Endziel und Bewegung
Ein beinahe unentrinnbares Schicksal für Bernstein scheint es zu sein, oft auf einen halben Satz reduziert zu werden – die berühmte Passage, laut der ihm »das, was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt … nichts, die Bewegung alles« sei. Die »Endziel«-Formulierung bedauerte er später: wegen ihrer durch Fehlinterpretation verheerenden Wirkung, nicht wegen ihres Inhaltes. »Eine Bewegung ohne Ziel wäre ein chaotisches Treiben, denn sie wäre auch eine Bewegung ohne Richtung«, schrieb er rückblickend. Auch in seinem zentralen Werk – »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« von 1899 – versuchte er sich an einer Erklärung: Die Arbeiterbewegung habe »keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluss einzuführen«, zitiert er aus Karl Marx’ »Der Bürgerkrieg in Frankreich« von 1871. »Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoße der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.« Im »Grundgedanken war es dieser Ausspruch«, so Bernstein weiter, »an den ich bei Niederschrift des Satzes vom Endziel dachte.« Er hätte auch an Friedrich Engels denken können, der 1893 der Zeitung Le Figaro auf die Frage, »und was ist Ihr, der deutschen Sozialisten, Endziel?« geantwortet hatte: »Aber wir haben kein Endziel. Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren. Vorgefasste Meinungen in Bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im Einzelnen? Davon werden Sie bei uns keine Spur finden.«
Es ging Bernstein bei jener Aussage keineswegs um bloße Mahnung gegen Utopisterei und radikale Rhetorik, nicht nur um die Warnung, sich nicht auf vorgefertigte Pläne für die Transformation der kapitalistischen Gesellschaft zu verlassen. Die »Endziel«-Frage betraf für ihn ganz grundsätzlich die der sozialistischen Strategie. Bei Marx konnte man keine eindeutige Empfehlung für politische Schlussfolgerungen aus seiner Kritik der Verhältnisse finden, weil er diesen Fragen, wie Thomas Meyer betont, »im engeren Sinne teils offengelassen und teils nur peripher in wechselnden Kontexten behandelt hatte«.
In der Sozialdemokratie der 1890er-Jahre war so einerseits ein deterministisches Geschichtsbild prägend, ein Parteimarxismus, mit dem man das Warten auf eine Revolution ebenso begründen wie hinter dem Rücken einer in Alltag und Organisationsseele wirkenden Heilserwartung eine nur-reformistische Politik verfolgen konnte, die sich für eine weitergehende Transformation der Verhältnisse gar nicht mehr interessierte. Das war der Ausgangspunkt für Bernstein: Er lehnte beides ab, er befand Theorie und Praxis nicht mehr in Übereinstimmung. In einer Kritik an den englischen Fabiern formulierte er einmal, »es wurde mehr über Bord geworfen, als bloßer Phrasenballast. Der Sozialismus wurde auf eine Reihe sozialpolitischer Maßregeln reduziert, ohne jedes verbindende, Einheitlichkeit des Grundgedankens und der Aktion ausdrückende Element.« Damit hätten die englischen »Gelegenheitssozialisten« zwar manches erreicht, aber eben auch »der sozialistischen Bewegung den Kompass vorenthalten, der sie von dem bloß tastenden Umhertreiben zu bewahren hat.«
Ist das der »kleinbürgerlich-demokratischer Fortschrittler«, als den Rosa Luxemburgs Polemik Bernstein sehen wollte? Und wer muss da nicht an heutige linke Parteien denken? Parteien, deren sozialpolitische und sonstige Forderungen für sich genommen zwar sinnvoll sein mögen, die aber nicht durch ein übergeordnetes strategisches Band zusammengehalten und in die Zukunft gezogen werden. Linke Politik in der sozialdemokratischen Matrix, zu der mehr Organisationen gehören als die SPD, sind oftmals Abwehrmaßnahmen, korrigieren Fehlentwicklungen, stopfen Gerechtigkeitslücken; aber es sind Einzeltöne, sie bilden keine Symphonie gesellschaftlicher Gestaltung mehr. Sogar das Denken in solchen Kategorien der wirklichen Veränderung findet man heute eher selten. Politik wird entweder als Erfüllung eines Lieferversprechens betrachtet, die Bürger als Kunden, bei denen es darauf ankommt, dass die einzelnen »Päckchen« den Adressaten erfreuen (auf dass er sich mit einer Wählerstimme revanchiert). Beim Ausschlag des Pendels auf die andere Seite versteckt linke Politik – ob nun in Parteien oder in Bewegungen – eigene Schwäche, geringe Zustimmung und mangelnde Strategie gern hinter lauter Rhetorik. Wo die einen auf der Begriffsebene das Sozialistische scheu umschleichen, sprechen andere umso kämpferischer vom Antikapitalismus. Die einen, um es mit Bernstein zu sagen, haben zu viel vom utopischen Überschuss über Bord geworfen, die anderen ruhen sich auf »Phrasenballast« aus.
