meester Brons einen Widerling und Jufrouw Corthals ein Miststück.
Für mich war Jufrouw Corthals eine der nettesten Lehrerinnen, die ich in der Grundschule hatte, aber ich kam nicht aus einer großen Familie, und ich war ein Nachkriegskind. Als ich sie in der ersten Klasse der »Schule mit der Bibel« als Lehrerin bekam, war sie gut über dreißig und hatte ihre Vorurteile zweifellos gemäßigt. Obwohl sie die Frechheit meines Klassenkameraden Piet de Lijzer kaum ertragen konnte. Piet de Lijzer entstammte ebenfalls einer großen Familie, zufällig der, die neben der Familie de Regt in einem genauso kleinen Haus am Rijsdijk wohnte – ich glaube, die de Lijzers waren eine dreizehnköpige Familie.
Was Lehrer Brons anbelangt, so bin ich mit Sandrien und Dien einer Meinung: Er war ein Rektor, der auf Ungehorsam reagierte wie der Stier auf ein rotes Tuch. Einmal musste ich sogar meine Hände flach auf das Pult legen, damit er mir mit einem Holzlineal auf die Finger schlagen konnte. Nach seiner Pensionierung sollte ich ihn noch jahrelang bei uns durch die Straße radeln sehen, mit einem Rücken, so gerade wie ein Zeigestock. Er grüßte mich immer höflich. Für ehemalige Schüler schien er durchs Feuer zu gehen. Ich habe ihm nie etwas nachgetragen; er war einer vom alten Schlag, und dieser Schlag war nun mal autoritär.
Für die meisten Dorbewohner blieb Sandrien Sien. Nach dem ersten Kuss eines Jungen fand sie, Sandrien klinge erwachsener. Sie war frühreif, früher reif jedenfalls als ihre Geschwister. Der Krieg ließ sie schneller erwachsen werden.
Ernst Lange nannte sie Sandrien, mit scharfem S. Aber wie er das R aussprach – das klang fast schnarrend. Sein N war wieder weich wie Filz; wenn er Ssandrrrriennn sagte, schien ein Marienkäfer über ihren Rücken zu trippeln. Sie erschauerte beim Klang seiner Stimme und kam sich wie die Tochter des Flugzeugfabrikanten Koolhoven vor, der auf Rhoon wohnte.
Eines der Dinge, die sie Ernst zu erklären versuchte, war, dass man nicht »in Rhoon«, sondern »auf Rhoon« wohnte, weil Rhoon jahrhundertelang eine kleine Insel in der Maasmündung gewesen war. Man wohnt schließlich »auf« einer Insel, oder? Ernst begriff es nicht. In mancherlei Hinsicht fand sie ihn gewitzt und klug, in anderer einfältig. Auch gutgläubig, als wäre in der Liebe alles uneigennützig.
Matrose Lange hätte es wirklich besser wissen müssen. Nicht nur verführte er Sandrien mit einem Stück Seife (eine einfache Methode, ein Mädchen rumzukriegen; Seife war damals knapp und kostete ein Vermögen an Bezugsscheinmarken), der Ort, an dem er sich zum ersten Mal mit ihr traf, schloss sentimentale Spekulationen aus. Es sei denn, Ernst hätte nicht auf Anhieb gemerkt, dass schon viele vor ihm die knarrende Treppe zur Dachkammer hinaufgestiegen waren.
Aus irgendeinem Grund denke ich, dass man Ernst Lange noch bevor er sein Abitur machen konnte von einem Provinzgymnasium genommen hat, wie Zehntausende sechzehn-, siebzehn- und achtzehnjährige Jungen in den Monaten April und Mai 1944. Und dass er von einem Moment zum anderen Mathematik, Chemie, Griechisch, Latein, Hölderlin, Kleist und Wilhelm Meisters Lehrjahre gegen eine sechswöchige militärische Blitzausbildung und einen gerade mal siebenstündigen Schießkurs eintauschen musste, wonach er wie insgesamt achtzigtausend andere Knaben in ein Gebiet geschickt wurde, das sie bis zum letzten Mann verteidigen sollten.
Zugegeben, das ist Spekulation. Vielleicht saß er auf einer technischen Schule, als Hitler das wehrplichtige Alter auf sechzehn senkte. Oder er arbeitete in einer Fabrik. Landarbeiter ist eine weitere Möglichkeit, obgleich er nicht wie ein Bauernknecht aussah. Manchmal trug er eine Brille. Dieses Ding mit den runden Gläsern setzte er sich einem Informanten zufolge ziemlich ungeschickt auf, er hakte sich die dünnen, biegsamen Stahlbügel hinter die Ohren. Zu diesem Bild passt ein etwas weltfremder Gymnasiast.
Dennoch ist Vorsicht geboten bei dieser Art von Annahmen. Ernst Lange hätte sich genauso gut zu einem Rohling oder Sadisten entwickeln können, wenn er länger am Leben geblieben wäre. Am Tag darauf, dem 11. Oktober 1944, bewiesen seine Kameraden, dass sie zu allem fähig waren. Warum also er nicht?
