Im Rückblick

Leseprobe "Ja, manchmal ist es hilfreich, dass einige vor allen anderen recht haben, weil die Geschichte unvorhersehbar ist, weil die Geschichte das ist, was die Menschen, ob gut- oder böswillig, daraus machen."
Im Rückblick

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Vorwort von Arno Klarsfeld

Diese Memoiren sind ein Abenteuerbuch, ein Kriminalroman, die Schilderung einer juristischen Schlacht, ein Kurs in staatsbürgerlicher Bildung, ein Leitfaden für Kämpfer, ein historisches Epos, eine prickelnde und dauerhafte Liebesgeschichte, ein einmaliges Lehrstück fürs Leben.

Sie handeln davon, wie es zwei jungen Menschen mit nichts oder fast nichts als Intelligenz, Energie, einer robusten Gesundheit, Gerechtigkeitsgefühl, Engagement und Findigkeit gelang, die deutsche Geschichte und Frankreichs Geschichtsbild zu verändern.

Als Beate 1968 Kanzler Kurt Georg Kiesinger geohrfeigt hat, einen ehemaligen NS-Propagandisten, verurteilten die Berliner Richter sie zu einem Jahr Gefängnis und fragten: »Wie konnten Sie Gewalt gegen unseren Kanzler anwenden?« Beate erwiderte: »Gewalt ist, der deutschen Gesellschaft einen Nazikanzler aufzuzwingen!«

Es heißt oft, es sei nicht gut, vor allen anderen recht zu haben. Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Manchmal genügt es, lange genug zu leben, die Kleider der Jugend gegen die des Alters einzutauschen, und Ihre Verdienste werden offiziell anerkannt. Beate, die einen Bundeskanzler geohrfeigt hat und in Deutschland mehrfach zu Gefängnisstrafen verurteilt wurde, ist 2012 als eine der beiden Kandidaten für das Amt des deutschen Bundespräsidenten aufgestellt worden.

Ja, sie hatten vor allen anderen recht.

Man hat ihnen gesagt: »Ihr schafft es nie, dass die Nazis, die für die Deportation der Juden aus Frankreich verantwortlich waren und jetzt unbehelligt in Deutschland leben, verurteilt werden.« Nach einem dramatischen Kampf, mit illegalen Aktionen, Entführungs- und fingierten Mordversuchen und minutiösen historischen Forschungen zu den Verantwortlichkeiten der NS-Verbrecher haben sie es 1979 in einem Musterprozess in Köln geschafft. Damals wollten die deutschen Politiker und die deutsche Gesellschaft die Hauptverantwortlichen für die Ermordung der Juden nicht vor Gericht stellen; heute bemühen sie sich sogar, auch die letzten noch lebenden Buchhalter und Aufseher der Vernichtungslager abzuurteilen.

Man hat ihnen gesagt: »Es bringt nichts, die ermordeten Juden zu zählen.« Sie taten es, präzise und sehr auf Wahrheit und Mitgefühl bedacht, und gaben den 80 000 Juden, die in Frankreich Opfer der »Endlösung« wurden, wieder eine Identität, ja sie spürten sogar Fotos von fast der Hälfte der 11 000 deportierten Kinder auf. Diese Individualisierung der Opfer ist heute Basis jeder Aktivität des Gedenkens.

Man hat ihnen gesagt: »Ihr schafft es nie, Frankreichs Geschichtsbild zu ändern.« Heute zitiert jeder Präsident der Französischen Republik bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an die Razzia des Vélodrome d’Hiver die Schlusspassage von Serges historischem Standardwerk Vichy-Auschwitz: »Die Juden in Frankreich werden immer in Erinnerung behalten, daß zwar das Vichy-Regime einen moralischen Bankrott erlitten und sich entehrt hat, indem es entscheidend zur Vernichtung eines Viertels der jüdischen Bevölkerung beitrug, daß aber die übrigen drei Viertel ihr Überleben wesentlich dem aufrechten Mitgefühl aller Franzosen verdanken, die von dem Augenblick an ihre praktische Solidarität bewiesen, als sie begriffen, daß die jüdischen Familien, die den Deutschen in die Hände fielen, zum Tode verurteilt waren.«

Man hat ihnen gesagt: »Das ist nicht Barbie, das ist zu weit weg, das ist zu gefährlich.« Sie haben ihn aufgespürt, in Südamerika eine Kampagne gegen ihn geführt, sie haben ihn zurückgebracht und dafür gesorgt, dass er vor Gericht gestellt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Man hat sie gefragt: »Wieso demonstriert ihr für die Menschenrechte sowohl in rechtsextremen Diktaturen wie im Argentinien der Generäle, in Stroessners Paraguay, in Banzers Bolivien und in Pinochets Chile als auch in den Volksdemokratien Osteuropas wie der Tschechoslowakei oder Polen? Ihr müsst euch für eine Seite entscheiden!« Sie haben sich für die Freiheit entschieden, und heute sind die Diktaturen Südamerikas untergangen und die des Ostblocks zusammengebrochen.

