Einleitung
»Du bist die Türkei: Denke groß!«, steht auf Plakaten, die in der Türkei landesweit mit Recep Tayyip Erdoğans Gesicht aushängen. Einerseits ist er allgegenwärtig, in der Türkei sowieso, und auch in den deutschen Medien produziert er große Schlagzeilen. Andererseits wissen wir in Deutschland kaum etwas über diesen Mann, den der Großteil der Deutschtürken wählt, und der gelegentlich zu Wahlkampfauftritten hier ganze Hallen füllt, stets rote Nelken in die Scharen wirft und wie ein Messias gefeiert wird. Wenn er dem Volk Versprechungen macht, legt er seine Hand auf die Brust. »Üstat! Üstat« – »Lehrmeister! Lehrmeister!«, jubeln sie ihm dann zu. Seine Anhänger – sunnitisch, konservativ – verehren den Populisten. Die Menschen, die ihn wählen, identifizieren sich mit ihm: ein dynamischer, nationalistischer Präsident – endlich wird die Türkei nicht mehr belächelt, nein, manch Westler fürchtet Erdoğan sogar. Den Deutschtürken ruft er immer wieder zu: »Wir sind stolz auf euch.« Sie skandieren zurück: »Die Türkei ist stolz auf dich!«
Für Außenstehende ist die Grundkonstellation klar: Erdoğan hat sich die Türkei untertan gemacht. Hierzulande ist es zu einer Art Volkssport geworden, Erdoğan, den großen Unbekannten, zu psychologisieren. Dabei fallen die seelenkundlichen Diagnosen im Detail unterschiedlich aus, doch selten wird sein Name ohne die Attribute »autoritär« und »unberechenbar« genannt. In Deutschland erscheint er wie eine undurchsichtige, ferne Figur im Fokus der Weltöffentlichkeit. Ein unermüdlicher Verkünder seiner eigenen Agenda, der für deren Durchsetzung auch Gewalt in Kauf nimmt und dem deswegen von seinen Kritikern eine fast mephistophelische Rolle zugetragen wird. All das ist wahr, doch natürlich ist die Geschichte Erdoğans und der Türken nicht so einfach. Die Türken kennen Erdoğan schon seit dessen Jugend, die Deutschen seit seinem Amtsantritt als Ministerpräsident. Das Bild, das hier von ihm vorherrscht, entspricht nur in Teilen der Realität – die ist natürlich viel umfassender.
Denn wenn man sich auf die Suche nach dem Menschen hinter dem Präsidenten macht, nach seiner Herkunft, dann wird einem klar, wie unwahrscheinlich sein Weg zur Macht gewesen ist. Er kommt aus kärglichen Verhältnissen, immer wieder versucht die Opposition, ihn kleinzuhalten, sogar sein Ziehvater Necmettin Erbakan stellt sich dem Polittalent in den Weg – doch er hat nie aufgegeben. Sie alle scheitern und machen ihn am Ende sogar noch stärker.
Erdoğan arbeitet sich empor aus einem Armenviertel, überwindet das kemalistische System, das Männer wie ihn nicht vorgesehen hat, zunächst als Bürgermeister, dann als Verlierer, dann als Sieger – und nun als Staatspräsident. Er ist der facettenreichste Politiker der Republik, der in den Wirren der türkischen Geschichte politisch geprägt wurde, dessen Karriere zweifellos beeindruckt und dessen Leben durch eine Konstante geprägt ist: den unbedingten Willen, unbegrenzte Macht als Staatspräsident zu haben.
Wie hat es dieser Emporkömmling geschafft, der mächtigste Politiker nach Atatürk zu werden? Erdoğans Geschichte ist auch die ernüchternde Geschichte türkischer Politiker, die ihrem Land keinen Fortschritt bringen konnten und so seinen Aufstieg ermöglichten. So muss sein Leben auch in die geschichtliche Komplexität und die politischen Entwicklungen des Landes eingeordnet werden.
Es ist aber auch die Geschichte eines wendigen Mannes, der sich den Begebenheiten der Zeit anpasst und dessen Stärke nicht auf Kräften oder Institutionen beruht, sondern vor allem auf seiner Persönlichkeit. Er ist ein rapide lernender Charakter, der Fehler selten ein zweites Mal macht. Dabei orientiert er sich nur an seiner eigenen Person und nicht, wie immer suggeriert wird, am Glauben. Erdoğan ist ein Besessener. Besessen von seiner eigenen Person, die eine manipulative Kraft hat, die Kraft der einlullenden rhetorischen Gewalt. Ein Narziss und ein Verführer, zweifellos selbstsicher, aber ängstlich – denn nur wer sich fürchtet, baut solch ein repressives System auf.