Ernst konnte von Glück sagen, dass er nicht an die Ostfront geschickt worden war und auch nicht an die Westfront in der Normandie. Das Gebiet südlich von Rotterdam hatte sich 1944 noch nicht in ein Schlachtfeld verwandelt. Allerdings rechneten seine Vorgesetzten fest damit: Nach dem Angrif auf Antwerpen dachten sie, nun sei Rotterdam an der Reihe. Die Alliierten würden versuchen, die Häfen einzunehmen. Zusammen mit fünfzehn eiligst einberufenen Schicksalsgenossen musste Ernst das Gebiet rund um den Waalhaven bewachen. Ein trostloses Gebiet: teilweise eingestürzte Kais, zerstörte Kräne, bombardierte Lagerhallen. Im Hafen jedoch lagen U-Boote. Weiter nach Süden hin Wiesen, aufgespültes Land und mit Heidekraut bewachsene Sandlächen, die zum größtenteils zerstörten Flugplatz Waalhaven gehörten. Bei einem alliierten Angrif würde dieser Flugplatz zweifellos wieder eine Schlüsselrolle spielen, wie schon zu Beginn des Krieges. Während seiner ersten Wochen in Südholland hatte Ernst Minen legen müssen.
Von einer drohenden Landung wollte Sandrien nichts hören. Alles, was mit dem Krieg zusammenhing, mit der Besetzung, der Wehrmacht, mit Disziplin, Zucht und Ordnung, verdarb ihr die Laune. Das Einzige, was ihr am Krieg gefiel, war, dass nichts mehr geregelt und wie gewohnt ablief. Allein schon ein Wort wie »Ausnahmezustand« verschaffte ihr eine Art körperliches Wohlbehagen. Vom Herbst 1943 an hatte sie nicht mehr in die Schule gemusst, und im Sommer 1944 hatte sie ihre Arbeit als Haushaltshilfe aufgeben dürfen. Im Dorf konnte keiner der Honoratioren und kein Großbauer sich mehr Dienstboten leisten, und die Luftwaffe, die im Rhooner Schloss residierte, war mit sieben Frauen aus dem Dorf, die die Hemden der Oiziere wuschen und bügelten, ebenfalls schon versorgt. Seit Juli war sie frei. Den Krieg betrachtete sie als Ferienzeit, die, wie sie hoffte, nie enden würde.
Zu Hause musste sie tüchtig mit anpacken; wenn man zehn Geschwister hatte, ging es nicht anders. Gut, die Ältesten waren bereits aus dem Haus, Jacob, Aleida und Neeltje waren verheiratet, Martinus im Arbeitseinsatz in Deutschland, aber Neeltje hatte mit ihrem Mann das vordere Zimmer bezogen (sie schliefen im Alkoven unten), und es blieben noch fünf Jungen und Mädchen übrig. Tobias, der Jüngste, pinkelte noch ins Bett – eigenartig für einen Zwölfjährigen.
Gemeinsam mit Dien machte Sandrien die Betten und wusch die Bettwäsche und die Kleider im Bottich hinter dem Schuppen. Besser konnte sie es eigentlich nicht haben. Dien war nie herrisch, bat sie nur, ihr zur Hand zu gehen. Dazu war sie nur zu gern bereit, Dien steckte voller Geschichten, die immer erst herauskamen, wenn sie mit etwas beschäftigt war.
Ihre ältere Schwester war der Kompass, nach dem Sandrien sich richtete. Was Dien tat, wollte sie auch tun, ohne weiter darüber nachzudenken. Dien war mit ihren dreiundzwanzig Jahren erwachsen. Sie verkniff es sich jedoch, sich als Mutter aufzuspielen oder in alles einzumischen. Ihre breiten Schultern und großen Hände verliehen ihr etwas Männliches, doch wenn sie sich aufrichtete, streckte sie ihre Brüste vor und bewegte kokett die Schultern, als wolle sie ihre Weiblichkeit herausstreichen. Dien war ihre kesseste Schwester, eine Draufgängerin, der es egal war, was man sich im Dorf über sie erzählte oder zuflüsterte.
Ihre Mutter kannte sie weniger gut. Sie hatte alle Hände voll zu tun mit Geerten, der nicht ganz richtig im Kopf war, und mit Tobias, der immer schreckliche Angst hatte, niemand wusste so recht, wovor.
Waschen, bügeln, schrubben. Erst am späten Nachmittag konnte Sandrien sich ihrem zweiten Leben widmen, wenn sie sich mithilfe eines gesprungenen Taschenspiegels und einer Pinzette auf der Bettkante zurechtmachte. Ihre Augenbrauen tendierten dazu, zu schwer und zu breit zu werden, das war ein Problem, wenn man so viel dunkles Haar hatte. Mit der Pinzette zupfte sie die längsten Härchen heraus, diejenigen, die sich schon fast krümmten. Bei jedem sagte sie »Weg damit!«. Sie konnte sich eine Viertelstunde lang mit einem einzigen befassen; es war für sie auch eine Methode, zur Ruhe zu kommen. Auf Anraten von Dien dünnte sie ihre Brauen aber nicht zu stark aus; Matrosen mochten keine Bleistiftstriche. Bei den Haaren oben denken sie an die Haare unten, lernte sie von Dien. Ihre große Schwester hatte im Übrigen ebenfalls störrisches dunkles Haar.
