Theorie und Praxis

Leseprobe "Über all den Diskussionen um schnellere Abschiebungen und Grenzschließungen haben wir vergessen, dass hinter dem Sammelbegriff 'Flüchtling' Menschen stehen."
Theorie und Praxis

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Vorwort

»Wovor habt ihr Angst?« – ich stehe auf einer Straßenkreuzung in München und schreie ins Telefon. Es ist Anfang Dezember 2014. In Zügen aus Italien versuchen Hunderte Flüchtlinge die deutsch-österreichische Grenze zu überqueren. Vor wenigen Tagen war ich nach Mailand gereist, damals ein Hot Spot. Im Bahnhof drängten sich junge Männer aus Syrien vor Fahrkartenautomaten. Kinder spielten auf dem Boden. Gemeinsam mit einem Fotografen wollte ich Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Deutschland begleiten. Was wir denn bräuchten, fragte uns ganz nüchtern einer der Helfer. »Jemanden, der Englisch spricht und heute oder morgen loswill«, sagte ich. Daraufhin verschwand der Helfer, nach fünf Minuten kehrte er mit zwei jungen Männern zurück, Mohanad und Yousef.

Es war vor allem Mohanad, der redete. Sein älterer Bruder sprach schlecht Englisch und wirkte misstrauisch. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Wir fuhren mit dem Zug von Mailand nach Verona. Von dort ging es weiter nach München. Schon bald kannte ich die Träume der Brüder. Ihre Ängste. Ihre Verzweiflung. Als die Polizei noch in Italien in den Zug stieg, packte Mohanad meinen Arm. Panisch stellt er mir immer wieder dieselbe Frage, wie weit es noch bis zur Grenze sei. Kurz vor der deutsch-österreichischen Grenze wurden sie aus dem Zug geholt. Mit der rosafarbenen Tasche, in der der syrische Honig in Klamotten vergraben war. Ihr Mittel gegen größten Hunger und Heimweh. Zum Abschied umarmten wir uns.

Zurück in München wusste ich noch nicht, dass es Mohanad und Yousef trotz der Grenzkontrolle nach Deutschland geschafft hatten. Meine Facebooknachrichten blieben zunächst unbeantwortet. Ich machte mir Sorgen, wollte die Geschichte der beiden Brüder teilen – und rief meine Mutter an. Sie sagte nur: »Ich war gerade bei der Steffi zum Kekse backen. Sie hat erzählt, dass jetzt ein Flüchtlingsheim in ihrer Nachbarschaft gebaut wird. Sie macht sich Sorg . . .« Ich ließ sie nicht ausreden, unterbrach sie, wurde laut. »Schrei mich nicht an«, sagte meine Mutter.

Nichts wurde in der jüngsten Vergangenheit so emotional diskutiert wie der richtige Umgang mit Flüchtlingen. Das Thema hat Deutschland in zwei Lager gespalten, die Grenze verlief auch zwischen meiner Mutter und mir.

Meine Eltern kommen aus einem Dorf nahe der Sächsischen Schweiz. Hier lebten bis vor Kurzem nur wenige Menschen mit Migrationshintergrund – dafür gab und gibt es eine gut vernetzte rechtsextreme Szene. Ich bin in Heidenau zur Schule gegangen. Dort stand ich im Sommer 2015 einem aufgebrachten Mob gegenüber, aufgestachelt durch Rechtsextreme. Meine Mutter gehörte nicht dazu – dennoch hörte ich jetzt auch von ihr Geschichten wie diese: Busfahrer in Altenberg hätten Angst zu arbeiten, weil sie angeblich von Asylbewerbern bedroht würden. Meine Mutter hatte das in ihrem Laden von einer Kundin gehört. Dann wurde im Laden nebenan geklaut. Die Diebe kamen aus einem Flüchtlingsheim. »Ich verstehe das nicht. Die tun doch anderen Asylbewerbern keinen Gefallen, das wirft doch ein schlechtes Licht auf die«, sagte meine Mutter. Ich versuchte ihr zu erklären, dass es genau wie bei Deutschen auch schwarze Schafe unter Asylbewerbern gebe. Das sei aber noch längst kein Grund zu verallgemeinern.

Unsere Auseinandersetzungen waren erbittert und laut. Wir argumentierten von völlig unterschiedlichen Standpunkten aus. Meine Mutter stellte sich durchaus berechtigte Fragen, gleichzeitig hatte sie noch nie einen Flüchtling getroffen. Ich dagegen dachte immerzu an Mohanad und Yousef. Für mich waren Flüchtlinge Teil der Realität, für meine Mutter etwas Fremdes.

Die Begegnung mit den Brüdern war Zufall gewesen – mit weitreichenden Folgen für uns drei. Wir kennen uns mittlerweile seit über einem Jahr. Ich habe sie mehrmals in ihrer neuen Heimat Oelde, nahe Münster, besucht. Die beiden sind wie Brüder für mich. Worüber wir nicht alles schon geredet, aber auch diskutiert haben: ihre Familie, die politische Lage in Syrien und Deutschland, über Frauen und den Islam. Staunend sehe ich, wie schnell sich die beiden weiterentwickeln.

Natürlich ist es naiv, zu glauben, alle Flüchtlinge seien so wie Yousef oder Mohanad. Dennoch ist es wichtig, ihre Geschichte zu erzählen. Gerade jetzt. Über all den Diskussionen um schnellere Abschiebungen und Grenzschließungen haben wir vergessen, dass hinter dem Sammelbegriff »Flüchtling« Menschen stehen. Menschen wie Mohanad und Yousef. Sie haben Wünsche und Hoffnungen. Was macht Deutschland mit ihnen – und was machen sie mit Deutschland? Das erzählen die Brüder am besten selbst.

12.05.2016, 14:21

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