Wenn man zurückblickt, muss man auch seine Verdienste würdigen. Tatsächlich brachte Erdoğan dem zerrütteten Land über Jahre hinweg ungewohnte politische und wirtschaftliche Stabilität, führte die Republik vor die Tore Europas, wagte einen Neuanfang in der Kurdenpolitik, baute die Infrastruktur auf und demilitarisierte das Land, die Leistungen der Krankenversicherung wurden erheblich ausgeweitet. So verbinden viele Türken Erdoğan zwar mit Unterdrückung und Korruption, aber auch mit neuen Straßen und Stabilität – die Oppositionsparteien werden als größeres Übel gesehen. Seine Unberechenbarkeit bis an die Grenzen des Entschuldbaren wird hingenommen. »Seine« Türkei ist ziviler und moderner geworden, aber nicht demokratischer.
Eine Inspektion seines Inneren ist kaum möglich. Denn AKP-Politiker reden selten mit der westlichen Presse. Es wird geschickt abgewiegelt, vertröstet, hingehalten. Und wenn sie es doch einmal tun, dann darf man sie nicht zitieren. Denn auch sie misstrauen zutiefst der Presse, und sie fürchten Konsequenzen, wenn sie ohne Genehmigung reden. So blieben bedauerlicherweise allgemeine Anfragen an die Regierung für ein Interview mit Erdoğan unbeantwortet, in meinem Mail-Postfach ist nichts eingegangen.
Wer eine Biografie über Erdoğan schreiben will, der muss ihm also hinterherreisen, die etlichen Veranstaltungen besuchen, bei denen er auftritt. Der muss die Stationen seines Lebens anschauen, sich herantasten, ihn umkreisen, der muss seine Persönlichkeit studieren, der muss mit Vertrauten, mit Befürwortern, Gegnern und Zeitzeugen reden, dutzende Archive besuchen und all das Medienmaterial auswerten, das es über Erdoğan gibt. So habe ich rund fünfzig Gespräche mit Menschen geführt, die Erdoğan entweder persönlich kennen oder aber von seiner Politik direkt betroffen sind – mit Freund und Feind. Doch nur die allerwenigsten wollen zitiert werden.
In Deutschland werden diese Menschen rasch als »Feiglinge« abgeurteilt. Journalisten, die sich selbst zensieren, werden als unfähig abgestempelt. Menschen, die es nicht wagen, öffentlich ihre Meinung zu sagen, wird der Mut abgesprochen. Es sollte sich aber jeder selbst fragen, was er machen würde, wenn er in einer defekten Demokratie mit einem gelenkten Rechtssystem und einem löchrigen Sozialstaat leben würde. Zu groß ist mittlerweile die Angst, vom Staatspräsidenten persönlich angezeigt zu werden, das freie Wort ist gefährlich. Alleine in den ersten vierzehn Monaten nach seinem Amtsantritt als Präsident wurden 236 Ermittlungsverfahren wegen »Beleidigung des Präsidenten« eingeleitet. Bei einem Schuldspruch drohen bis zu vier Jahre Haft. Kritik – mag sie auch harmlos als Satire daherkommen – entgegnet er vehement. Dabei reichen schon Banalitäten, um ins Visier der Justiz zu geraten – etwa der Vergleich Erdoğans mit dem »Herr der Ringe«-Wesen Gollum. Selbst Zuhause ist man nicht mehr sicher. Im Februar 2016 zeigte ein Mann seine eigene Ehefrau wegen Beleidigung des Staatspräsidenten an. Die Frau habe Erdoğan immer beschimpft, wenn er im Fernsehen auftauchte, berichtete die regierungsnahen Zeitung »Yeni Safak«. Der Ehemann habe seine Frau mehrfach ermahnt, die Beschimpfungen zu unterlassen. Weil sie aber nicht damit aufhörte, nahm er ihre Kritik auf Tonband auf, und zeigte sie an. Deswegen haben sich viele Mutige bereits zurückgezogen. Die wenigen, die doch noch tapfer Erdoğan kritisieren, müssen im Wochentakt miterleben, wie ihresgleichen durch Gerichtsverfahren zermürbt oder unter fadenscheinigen Gründen in langjährige Untersuchungshaft gesteckt wird. Doch nahezu jeder, der Erdoğan persönlich getroffen hat, sagt, er sei ein Seelenfänger. Man ist beeindruckt von seinem Charisma – ob Erdoğan-Hasser oder -Unterstützer.
