Erster Teil
1
12. Juni 2016
Eine Entzugserscheinung konnte es nicht sein, er hatte genug getrunken.
Schoch versuchte, das Ding zu fokussieren, das tief hinten in der Unterspülung des Uferwegs stand, dort, wo die Höhlendecke auf den sandigen Boden traf.
Ein Kinderspielzeug. Ein Elefäntchen, rosarot, wie ein Marzipanschweinchen, aber intensiver. Und es leuchtete wie ein rosarotes Glühwürmchen.
Es kam vor, dass jemand seine Höhle entdeckte. Manchmal fand er Fixerbesteck oder Kondome oder Junkfood-Verpackungen. Aber Spuren von Kinderbesuchen hatte er bisher noch nie entdeckt.
Er schloss die Augen und versuchte, so etwas wie Schlaf zu finden.
Schoch hatte einen Drehrausch. So nannte er die Räusche, bei denen sich alles drehte, sobald er im Schlafsack lag. Er hatte in all den Jahren nicht herausgefunden, wann die Räusche zu Drehräuschen wurden. Manchmal war er sich sicher, dass es an der Menge lag, dann wieder neigte er dazu, die Ursache in der Mischung zu vermuten. Aber dann gab es Fälle wie diesen, wo er – soweit er sich erinnern konnte – weder mehr noch anders als am Vortag getrunken hatte und sich dennoch alles drehte.
Vielleicht spielte das Wetter eine Rolle. Auf dem Heimweg hatte der Föhn die dicken Wolken über den Fluss gejagt, und manchmal waren sie aufgerissen und hatten für einen Augenblick einen weißen vollen Mond enthüllt. Vollmond und Föhn, vielleicht war das die Erklärung für die Drehräusche. Wenigstens für ein paar davon.
Auch was mehr half, Augen auf oder zu, hatte er nie herausgefunden.
Er öffnete sie. Das Elefantenspielzeug war noch immer da. Aber es kam ihm vor, als stünde es etwas weiter rechts.
Er schloss die Augen wieder. Einen Moment lang drehte sich das Elefäntlein unter seinen Augenlidern und hinterließ einen rosa Schweif.
Sofort schlug er die Augen wieder auf.
Dort stand es, schlug mit den Ohren und hob den Rüssel zu einem S.
Schoch legte sich auf die andere Seite und versuchte, das Drehen zu stoppen.
Dabei schlief er ein.
2
13. Juni 2016
Schoch trank schon zu lange, um noch einen nennenswerten Kater zu haben. Aber auch zu lange, um sich noch an alle Einzelheiten des Vorabends zu erinnern. Er erwachte später als sonst, mit trockenem Mund, verklebten Augen und erhöhtem Puls, aber ohne Kopfschmerzen.
Die Zweige der Büsche vor dem Höhleneingang hüpften unter schweren Regentropfen, und dahinter konnte Schoch in der Morgendämmerung den grauen Regenvorhang ausmachen, dessen gleichmäßiges Rauschen hereindrang. Der Föhn hatte sich gelegt, und es war ungewöhnlich kalt für Juni.
Schoch schälte sich aus dem Schlafsack, richtete sich auf, so weit es die niedrige Schlafstelle zuließ, und packte sein Bett zu einer harten Rolle zusammen. Er stopfte das Hemd in die Hose und griff nach seinen Schuhen.
Aber an der Stelle, wo er sie immer ablegte – beim Höhleneingang weit genug im Innern, so dass ein plötzlicher Regen sie nicht erreichen konnte –, fand er nur einen. Den anderen entdeckte er nach einer Weile vor der Höhle. Er lag neben einem der triefenden Büsche in einer Pfütze. Schoch konnte sich nicht erinnern, dass ihm das schon einmal passiert war, so besoffen er auch war. Vielleicht sollte er sich ein wenig bremsen.
Er angelte sich fluchend den blau-weiß gestreiften Sportschuh, nahm ein zerschlissenes Frottiertuch mit dem »Nivea«-Schriftzug aus seiner Sporttasche und versuchte, den Schuh damit trockenzutupfen.