Fürs Essen brauchten sie keine zehn Minuten. Nach der Mahlzeit las ihr Vater sicherlich zwanzig Minuten aus der Bibel vor. Er war ein sanftmütiger Mann, der ihr oder ihren Geschwistern eigentlich nie etwas verbot, nur in puncto Bibellesen war er streng. Keinen Tag oder Abend ließ er aus.
Wenn man ihm zuhörte, wuchs wirklich die Überzeugung, dass der Glaube Kraft schenkt. Er wurde dann zu einem wesentlich resoluteren Mann. In seiner Jugend war er grün und blau geschlagen worden, sein Vater hatte Genever gesoffen, als wäre es Wasser. »Ein Schuft von einem Kerl«, sagte er über ihn; aus diesem Grund hatte er sich vorgenommen, keinen Tropfen zu trinken und seinen eigenen Kindern niemals Steine in den Weg zu legen. Er sagte wenig mehr als »mm«, »wird schon so sein«, »ja, ist gut«; nur wenn er aus der Bibel vorlas, bekam er eine volle, kräftige Stimme. Sagte er »Satan«, so war es Satan, und man duckte sich. Seinen Stolz bezog er aus der Bibel und aus seinem Glauben. Das Wort »wir« benutzte er einzig und allein in Verbindung mit seinen Glaubensbrüdern von der erneuerten Kirche.
Ich erwähne den Glauben hier so ausdrücklich, weil die Erneuerten ebenso wie die Kommunisten über jeden Verdacht erhaben sind, wenn es um ihre Haltung gegenüber der Besatzungsmacht geht. Zacheus de Regt wollte von den Nazis nichts wissen, während des gesamten Frühjahrs 1940 las er Passagen über den Satan aus der Bibel vor, und seine Kinder verstanden sehr wohl, wen er damit meinte. Dennoch verbot er seiner Tochter Dien nicht den Umgang mit Unteroffizier Walter Loos und seiner Tochter Sandrien den mit Soldat Lange. Den Glauben ausgenommen, wollte er auf seine Kinder keinen Zwang ausüben. Vermutlich war er auch nicht heimlich prodeutsch: Sein ältester Sohn Jacob betätigte sich aktiv im Widerstand und verteilte illegale Zeitungen (vorausgesetzt, sie waren christlich geprägt), sein Sohn Martinus verfluchte die Zwangsarbeit in Deutschland und spuckte zwei Jahre lang Gift und Galle in seinen Briefen, und sein Sohn Chiel schloss sich 1944 der BS, den Inländischen Streitkräten, an, einer illegalen Widerstandsorganisation. Nicht, dass de Regt seine Söhne ermutigte, die Seite des Untergrunds zu wählen; eine solche Entscheidung, die Jacob oder Chiel das Leben kosten konnte, mussten die Jungen selbst trefen. Zach de Regt muss wirklich ein nachsichtiger Mann gewesen sein.
Oder wusste er nicht, dass zwei seiner Töchter eine Liebschaft mit Moffen hatten? Möglich wäre es: Sein jüngster Sohn Tobias wusste es auch sechzig Jahre nach dem Krieg noch nicht. Tobi hatte allerdings eine Vermutung, eine bange Vermutung, vielleicht der Grund dafür, dass er bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr ins Bett pinkelte. 1944 jedenfalls hielt er die Augen offen, lauschte mit der Gier seiner zwölf Jahre, hoffte, schlauer zu werden. Dennoch bekam er nach seinen eigenen Worten nichts von Diens und Sandriens Verhalten mit, weder zu Hause noch im Dorf. Bei Vater Zacheus war es möglicherweise auch so. Die körperliche Arbeit – er war Gärtner – erschöpfte ihn, wenn er nach Hause kam, musste er seinen eigenen Gemüsegarten auch noch bearbeiten und in dem Verschlag hinter dem Schuppen sein Schwein versorgen. Tat er das nicht, dann litten seine Kinder Hunger. Zach de Regt hatte keine Zeit für Tuscheleien auf dem Deich.
Möglicherweise war er auch der Typ, der den Kopf nach links wandte, wenn alle nach rechts schauten. Seine Töchter gingen fast jeden Abend aus und kamen erst weit nach Beginn der Ausgangssperre nach Hause. Das ging nur, wenn sie sich in Begleitung deutscher Wehrmachtsangehöriger befanden. Wenn er es also nicht wusste, dann weil er es nicht wissen wollte. Manche Menschen blenden die Realität aus, wenn es um ihre Kinder geht.