Auch die zahlreichen türkischen Erdoğan-Biografien und Bücher über ihn sind wichtige Quellen, doch ist keines dieser Bücher sachlich-distanziert. Um drei Beispiele zu nennen: Muhammed Pamuk, Autor des Buches »Yasaklı Umut. Recep Tayyip Erdoğan (Verbotene Hoffnung. Recep Tayyip Erdoğan)« ist Journalist bei regierungsnahen Medien und macht aus seiner Begeisterung für seinen Protagonisten auch überhaupt kein Geheimnis. Mustafa Hoş, Verfasser des Bestsellers »Big Boss«, geht in seinem Buch von der These aus, Erdoğan sei ein »guter Schauspieler«, und belegt das anhand von verschiedenen Biografien, die er nach Widersprüchen durchsucht hat. Zwar ist Hoş insgesamt sachlich, doch auch er hat eine eindeutige politische Agenda: Hoş gehörte zu den prominentesten Journalisten des Landes, doch dann wurde er von Erdoğans Anhängern dermaßen unter Druck gesetzt, dass er mit seiner journalistischen Tätigkeit aufhörte. Ruşen Çakır und Fehmi Çalmuk haben zwar mit »Recep Tayyip Erdoğan. Bir Dönüşüm Öyküsü (Recep Tayyip Erdoğan. Die Geschichte eines Wandels)« eine sachliche Studie vorgelegt, doch ist diese 2001 erschienen und somit überholt. Dennoch handelt es sich bei diesen Publikationen um Quellen, die berücksichtigt werden müssen, an die allerdings immer kritisch herangegangen werden muss.
Setzt man die Mosaiksteine der Biografie zusammen, lässt sich neben vielem Vertrautem vor allem erkennen, dass Erdoğan kein Islamist ist – wie in der deutschen Öffentlichkeit oft unterstellt –, sondern ein Taktiker erster Güte – oder aber übelster Sorte, je nach Sichtweise. Seine politische Agenda ist er selbst. Wo er auftritt, entsteht etwas, manchmal Streit, manchmal Bewunderung. Er kann mahnen, provozieren, belehren und begeistern. Bleibt die große Frage: Worauf will er hinaus? Er will eine Gehorsamsgesellschaft: Sie soll kaufen, konsumieren, hinnehmen und nicht gegen seine Vorstellungen aufbegehren. Vor allem will er aber die uneingeschränkte Macht. Bis heute vermisst er eine Anerkennung seiner Leistung. Ein satter Boden, auf dem die Kränkungen weiter gedeihen und auf dem ein Ehrgeiz wächst, den nur ein Außenseiter haben kann.
So halten Freundschaften bei ihm nur so lange, wie sie ihm nützen. Seinen jahrzehntelangen Weggefährten Abdullah Gül etwa hat er einfach entsorgt, als das politische Kalkül dies erforderte. Deswegen interessiert ihn die Meinung aus dem Ausland recht wenig, denn maßgeblich sind mehrheitsfähige Positionen bei seinen Stammwählern. Freunde sind schnell vergessen, Feinde aber nie – er ist nachtragend und zornig auf alle, die es wagen, ihn zu hinterfragen, und rechnet irgendwann ab.
So wächst der Autoritarismus, Erdoğan hat es geschafft, dass die Türkei zu einem Land der Angst geworden ist. Jugendliche müssen sich davor fürchten, wegen eines Erdoğan-kritischen Facebook-Postings hinter Gittern zu kommen. Die Türkei unter Erdoğan ist zu einem Land geworden, in dem kritische Bücher aus den Läden verbannt werden. Die Menschen müssen damit rechnen, dass sich ein Terrorist des »Islamischen Staates« (IS) neben ihnen in die Luft sprengt und die Regierung nur hilflose Maßnahmen ankündigt. Kurden sind nicht mehr sicher – weder vor Ankara noch vor der Terrororganisation PKK. Kritische Medien haben nachgezählt, dass alleine in der zweiten Jahreshälfte 2015 rund 44 Kinder bei Auseinandersetzungen zwischen Regierungskritikern und Sicherheitskräften oder bei Terroranschlägen ums Leben kamen. Einer Studie des Global Peace Index von 2015 über die friedlichsten Länder der Welt zufolge rangiert die Türkei auf Platz 135 – von 162 Ländern. Es verschwinden wieder Menschen, spurlos. Und die Europäer liegen Erdoğan seit der Flüchtlingskrise zu Füßen, der die vor Bürgerkriegen Geflohenen wie Schachfiguren einsetzt.