Es war aussichtslos. Schoch zog den feuchten kalten Sneaker an.
Etwas geisterte vage in seinem Kopf herum. Etwas von der letzten Nacht. Etwas Seltsames. Aber was? Ein Gegenstand? Ein Erlebnis? Wie ein gesuchtes Wort oder ein vergessener Name, die einem auf der Zunge liegen.
Er konnte es nicht festmachen, und die Kälte des Schuhs kroch sein Bein herauf und ließ ihn frösteln. Er brauchte Bewegung und etwas warmen Kaffee im Magen.
Schoch zog eine gelbe Pelerine über, die er einmal von einer Baustelle hatte mitgehen lassen. Sie war voller Teerflecken und trug das Signet eines großen Bauunternehmens, das er ebenfalls mit Teer unleserlich gemacht hatte. Nur die Wörter »Hoch- und« waren sichtbar geblieben. Er stopfte seinen Schlafsack in die fleckige Sporttasche, in der sich auch ein paar seiner anderen Habseligkeiten befanden. Ersatzunterwäsche, Socken, T-Shirt, ein Hemd, Waschbeutel und eine Brieftasche mit seinen Papieren. Den Rest der Dinge, die ihm gehörten, hatte er im Heilsarmee-Wohnheim, mit dessen Verwalter er auf gutem Fuß stand, eingelagert.
Er stülpte eine Schildmütze über sein verfilztes Haar und trat ins Freie. In der Höhle ließ er nichts zurück.
Der Regen fiel so dicht, dass das gegenüberliegende Flussufer nur schwach zu erkennen war. Er kämpfte sich die glitschige Böschung hinauf. Zweimal rutschte er aus, die Hosenbeine waren auf Höhe der Knie lehmverschmiert, als er den Uferweg erreichte.
Schoch hatte den Schlafplatz von Sumi geerbt, dem Mann, der ihn auf der Gasse eingeführt hatte. Damals, als unter den Obdachlosen noch Regeln galten. Zum Beispiel die, dass man die Schlafplätze der andern respektierte. Heute war das nicht mehr so. Heute konnte es passieren, dass man nach Hause kam, und da lag schon einer. Meistens ein Arbeitsmigrant. Einer, der ins Land gekommen war, um Arbeit zu suchen.
Sumi hatte den Platz kurz nach dem Hochwasser 2005 entdeckt. So hoch war der Fluss gewesen, dass er den Uferweg an mehreren Stellen unterspült und einen großen Teil vom Wildwuchs weggeschwemmt hatte.
Zufällig hatte Sumi vom anderen Ufer aus die klaffende Stelle entdeckt. Das einzige Problem war gewesen, dass die Höhle so gut einsehbar war. Aber da kam es ihm zugute, dass er vor seiner Zeit auf der Gasse unter anderem als Hilfsgärtner gearbeitet hatte. Er grub von weiter flussabwärts, wo das Becken breiter war und das Wasser den Böschungsrand nicht erreichte, einige Stauden aus und pflanzte sie vor den Höhleneingang.
»Fluss-Bett« hatte er seine Schlafstelle getauft und fast acht Jahre dort gepennt. Schoch war der Einzige gewesen, der die Stelle kannte. »Wenn ich einmal abkratze«, pflegte Sumi zu sagen, »kannst du mein Fluss-Bett haben.«
»Du säufst uns alle unter den Boden«, antwortete Schoch dann jeweils.
Aber dann war Sumi plötzlich gestorben. Auf Entzug. Delirium tremens.
Das hatte Schoch in seinem Entschluss bestärkt, nie mit dem Trinken aufzuhören.
Der Uferweg war menschenleer. Die frühen Jogger, denen er sonst um diese Zeit begegnete, hatte der Regen in den Häusern festgehalten. Es dauerte nicht lange, bis Schochs trockener Schuh ebenso durchweicht war wie der nasse. Das Regenwasser lief ihm den Bart hinunter in den Halsausschnitt seiner Pelerine. Schoch reckte sein Kinn und wischte den Bart mit dem Handrücken heraus. Er brauchte jetzt dringend seinen zweiten Kaffee, den ersten hatte er verpennt.
