Dies ist ein Roman, der ohne die Wirklichkeit nicht hätte geschrieben werden können. Aber es ist ein Roman.
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»Vielleicht waren alle Fotos von der Wirklichkeit nicht in Ordnung, falsch, alle Sätze über die Wirklichkeit falsch, mit dem falschen Auge, das die Bilder aufnahm, mit den bösen verdrehten Beschreibungswörtern, die etwas herstellten und nebenbei andeuteten, ob und wie noch Geschäfte damit zu machen seien.«
Nicolas Born
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dpa – Basisdienst, Hamburg
Kriminalität/Geiselnahme
Bankräuber nahmen zwei Angestellte als Geiseln
Gladbeck (dpa) – Bei einem Überfall auf eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck haben am Dienstagmorgen zwei maskierte und bewaffnete Räuber zwei Bankangestellte als Geiseln genommen und sich im Gebäude verschanzt. Rund zwei Stunden nach dem Überfall konkretisierten sie ihre Forderung und verlangten die Bereitstellung eines schnellen Wagens und 300 000 Mark Bargeld.
I
Dienstag, 16. August 1988
»Halt dich fest!«, rief Rösner, legte den ersten Gang ein, gab Gas und ließ die Kupplung kommen. Der Motor heulte auf, und die Maschine, eine hellblaue Honda CX 500, deren Lenkradschloss er mit einem kräftigen Ruck problemlos geknackt hatte, schoss über den Bordstein. Im selben Moment spürte er den Druck von Degowskis Händen an seinem Bauch. Der Fahrtwind blies ihm ins Gesicht und wirbelte seine strähnigen braunen Haare hinauf in die hohe Stirn. Er spürte den Widerstand der Luft an seiner Brust. Ähnlich wie damals, wenn er sich als Junge im Hallenbad an der Bottroper Straße ins Wasser gestürzt hatte und das Element gegen seinen beherzt nach vorn drängenden Körper geprallt war.
»Jaaaaaahh!«, brüllte er in den Fahrtwind und steigerte die Geschwindigkeit, berauscht von der Kraft der Maschine, die ihn wie auf einer reißenden Welle dahintrug. Er nahm die langgezogene Kurve der Sandstraße und lehnte sich hinein. Plötzlich ging ein unerklärlicher Ruck durch das Hinterrad, weil Degowski, statt sich hineinzulegen, sich aus der Kurve gestemmt hatte und die Maschine nach rechts ausbrach. Es war, als würde ihnen der Boden unter den Rädern weggezogen: ein Aufprall, ein jäher Schlag gegen die Schulter und das hässliche Geräusch von über Stein kratzendem Metall. »Scheiße!«, schrie Rösner. Die Honda blieb liegen und ging aus. Degowski brach in schallendes Gelächter aus. »Du Arsch!«, rief Rösner, am Boden liegend. »Zu blöd, um Moped zu fahren, was?« Degowski erhob sich langsam, sah zu Rösner und stammelte: »Ich dachte, also ich … äh, ich wollte …« »Arsch!«, rief Rösner noch einmal und sah, dass er sich beim Sturz auf den Asphalt am Ellbogen verletzt hatte. »Wenn du schon mal denkst!« Durch den Riss im dünnen Stoff schimmerte blutiges Fleisch.
»Los komm, weiter!«, rief Degowski und grinste. Dann zog er den mattschwarzen Trommelrevolver aus seiner Lederjacke, reckte ihn triumphierend in die Höhe und grölte: »Money, Money, Money!« Als sie am Einkaufszentrum in der Schwechater Straße ankamen und mit gezückten Waffen das Bankgebäude betraten, lief in dem kleinen Transistorradio, das Reinhard Allbeck jeden Morgen als Erstes andrehte, der Werbeblock auf WDR 2. Es war 7 Uhr 56. Andrea Branske hatte eben die Eingangstür aufgeschlossen. Die umstehenden Bäume mit ihrem dichten Blattwerk filterten das Licht, das grünlich in den Schalterraum fiel.
»Überfall, Hände hoch!«, rief Rösner und ging auf die holzverkleideten Schalter zu. Während er seine Waffe auf den Mann hinter dem Schalter gerichtet hielt, der ihn erstaunt ansah, musste er daran denken, was sein Vater gebrüllt hatte, als er ihn mal wieder mit dem Gummischlauch verprügelte, weil er wie so oft beim Klauen erwischt worden war. »Verfluchter Verbrecher, wärste mal lieber verreckt bei der Geburt!« Ein Grinsen zog über Rösners bärtiges Gesicht. »Du da, da rüber!«, rief Degowski der Frau zu, die reglos neben ihrem Kollegen stand. Zu diesem Zeitpunkt, kurz vor acht, befanden sich nur die zwei Angestellten in der Bank. Was sie wollten, war Geld. Schnelles Geld. Rein, raus und weg. Und keine langen Geschichten.
