Paradigmenwechsel

Leseprobe "Eng damit verbunden sind die Wirtschaftstotalitaristen, die den gewählten Politikern die Macht der Zukunfts- und Weltgestaltung weitgehend entrissen und an den 'Markt' delegiert haben."
Paradigmenwechsel

Foto: Simon Hofmann/Getty Images

Vorwort – Die fahlen Rosse der Apokalypse

Ein sehr alter italienischer Nobelpreisträger hat vor einiger Zeit gesagt: »Im Laufe meines Lebens hat sich die Zahl der Menschen vervierfacht und ihr Energieverbrauch versechzehnfacht. Nach allen möglichen Formen der Prognose bedeutet das: Ja, es geht zu Ende.« Ist das Alterspessimismus?

Meine 21 und 24 Jahre jungen Kinder glauben, dass die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart. Sie haben vor ein paar Jahren mal beiläufig ihre Erwartung erwähnt, eines Tages mit dem Auto gefahrlos ums ganze Mittelmeer herumzufahren und dabei durch eine einzige zusammenhängende Zone des Wohlstands, des Friedens und der Freiheit zu kommen, in der Menschen unterschiedlichster Kulturen freundlich miteinander leben und arbeiten.

Aber Jean-Claude Juncker hat schon im März 2013, als er noch Luxemburgs Premierminister war, vor etwas gewarnt, wovon wir in Europa eigentlich gedacht hatten, es für immer überwunden zu haben: Krieg. »Wer glaubt, dass sich die ewige Frage von Krieg und Frieden in Europa nie mehr stellt, könnte sich gewaltig irren. Die Dämonen sind nicht weg, sie schlafen nur.« Er sehe auffällige Parallelen zum Jahr 1913, als viele dachten, es werde in Europa nie mehr Krieg geben. Erste Anzeichen für das Unvorstellbare meinte Juncker in Griechenland und Italien zu entdecken: »Plötzlich kamen Ressentiments hoch, von denen man dachte, sie seien definitiv abgelegt.«

Die Eurokrise brachte uns den Nationalismus zurück. Damals fragte ich mich noch, ob Juncker vielleicht auch so ein Alterspessimist wie ich sei. Aber als er im Dezember 2014 seinen sechzigsten Geburtstag feierte, musste ich zugeben: Hast recht gehabt, alter Mann. Zwischen jenem März 2013 und dem Dezember 2014 war viel passiert. Russlands Präsident Wladimir Putin annektierte die bis dato zur Ukraine gehörende Krim. An der Grenze zur Ukraine ließ er seine Truppen aufmarschieren. Dort wird geschossen, gemordet, vertrieben. Ein Vierteljahrhundert lang wähnten wir uns in dem Glauben, der Kalte Krieg sei Geschichte. Nun ist er zurück. Juncker hatte recht. Die Dämonen waren nie weg, sondern schliefen nur. Neue Dämonen kamen hinzu.

Einer von ihnen zeigte sein hässliches Gesicht auf einem Foto, das 2013 um die Welt ging. Man sah darauf zwei Schwarze blutverschmiert auf einer Londoner Straße, Messer und Fleischerbeil noch in der Hand, sich des eben begangenen Mordes am weißen Soldaten Lee Rigby rühmen. Beide Täter sind Kinder nigerianischer Einwanderer, wurden in Großbritannien geboren, wuchsen als Christen auf, konvertierten zum Islam und wurden von Hasspredigern radikalisiert. Sie wollten den gewaltsamen Tod von Muslimen in aller Welt rächen. Danach lieferten sich Rechtsextremisten Straßenschlachten mit der Polizei. Frauen wurden die Schleier weggerissen, Männer verprügelt, Moscheen beschmiert, vor einer Moschee wurde ein Schweinekopf abgelegt.

Noch weit schlimmere Schreckensbilder lieferte uns das Jahr 2014. Britische Staatsbürger im Gewand von Dschihadisten des »Islamischen Staates« enthaupteten öffentlich westliche Bürger, Journalisten und entführte Geiseln. Das Kürzel IS hatten wir 2013 überhaupt nicht auf dem Schirm, aber 2014 dominierten die mordenden, raubenden, brandschatzenden, vergewaltigenden Truppen des IS die Nachrichten. Während ich dies schreibe, breiten sie sich immer weiter aus im gesamten Nahen Osten, sind nur noch zwei Autostunden von Beirut entfernt, wo meine Tochter Arabistik studiert. Ich sehne den Tag herbei, an dem sie wieder in Deutschland ist.

Noch ein Jahr vor der Hinrichtung des weißen Soldaten Lee Rigby in England war von dort ein ganz anderes Bild mit einer ganz anderen Botschaft um die Welt gegangen. Es zeigte einen rothaarigen Weitspringer, eine Siebenkämpferin mit jamaikanischen Eltern und einen Langstreckenläufer, der aus Somalia eingewandert ist. Alle drei hatten während der Olympischen Spiele 2012 in London für die Briten Gold gewonnen. Die drei britischen Sportler auf dem Siegertreppchen, so schrieben die Zeitungen damals, seien ein Symbol für die Integrationskraft des Landes.