Weiter oben kam er an einer Flussschwelle vorbei. Dort befand sich eine kleine Plattform. Zwei Betonpfähle waren in die Böschung eingelassen, die eine Rettungsstange aus Aluminium trugen. Die Stelle war berüchtigt, weil sich nach der Schwelle, besonders bei hohem Wasserstand, eine Wasserwalze bildete. Von dort drangen jetzt Rufe herauf.
Schoch ging weiter, bis ihm die Uferbewachsung die Sicht nicht mehr versperrte. Zwei Männer, ein kleiner und ein großer, standen auf der Betonplattform am Ufer und stocherten mit der Rettungsstange in dem braunen Wasser unterhalb der Schwelle herum.
»Brauchen Sie Hilfe?«, wollte Schoch rufen, aber seine Stimme war so belegt, dass er nichts Hörbares herausbrachte.
Er räusperte sich. »He! Hallo!«
Der Große sah jetzt herauf. Ein Japaner oder ein Chinese.
»Ist jemand hineingefallen?«
Jetzt sah auch der Mann mit der Rettungsstange herauf. Ein kurzgeschorener Rothaariger.
»Mein Hund!«, rief er.
Schoch hob die Schultern und schüttelte den Kopf. »Todeswalze«, rief er, »da kommt keiner lebend raus. Die hat schon manchen geschluckt. Vergessen Sie es. Passen Sie lieber auf, dass Sie nicht auch noch reinfallen!«
Der Mann mit der Rettungsstange stocherte weiter. Der andere winkte ihm zu. »Thanks!«, rief er, dann wandte auch er ihm wieder den Rücken zu.
Schoch ging weiter. »Ich habe sie gewarnt«, murmelte er. »Ich habe sie gewarnt.«
[...]
14
Am selben Tag
Nach dem ›AlkOfen‹ hatte er noch bei den Hündelern vorbeigeschaut, in der Hoffnung, dass Giorgio noch da war, der denselben Heimweg hatte. Schoch fühlte sich nämlich nicht mehr ganz sicher auf den Beinen.
Aber Giorgio war schon gegangen, und zu den Übriggebliebenen fand er um diese Zeit keinen Draht mehr. Aus Höflichkeit trank er das angebotene Bier und machte sich auf den Weg.
Erst als er den Uferweg erreicht hatte, fiel ihm auf, dass es nicht mehr regnete. Der Fluss war braun und aufgewühlt und trug Äste und Baumstämme mit sich. Im Westen hellte ein schmaler sauberer Himmelsstreifen die Dämmerung auf. Schoch setzte langsam und konzentriert einen Fuß vor den anderen.
Ein Stück weiter vorne auf dem Uferweg stand einer. Er rührte sich, schien auf ihn zu warten.
Schoch kam näher und sah, dass es ein Asiate war. Klein, schmächtig, aber man wusste ja, dass die trotzdem gefährlich sein konnten mit ihren Kampfsportarten.
Schoch wollte an ihm vorbeigehen, aber der Mann ging neben ihm her und fragte etwas, das er nicht verstand. Er ging weiter.
»Wo gibt es Höhle?«
Ach so, da ist einer auf unsere Höhlen aus, dachte Schoch. »Hier gibt es keine Höhlen«, antwortete er.
Aber der Asiate gab nicht auf. »Sie sicher?«
»Hau ab«, schnauzte Schoch ihn an. Jetzt blieb der Kerl zurück.
Bei der Wasserwalze stand ein alter Mann, den er vom Sehen kannte. Er besaß einen der Schrebergärten in der Nähe. »Heute haben sie einen hier herausgezogen«, sagte er.
»Einen Hund?«, fragte Schoch. »Einen Mann. Hatte eine Tasche umhängen. Leer.« Der Fluss zerrte an einem Plastikband, das an einen Weidenstrunk gebunden war. Es war rot-weiß gestreift wie die, mit denen die Polizei einen Tatort absperrt.