»Das Geld her, na los! Mach schon! Oder biste total bestusst?«, rief Degowski, dem alles nicht schnell genug ging. Mit dem Revolver in der ausgestreckten, leicht zitternden Hand trat er auf die noch immer reglose Andrea Branske zu. Er war nervös und sah, dass sie sah, dass er zitterte. »Mach, was mein Kumpel hier sagt!«, rief Rösner und sah sich nach allen Seiten um. »Der ist nämlich brandgefährlich und schießt, wenn’s ihm zu bunt wird!« »Tun Sie, was er sagt!« Reinhard Allbeck bekräftigte seine Worte mit einem Nicken. Andrea Branske setzte sich in Bewegung. »Und du kommst hier rüber!«, rief Rösner, der ihre Angst förmlich zu riechen glaubte. Dabei fuchtelte er mit dem Revolver. Ohne zu zögern, ging Allbeck um den Schalter herum. »Auf den Boden da, na los!« Während Reinhard Allbeck sich mit dem Gesicht nach unten vor ihm auf den Boden legte, blickte Rösner sich wieder nach allen Seiten um.
Und da sah er ihn: einen Streifenwagen, der draußen im Schritttempo vorbeifuhr. (Der Arzt, der über der Bank seine Praxis hatte, hatte die beiden dabei beobachtet, wie sie mit vorgehaltenen Waffen in die Bank liefen, und die Notrufnummer gewählt.) »Scheiße, die Bullen!«, rief er. Der Druck in seinen Schläfen schien das Fleisch von innen gegen die Haut zu pressen. Rösner trat an die Panoramascheibe und zog den Sichtschutz einen Spaltbreit beiseite. Langsam rollte der Streifenwagen aus dem Bild. Das Adrenalin, das der Anblick des grün-weiß lackierten Fahrzeugs in ihm freigesetzt hatte, raste in Millisekunden durch die labyrinthischen Windungen seines Innern und krachte wie eine abgeschossene Flipperkugel, die über Rollovers und durch In- und Out-Lanes jagte, so lange ruhelos und mit einer solchen Heftigkeit wieder und wieder gegen seine körpereigenen Bumper und Zielscheiben, dass er, der in Tausenden von Spielstunden gestählte Flipperkönig von Gladbeck-Ellinghorst, einen Moment lang glaubte, einen Tilt verursachen und aufstecken zu müssen, um nicht komplett zu überdrehen.
Im selben Moment sprang Degowski mit einem Satz über den Schalter und stieß Andrea Branske, die das Kassenhäuschen aufschloss, den Revolver an den Kopf. »Alles nur wegen dir, du bestusste Kuh!«, schrie er. Und da hatte Rösner sich auch schon wieder gefangen. Mit schnellen Schritten war er bei dem reglos auf dem Boden verharrenden Reinhard Allbeck und hielt ihm seine Waffe an den Kopf: »Los, aufstehen, aber schnell! Und dann da rüber zu meinem Kumpel!« Er spürte die Müdigkeit kommen. In dünnen, schweren Schleiern legte sie sich über ihn. Er hatte in der Nacht kaum ein Auge zugemacht. Sie würden hier rauskommen, mit oder ohne Gewalt. Und mit der Kohle. Dessen war er sich ganz sicher. Notfalls mit Hilfe von Geiseln.
***
Wie immer war er der Erste. Er machte im Newsroom, wie sie das Großraumbüro nannten, das Licht an. Flackernd rissen die Neonleuchten die Schreibtische aus dem Halbdunkel. Dann schaltete er die an der Wand hängenden Bildschirme ein und ging in sein Büro am Ende des Raums, einen acht Quadratmeter großen Glaskasten. Er knipste die Schreibtischlampe an und warf seine Aktentasche auf den lederbezogenen Zweisitzer, auf dem er schlief, wenn es spät wurde und er keine Lust mehr verspürte, nach Hause zu gehen. Er stellte die mitgebrachte Thermoskanne (die amerikanische Art) auf seinen Tisch, schaltete den Fernseher an und schaute kurz bei CNN und BBC rein. Nach der ersten Tasse Kaffee würde er die Telexe, die in der Nacht eingegangen waren, durchsehen. Wo blieb eigentlich die Botin mit den Tageszeitungen? Maibach spülte seinen Kaffeebecher in der kleinen Redaktionsküche aus und ging zurück in sein Büro. Er hatte sich gerade hingesetzt, da tauchte Kathrin Jürgens, seine Assistentin, auf. »Ruhig heute«, sagte sie. »Bis auf die Sache da in Gladbeck. Wollen hoffen, dass noch was passiert!«