Zu Beate, die sich schon 1968 als »wiedervereinigte« Deutsche bezeichnete, hat man einmal gesagt: »Es bringt nichts, sich öffentlich für ein wiedervereinigtes Deutschland starkzumachen, Europa will das nicht.« Sie ließ sich nicht entmutigen, sie gab nicht auf und behielt recht.

Ja, manchmal ist es hilfreich, dass einige vor allen anderen recht haben, weil die Geschichte unvorhersehbar ist, weil die Geschichte das ist, was die Menschen, ob gut- oder böswillig, daraus machen. Und dem unseligen »Triumph des Willens« kann ein gütiger und menschenfreundlicher Wille entgegentreten.

Diese Memoiren wenden sich an Herz und Verstand und nehmen Sie mit ins zerbombte Berlin, nach Nizza in das Schrankversteck eines jüdischen Kindes, das seinen Vater, umringt von Brunners Gestapoleuten, für immer fortgehen hört, an den Pariser Métro-Bahnsteig, wo Serge und Beate sich am Tag der Eichmann-Entführung begegneten, in südamerikanische Gefängniszellen, ins Beirut der Hisbollah, in den Iran der Ajatollahs, ins Serbien von Mladić und Karadžić, ins Wien Waldheims, auf die Jagd nach Mengele, ins Syrien Assads, der Eichmanns Vertrauten Brunner schützte …

Serge und Beate haben alles erreicht, oder fast alles. Sie sind bis an ihre Grenzen gegangen und dabei ausgeglichen und heiter geblieben. Sie überstanden unversehrt Sprengstoffpäckchen und Autobomben, Drohungen und Druck ließen sie kalt.

Sie haben alles erreicht, denn sie hatten und haben ein glückliches Familienleben, ihre beiden Kinder Lida und Arno, ihre Enkel Emma und Luigi, Hunde, Katzen und sogar einen kleinen Affen, den sie aus Brasilien mitgebracht haben.

Und ich, ihr Sohn Arno, der sie so sehr liebt und dem sie alles gegeben haben, frage mich oder besser verdränge die Frage, was aus mir wird, wenn sie nicht mehr sind.

Sie, lieber Leser, müssen dieses Buch lesen, denn danach werden Sie glücklich, erobert, gestärkt und optimistisch sein. Sie werden als besserer Mensch aus der Lektüre hervorgehen, nachdem Sie sich in dieses einzigartige Abenteuer des 20. und 21. Jahrhunderts gestürzt haben.

Hätte die deutsch-französische Partnerschaft eine Seele, trüge sie die Namen von Beate und Serge.

Arno Klarsfeld

Paris, im Mai 2015

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BEATE

Eine deutsche Kindheit

Drei Wochen nach meiner Geburt marschierte Hitler in Prag ein. Mein Vater, Versicherungsangestellter in Berlin, räumte brav seine Bleistifte weg und küsste meine Mutter Helene und sein einziges Kind Beate-Auguste. Dann verließ er den Hohenzollerndamm im gutbürgerlichen Bezirk Wilmersdorf, wo das Proletariat noch einige Hinterhöfe wie den unseren bewohnte, und ging auf eine lange Reise: Der Infanterist Kurt Künzel begab sich zu seiner Einheit. Den Sommer 1939 verbrachte er bei Manövern, den des Jahres 1940 irgendwo in Belgien.

Auf einem Foto sieht man ihn vor einer Kommandantur in Neufchâteau bei Bastogne mit strahlendem Lächeln Wache stehen. Im Sommer 1941 wurde sein Regiment nach Osten verlegt. Im Winter brachte ihn eine höchst willkommene doppelseitige Lungenentzündung von der russischen Front zurück in verschiedene deutsche Kasernen, wo er sich um die militärische Buchhaltung kümmerte. Nach der schnellen Befreiung 1945 durch die Engländer stieß er wieder zu seiner kleinen Familie, die jetzt in dem Dorf Havelberg lebte, wo meine Mutter und ich, durch die Bombenangriffe aus Berlin getrieben, widerwillig von einer Verwandten, die eine Bäckerei besaß, aufgenommen worden waren. In Sandau, in einem Stall, inmitten einer völlig verängstigten Schar von Alten, Frauen und Kindern, erlebten wir die Ankunft der sowjetischen Kosaken auf ihren langmähnigen kleinen Pferden. Polnische Zwangsarbeiter quartierten sich im Haus unserer Cousine ein und nahmen sich unsere Habseligkeiten. Was vermutlich nur gerecht war, da wir 1943 einige Monate in Wohlstand bei meinem Patenonkel verbracht hatten, der als hoher Nazifunktionär einen Posten in Lodz bekleidete, das inzwischen den Namen Litzmannstadt trug.