»Was wohl drin war?«, murmelte der Alte. Schoch erwiderte nichts. »Irgendwann kommt es zum Vorschein. Ewig behält die Walze nichts.« Schoch wollte von den beiden Männern erzählen, die heute früh mit der Rettungsstange in der Walze herumgestochert hatten. Aber er überlegte es sich anders. Er wollte nichts mit der Polizei zu tun haben, und dem Ertrunkenen war sowieso nicht mehr zu helfen. Er ging weiter.
Die Lücke in der Wolkendecke im Westen hatte sich wieder geschlossen, und die Dämmerung verwischte die Konturen der Landschaft. Schoch musste aufpassen, dass er keine Risse und Löcher im Asphalt übersah.
Nach etwa fünfhundert Metern hatte er die Stelle erreicht, unter der sein Schlafplatz lag. Wie immer ging er daran vorbei für den Fall, dass ihn jemand beobachtete. Und wie immer pinkelte er an eine Pappel in der Nähe und sah sich dabei vorsichtig um. Als er sicher war, dass es keine Zeugen gab, kletterte er die steile Böschung runter.
Der Boden war glitschig, es wäre auch für einen jüngeren, nüchterneren Mann nicht einfach gewesen, mit der sperrigen umgehängten Sporttasche an der richtigen Stelle zum Stehen zu kommen und die zwei Meter wieder hinauf zum Höhleneingang zu klettern. Er rutschte aus und erwischte eine freigespülte Wurzel, die ihn schon mehr als einmal gerettet hatte. Der Höhleneingang lag jetzt drei Meter über ihm.
Fluchend und auf allen vieren wartete er, bis er wieder zu Atem kam.
Von hier aus wirkte es, als hätte sich der Höhleneingang verändert. Die Büsche, die im Sommer den Zugang etwas kaschierten, sahen zerzaust aus. Vielleicht eines der Gewitter dieses Tages.
Nach der Atempause begann er hinaufzukraxeln. Als er mit lehmverschmierten Händen und Knien die Büsche erreichte, sah er, dass sie übel zugerichtet waren: Blätter und Zweige waren abgerissen. Das konnte nicht der Wind gewesen sein.
Schoch schob die Tasche an den Büschen vorbei in die Höhle und kroch selbst in das Halbdunkel hinein.
Und da war es wieder, rosa fluoreszierend und mit gestellten Öhrchen – das Phantom der letzten Nacht!
Schoch hielt den Atem an und regte sich nicht.
Der Mini-Elefant stand ebenfalls reglos da. So unbeweglich, dass Schoch aufatmete. Also doch ein Spielzeug.
Er kroch vollends in die Höhle und streckte die Hand danach aus. Aber bevor er es berührte, bewegte es sich. Senkte den Kopf und warf mit einem Kopfschwung den Rüssel in die Luft.
Schochs Hand zuckte zurück.
Das Wesen machte kehrt und verzog sich in die hinterste Verengung der Unterspülung. Dorthin, wo Schochs Hand es nicht erreichen konnte.
»Ich werd verrückt!«, stieß er aus. Und noch einmal: »Ich werd verrückt!« Und dann leiser: »Oder bin es schon.« In der Mitte der Höhle lagen Blätter und entrindete Zweige von den Büschen vor dem Höhleneingang. Schoch las ein paar davon auf und robbte so tief in den niedrigen Teil der Ausspülung, wie es ging. Er streckte dem Winzling die Blätter hin, aber er ließ sich nicht heranlocken. Er stand nur da, fächerte ab und zu mit den Ohren oder hob drohend den kleinen Rüssel.
Schoch schnalzte mit der Zunge und sprach mit sanfter Stimme. »Komm ... komm ... komm, tz-tz-tz-tz.«
Das Tierchen legte die Ohren zurück und begann, mit dem Rüssel den sandigen Boden abzutasten. Manchmal rollte es die Rüsselspitze etwas ein, und manchmal hob es graziös ein Bein und ließ den Fuß locker hängen. Aber es kam keinen Schritt näher.