Allein zwischen März 2013 und November 2015 gab es vier Wahlen, letztere, weil Erdoğan das Ergebnis der Parlamentswahl zuvor missfiel. Damit hat er auch gezeigt, dass er nie freiwillig die Zügel abgeben wird.
Zwischen Juli 2015 und Januar 2016 gab es vier Terroranschläge mit rund 150 Toten, laut Regierungsangaben mutmaßlich durch Mörder des »Islamischen Staates« ausgeübt, der sich allerdings zu keinem der Anschläge bekannt hat. Bei dem Selbstmordanschlag am 12. Januar 2016 wurden zwölf deutsche Touristen in Istanbul mit in den Tod gerissen. Erdoğan reagierte, indem er 1128 Akademiker kriminalisierte, die einen Tag zuvor in einem einseitigen offenen Brief Ankara zur Niederlegung der Waffen im Südosten aufgerufen hatten.
Doch wie geht es weiter mit Erdoğan? Zwar hat er all die Krisen seiner Amtszeiten überstanden, die Gezi-Proteste, die Korruptionsaffäre, das Bergwerksunglück in Soma, den Machtkampf mit Fethullah Gülen, die gescheiterte Außenpolitik mit den Nachbarn, die Terrorwelle durch mutmaßliche Dschihadisten des IS, das Ende des Friedensprozesses, doch viele Probleme werden weitergetragen. So hat seine Außenpolitik die Türkei nicht sicherer gemacht, denn mit all ihren Nachbarstaaten steht die Türkei im Clinch, mit Zypern ist keine Regelung in Sicht, mit Armenien finden kaum Debatten statt, und seit November 2015 gibt es auch noch Ärger mit Russland. Die Menschenrechtssituation verschlechtert sich zusehends. Kritikern donnert er ein »Kenne deine Grenzen« (»Haddini bil«) entgegen. Die Wirtschaft schwächelt, er hat nur noch Claqueure um sich herum versammelt, die Kurden im Südosten des Landes kämpfen wieder gegen die Regierung. In keinem westlichen Land sitzen so viele Journalisten im Gefängnis, wie in der Türkei. Der Geheimdienst wurde mit neuen weitreichenden Befugnissen ausgestattet.
Seine Attraktivität hat er längst verloren – doch es gibt keine Alternative zu ihm, und seine Kernwählerschaft – die Konservativ-Frommen – erfährt sowieso nichts von all den Negativschlagzeilen, weil Erdoğan die meisten Medien kontrolliert und weil ihr die rhetorische Feindmarkierung gefällt. Sie will Teil sein von Erdoğans hyperzentralistischem System, dessen Institutionen mittlerweile bis in die Kapillaren mit seinen Leuten besetzt sind.
Heute ist die Türkei ein tief gespaltenes Land. Zwischen denen, die Erdoğan verehren, die an ihm festhalten, weil sie weitere Wirren befürchten, und denen, die auf den Straßen »Erdoğan, tritt ab!« rufen.
Die Türkei ist die Republik der toten Kinder: wo dem vierzehnjährigen Berkin Elvan während der Gezi-Proteste ein Polizist von hinten in den Kopf schießt.
Das Land der politischen Pragmatiker: wo der Kurde Dengir Mir Mehmet Fırat, einst AKP-Vize, in die HDP wechselt, um doch noch etwas bewirken zu können.
Die Türkei ist ein Ort voller besonderer Geschichten: wo der deutschtürkische HDP-Politiker Ziya Pir, Neffe eines PKK-Mitbegründers, nun gegen Erdoğan kämpft.
Es ist ein Land der Verwundeten: wo der Künstler Mehmet Aksoy um seine Skulptur trauert, die Erdoğan abreißen ließ, weil sie ihm nicht gefiel.
Die Türkei ist ein Land der Verletzten: wo der Maler und strenge Kemalist Bedri Baykam von einem Islamisten niedergestochen wird und weiterhin gegen Erdoğan wettert.
Istanbul im Februar 2016