Konstruktiver Sozialismus
Thomas Meyer hat vor nunmehr schon über 35 Jahren vorgeschlagen, Bernsteins Schriften unter der Maßgabe zu lesen, dass hier ein neuer »Theorietyp des Sozialismus« präsentiert wird, »der als Handlungsanleitung für eine sozialistische Transformation komplexer Industriegesellschaften dienen« könne. Diese Innovation hatte drei Denkvoraussetzungen, die man danach prüfen könnte, ob sie weiterhin aktuell sind: Von einem plötzlichen oder baldigen Zusammenbruch der kapitalistischen Ökonomie als Türöffner in eine alternative Ordnung kann, erstens, realistischerweise nicht ausgegangen werden. Entsprechende Vorhersagen haben sich in der Vergangenheit blamiert, die Fähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise zur Anpassung und Weiterentwicklung gerade in und durch Krisen wurde immer wieder unterschätzt. Alle auf einen großen Kladderadatsch setzenden Hoffnungen haben schwerwiegende politische und strategische Folgen, weil deterministische Voraussagen zu falschen Heilserwartungen führen und so die Diskussion über Fragen des Übergangs, der realen Veränderung, der dafür sinnvollen Kooperation, Taktik, Organisation und so weiter wie überflüssig haben erscheinen lassen.
Ein zweiter Pfeiler von Bernsteins Denken lässt sich – mit Meyer gesprochen – als handlungsleitende Erkenntnis darüber bezeichnen, dass aus einer immer komplexer werdenden ökonomischen und gesellschaftlichen Realität des modernen Kapitalismus eine sozialistische Alternative »nicht durch einen aktivistischen Sprung erreicht werden« kann, was unmittelbare Konsequenzen für die politischen Wege dorthin hat. Hieraus resultiert die hohe Bedeutung, die Bernstein den demokratiepolitischen Fortschritten beimisst, die zumeist Erfolge der Arbeiterbewegung sind: Es braucht allgemein akzeptierte, rechtsstaatlich abgesicherte und in einer für alle gleichermaßen zugänglichen Öffentlichkeit immer wieder neu diskutierte Verfahren, mit denen die Suche nach möglichen Wegen sozialistischer Veränderung gesellschaftlich organisiert werden kann. Die entscheidende dritte Voraussetzung von Bernsteins Denkungsart besteht darin anzuerkennen, dass Sozialismus auf eine Weise verwirklicht werden muss, die dem Selbstbestimmungsanspruch der unmittelbaren Produzenten, »des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters«, der in ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen stehenden Bürger »durch Erweiterung ihrer Teilhabemöglichkeiten und Eröffnung praktischer Erfahrungsprozesse gerecht wird«. Umfassende Demokratisierung ist der Kern eines solchen Veränderungsprozesses, in dem nicht bloß Strukturen, Machtverhältnisse und Naturaneignung im weitesten Sinne transformiert werden, sondern sich auch die Menschen selbst ändern wollen. Das ist weit entfernt von politischen Anmaßungen linker Geschichte, einen »neuen Menschen« aus dem Nichts per autoritärer Anordnung zu schaffen oder auf einen materialistisch verkleideten Aberglauben zu setzen, laut dem vom Sein zum Bewusstsein ein kurzer, glühender Draht gespannt ist und sich alle Fragen mit den ersten Enteignungen zum Beispiel von Wohnungskonzernen wie von selbst lösen werden.
Bernstein ist immer wieder vorgeworfen worden, sein Pochen auf (die bürgerliche) Demokratie vernachlässige den Klassencharakter des bürgerlichen Staates und die kapitalistische Funktion eines Parlamentarismus, der selbst bei bestem Wollen dem Primat der Ökonomie, den Lobbyisten, dem stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse nicht gewachsen sei. Dass er in seiner Zeit, also um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Elemente einer Theorie sozialistischer Veränderung vorschlug, denen die damaligen Umstände tatsächlich entgegenstanden, ist richtig. Dem »konstruktiven Sozialismus« von Bernstein, bei dem demokratischer Reformismus die praktische Methode bildete, aber umfassende gesellschaftliche Veränderung das Ziel blieb, fehlten im kaiserlichen Obrigkeitsstaat die Voraussetzungen zu seiner Realisierung. Hinzu kam der Entwicklungsstand der Sozialdemokratie selbst, die damalige Herausforderungen teils nicht verstanden hat, etwa was den wachsenden Differenzierungsprozess innerhalb der Klasse angeht. Auch sind die damit einhergehenden kulturellen, politischen Entwicklungen unterschätzt worden. Die Idee eines sich aufgrund ökonomischer Gesetze mehr und mehr homogenisierenden Proletariats, ein Selbstbild also, das Identifikation und Bindungskraft entfaltete aber zugleich auch einen andere soziale Milieus, Lebenserfahrungen, Bedürfnisse ausschließenden Charakter erhielt, blockierte die Suche nach längerfristig wachsenden Mehrheiten für einen Weg sozialistischer Veränderung.
So gesehen war Bernsteins »Revisionismus« illusionär für die Zeit, in der er die entsprechenden Überlegungen vorstellte. Das heißt aber nicht notwendig, dass diese Ideen auch heute als illusionär gelten müssen. Man könnte Bernstein vielmehr für »verfrüht« halten – weder die politische und gewerkschaftliche Linke noch die sozialdemokratische Diskussion waren schon »so weit«. Die Umstände führten dazu, dass man sich Bernsteins Vorschläge per Parteitagsbeschluss entledigte. Später behauptete die Sozialdemokratie ganz gern einmal, sie würde in Wahrheit ja längst dem Kurs Bernsteins folgen. Die auf revolutionäre Paradigmen des Wandels setzenden Sozialisten behaupteten über die SPD dasselbe und tun es hier und da bis heute – gern unter Berufung auf Rosa Luxemburg, die zu einer der wichtigsten Quellen der Bernstein-Kritik avancierte.