15
14. Juni 2016
Irgendwann erwachte Schoch frierend. Er brauchte eine ganze Weile, bis er sich erinnerte, weshalb er so dalag. Vom Elefanten war nichts zu sehen, und er wollte die Sache gerade als Sinnestäuschung abtun, als er den Elefantendung entdeckte. Die gleichen brüchigen Knollen, wie er sie von Zoobesuchen in seinem früheren Leben in Erinnerung hatte, nur viel, viel kleiner, lagen dort an der niedrigsten Stelle der Höhle.
Er kroch rückwärts, bis er sich wieder halbwegs aufrichten konnte, und sah sich um. Außer ein paar Resten von Blättern und Zweigen sah er nichts Auffälliges.
Er nahm die Schlafunterlage aus der Tasche, rollte sie aus, legte den Schlafsack darauf, entledigte sich seiner Schuhe und schlüpfte hinein. Jetzt hörte er ein Rascheln vor dem Höhleneingang, sah eine Bewegung in den Büschen und endlich auch das rosa Leuchten seiner Halluzination.
Er verhielt sich still und wartete. Und schlief ein.
Er träumte von einem winzigen rosa Elefanten, der im Dunkeln leuchtete. Jemand, den er nicht kannte, sagte: »Das ist kein Traum, das ist Wirklichkeit.« Als er wieder hinsah, war aus dem Elefanten ein Hündchen geworden. Er wollte es streicheln, aber es rannte davon. Er wollte ihm folgen, aber er konnte nicht rennen.
Plötzlich war er bei der Todeswalze. Dort standen Giorgio und Bolle und fischten mit langen Stangen. »Ist jemand ertrunken?«, rief er ihnen zu.
»Du!«, antworteten sie.
Etwas umschloss seinen Daumen warm und feucht und weich.
Er spürte, wie der Traum ihn verließ. Er entfernte sich schnell und unaufhaltsam und ließ ihn allein zurück.
Aber das, was seinen Daumen umschloss, war noch immer da. Es bewegte sich, suckelte, nuckelte und lutschte.
Schoch öffnete die Augen. Die Morgendämmerung erhellte die Höhle ein wenig. Der kleine Elefant war neben seiner Hand. Auf den Hinterbeinen stand er, auf den Vorderbeinen kniete er und suckelte an seinem Daumen.
Vorsichtig hob Schoch die andere Hand und ließ sie sachte sinken. Die rosa Haut fühlte sich warm an und weich wie Schweinsleder.
Das Wesen erschrak und zog sich rasch in sein Versteck zurück. Aber nicht so tief wie zuvor. Es blieb an einer Stelle, wo Schoch es noch hätte erreichen können. Dort schlängelte es mit seinem Rüssel und sah ihn erwartungsvoll an.
Schoch kroch aus dem Schlafsack, ging von der Hocke auf die Knie und versuchte, tief und kontrolliert zu atmen, um sein Herzklopfen zu bändigen. Das, was er sah, war keine Halluzination. Halluzinationen konnte man nicht anfassen.
Aber was war es dann? Ein Wunder? Ein Zeichen? Etwas Transzendentes? Schoch war nie religiös gewesen, aber vor seinem Absturz hatte er durchaus daran geglaubt, dass es etwas gab, was seine Wahrnehmung und sein Vorstellungsvermögen überschritt. Eine höhere Wirklichkeit und vielleicht auch eine höhere Macht.
Dieser Glaube war – wie alles andere auch – mit seinem Absturz zusammengebrochen. Und hatte sich in all den Jahren nie mehr bemerkbar gemacht.
Bis zum heutigen Tag. Denn dass sich dieses Fabelwesen aus einer anderen Welt, vielleicht sogar aus einer anderen Dimension, ihm, ausgerechnet ihm, offenbarte, musste eine Bedeutung haben.