Irgendwo zwischen diesen beiden Bildern aus England – die so ähnlich auch aus Deutschland oder Frankreich hätten kommen können – liegt die Zukunft Europas. In welche Richtung sich unsere multikulturellen, multiethnischen, multireligiösen Gesellschaften bewegen werden, ist derzeit völlig ungewiss. Es gibt Kräfte und Entwicklungen, die Europa in Richtung Siegertreppchen und Mittelmeerumfahrungsprojekt ziehen. Die Chance, die Dämonen doch noch zu vertreiben, ja sie sogar einmal endgültig zu besiegen, ist noch immer gegeben. Aber gegenwärtig scheint die Zeit dagegen zu arbeiten.

Die positiven Kräfte wirken schwach im Vergleich mit denen, die in Richtung Krieg und Fleischerbeil marschieren. Der neu-alte Kalte Krieg, die Religions- und Multikulti-Konflikte, dazu die Drift zwischen Arm und Reich – das ist leider noch nicht alles. Ganz neue, noch nicht gekannte Dämonen, die auf den harmlos klingenden Namen Big Data hören, bergen ein vielfältiges Katastrophenpotential in sich. Unternehmen wie Amazon, Apple, Facebook, Google, Twitter und Geheimdienste wie die NSA scheinen auf eine Verschmelzung von George Orwells Big-Brother-Überwachungswelt mit der »schönen neuen Welt« des Aldous Huxley zuzusteuern.

Eng mit diesen Dämonen verbunden sind die Wirtschaftstotalitaristen, die den demokratisch gewählten Politikern die Macht der Zukunfts- und Weltgestaltung weitgehend entrissen und an den »Markt« delegiert haben. Nur Minderheiten wehren sich bisher gegen diese Anschläge auf unsere Verfassung, und die teilentmachteten Politiker halten still. In ganz Europa sehe ich nicht einen einzigen Politiker, der eine Vorstellung davon hat, wie wir unsere Werte, Grundrechte und die demokratische Ordnung unter den Bedingungen einer globalisierten Welt erhalten können.

Sie denken vermutlich noch nicht einmal darüber nach, weil die Verwaltung des Mangels, die zahlreichen Krisenherde und die Bewältigung der seit 2008 schwelenden Finanz-, Euro- und Schuldenkrise ihre ganze Kraft beanspruchen. Sie sind offensichtlich nicht mehr in der Lage, die EU zu einer sicheren, stabilen Demokratie fortzuentwickeln. Im Jahr 2016 werde ich 65 Jahre alt sein, und wenn ich dann auf diese sechseinhalb Jahrzehnte zurückblicke, werde ich sagen können, nie etwas anderes kennengelernt zu haben als Frieden und Freiheit bei wachsendem Wohlstand.

Aber mit zunehmender Unruhe frage ich mich: Wird es möglich sein, diese nun schon fast siebzig Jahre währende Periode des Friedens und der Freiheit um weitere sieben Jahrzehnte zu verlängern? Wie dankbar und froh wäre ich, wenn meine Kinder in fünfzig Jahren im Rückblick auf ihr Leben dasselbe sagen könnten wie ich heute. Das wären dann 140 Jahre ohne Krieg, ohne Not und ohne Unterdrückung in Europa. Spricht nicht alle geschichtliche Erfahrung dagegen? Hat es so etwas jemals in der Geschichte gegeben, 140 Jahre Frieden, Freiheit, Wohlstand für alle? Ist man wirklich ein Pessimist, wenn man solch eine Erwartung für utopisch hält?

Mit meiner Befürchtung einer schlechteren Zukunft für unsere Kinder bin ich nicht allein. Viele aus meiner Generation und auch Jüngere beschleicht seit Jahren das Gefühl, den Jungen bald mal sagen zu müssen: Sorry, dass wir eure Ressourcen geschrumpft und das Klima gekillt haben. Vielleicht werdet ihr einmal Kriege ums Wasser, ums Öl und die zur Neige gehenden Ressourcen erleben. Gewaltige Flüchtlingsströme würden zu euch kommen. Das täte uns leid. Wie es uns auch leidtut, euch ein Land übergeben zu müssen, das im Grunde nicht mehr euch gehört, sondern unkontrollierbaren, anonymen Mächten und den sogenannten Finanzmärkten, die mehr Einfluss auf eure Zukunft haben als ihr selbst.

Die Litanei lässt sich beliebig fortsetzen: Sorry, dass ihr unsere Schulden abbezahlen müsst. Sorry, dass ihr wenigen für so viele Rentner aufkommen müsst, die immer länger leben, zuletzt noch dement werden und eurer Pflege und Fürsorge bedürfen, während euch kaum noch etwas bleibt, um für euer eigenes Alter vorzusorgen. Sorry, dass es uns zu anstrengend erschien, mehr Kinder zu haben. Sorry, dass wir kaum einen Krisenherd entschärft und das Entstehen neuer Herde nicht verhindert haben. Sorry, dass wir euch in ein Bildungssystem stecken, das euch nicht mehr zu mündigen Bürgern und charakterstarken Persönlichkeiten bilden, sondern zu Soldaten ausbilden will, die im globalen Krieg um Marktanteile zuverlässig funktionieren. Sorry für die vielen prekären Jobs, die wir euch zumuten. Sorry für unsere widerstandslose Hinnahme der Herrschaft von Amazon, Apple, Facebook, Google und der NSA. Sorry für die Überführung unserer westlichen Wertegemeinschaft in eine westliche Wertpapiergesellschaft. Sorry...

[...]

26.03.2015, 10:31

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