Schoch tat etwas, was er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte: Er bekreuzigte sich. Und weil ihm diese Form der Ehrerbietung angesichts der Bedeutung dieser Offenbarung und auch im Hinblick darauf, dass es sich um einen möglicherweise asiatischen Elefanten handelte, zu unangemessen schien, legte er die flachen Hände vor dem Bart aneinander und verneigte sich zu einem tiefen Wai.
Das Tier tastete mit dem Rüssel den Boden ab.
»Hunger?«, fragte Schoch. Er klaubte ein paar Blätter vom Boden und hielt sie ihm hin.
Zögernd und mit ausgestrecktem Rüssel näherte sich das Wesen. Es fasste das Blattfragment, ließ den keilförmigen Unterkiefer runterklappen und schob es in den Mund. Schoch hatte die Berührung der Rüsselspitze gespürt. Sie fühlte sich weich und seidig an.
Es hob den Rüssel und gab zu erkennen, dass es mehr wollte.
Schoch zog die Schuhe an. »Hierbleiben«, befahl er, »ich bring dir mehr.« Er schob sich an den Büschen vorbei und richtete sich auf.
Die Wolken hingen tief, und der Fluss zog noch immer braun und eilig vorüber. Aber es regnete wenigstens nicht. Schoch ging zu der alten Weide, die ein Stück flussabwärts wuchs, und brach ein paar von ihren Zweigen ab. Dann riss er einige Büschel Gras aus und einen Strauß Butterblumen, die knapp über dem hohen Pegel wuchsen.
Mit dieser Ernte kämpfte er sich wieder die Böschung hinauf und kroch in die Höhle.
Sein Besuch stand noch an derselben Stelle und streckte sofort den Rüssel aus, als er das Futter sah.
Schoch fütterte das kleine Tier fasziniert und geduldig. Zweimal musste er Nachschub holen, so hungrig war es. Er schnitt auch mit dem Taschenmesser das untere Drittel einer Plastikflasche ab, füllte es mit Flusswasser und sah zu, wie es seinen Rüssel darin versenkte, Wasser ansaugte und dieses in den Mund entleerte.
So verging der Vormittag, ohne dass Schoch etwas gegessen hatte. Oder getrunken.
Seine billige Plastikuhr zeigte vierzehn Uhr, als sein kleiner Gast sich niederlegte. Schoch hielt das für eine gute Idee und legte sich daneben.
Als er erwachte, lag der Mini-Elefant an einer anderen Stelle auf der Seite. Seine Bauchdecke hob und senkte sich schnell, und sein Rüssel streckte und kringelte sich in unregelmäßigen Abständen. Überall am Boden waren Pfützen von flüssigem Kot.
Schoch legte sachte seine Hand auf den kleinen Körper, als wäre es die Stirn eines fiebernden Kindes. Er reagierte nicht. Er fasste das Tier vorsichtig um den Leib und stellte es auf die Beine.
Es stand breitbeinig da, mit hängenden Ohren und hängendem Rüssel, und unter seinem Schwanz rann sein Darminhalt heraus, dünn wie Wasser. Noch bevor es aufgehört hatte, legte es sich wieder hin. Es war mehr ein Hinfallen als ein sich Hinlegen.
Bei Durchfall viel trinken, fiel es Schoch ein. Er nahm eine leere Flasche und stieg wieder die Böschung hinunter. Es ging viel besser, nach über zwanzig Stunden ohne Alkohol war er wieder ganz gut auf den Beinen.
Aber er keuchte noch immer schwer, als er mit der gefüllten Flasche wieder die Höhle betrat. Das kleine rosarote Fabelwesen lag jetzt ruhig da, sein Brustkorb hob und senkte sich nicht mehr, und der Rüssel wand sich nicht mehr, sondern lag schlapp neben den Vorderbeinen.
Schoch geriet in Panik. »Du stirbst mir nicht«, murmelte er, »du stirbst mir nicht.«
Er schüttete den Inhalt seiner Sporttasche aus, wickelte das schlaffe Tier in das Frottiertuch mit dem Nivea-Logo, legte es in die Sporttasche, hängte sie über die Schulter und ging.