All denen, die meinen, dass Kindheitseindrücke die Grundentscheidungen eines Lebens maßgeblich beeinflussen, sei gesagt, dass die sowjetischen Soldaten uns nichts zuleide taten und weder meine Mutter noch ihre sechsjährige Tochter belästigt oder vergewaltigt wurden.

Ende 1945 kehrten wir nach Berlin zurück. Bis 1953 teilten wir uns zu dritt ein Zimmer. In der Uhlandstraße, später in der Holsteinischen Straße, immer noch in Wilmersdorf. Wir hatten ein Zimmer in einer jener Wohnungen, deren rechtmäßige Bewohner von den Alliierten zur Untervermietung an Flüchtlinge gezwungen wurden. Wir kamen bei einem Opernsänger unter, der nur noch für Beerdigungen engagiert wurde. Mit uns lebte dort eine alleinstehende Dame, die als Köchin arbeitete. Für mich als kleines Mädchen war es eine eigenartige Zeit. Man könnte meinen, dieses provisorische Leben voller Ungewissheit sei ganz vergnüglich gewesen, aber die Ängstlichkeit meiner Eltern, ihr Kummer darüber, dass ihr ganzes Hab und Gut in Rauch aufgegangen war, und die allgemeine Verunsicherung bedrückten mich. Es herrschte so etwas wie tiefes Unbehagen, in dem sich die Niedergeschlagenheit der Trauernden und die Verbitterung derer mischten, die das beengte Leben in den Gemeinschaftswohnungen ertragen mussten. Für meine Eltern war das Leben als Fremde bei Fremden sehr schwer.

Ich war sieben, acht, neun Jahre alt, und es sah nicht so aus, als würde es für die Familie Künzel aufwärtsgehen. Manche meiner Freundinnen, wie etwa Margit, hatten jetzt eine richtige Wohnung mit einer Küche, einem Bad und eigenen Zimmern für sich und ihre Eltern. Wir dagegen waren auch weiterhin den Launen und der Ungeduld unserer Vermieter ausgeliefert. Während ich darauf wartete, dass unsere Lage sich besserte, passte ich mich den Umständen an, wie ein kleines Mädchen sich jeder Realität anpassen kann – besser als Jugendliche oder Erwachsene. Ich glaube, ohne dass es mir bewusst war, bin ich härter geworden. Im positiven Sinn, das heißt, ich jammerte weder, noch verwünschte ich die ganze Welt, noch beneidete ich die, die mehr Glück hatten als ich. Für mich ist dieser Teil meines Lebens eine prägende Erfahrung, damals habe ich gelernt, Schwierigkeiten zu überwinden und kritischen Situationen zu trotzen, so schlimm und schmerzlich sie auch sein mögen.

In der Volksschule war ich eine brave und gewissenhafte Schülerin. Wegen der Raumnot wurden die Schüler auf zwei Unterrichtsblöcke verteilt, einen am Vormittag und einen am Nachmittag. Kam dann im Winter der Kohlemangel dazu, hatten wir ganz frei. Meine Mutter ging putzen. Bevor mein Vater irgendwann in einer Geschäftsstelle des Amtsgerichts Spandau angestellt wurde, klopfte er Steine von den Trümmerfeldern für den Wiederaufbau. Auf diesen unübersichtlichen Terrains verbrachte ich, den Wohnungsschlüssel um den Hals, ganze Tage mit meinen Freundinnen, wir spielten Verstecken, versuchten, bis unters Dach der zerbombten Häuser zu klettern, und suchten vor allem nach geheimen Schätzen.

In der Schule gab es Mädchen, die ihren Vater im Krieg verloren hatten, und andere, die endlos auf seine Rückkehr aus sowjetischen Gefangenenlagern warteten. Die Schule lag fünf Minuten von mir zu Hause entfernt auf dem runden Nikolsburger Platz. Sie befand sich in einem imposanten weißen Gebäude mit einer Fassade voller Einschusslöcher. Ich bin sehr gern zur Schule gegangen. Unsere Lehrerinnen waren aufmerksam und wohlwollend, jeden Tag wurden warme Milch und Schokolade verteilt, und überdies traf ich dort meine beste Freundin Margit. Wenn ich morgens das Haus verließ, nahm ich mein Mittagessen in einer Blechbüchse mit. Ich erinnere mich nicht, Hunger gelitten zu haben. Ich erinnere mich vielmehr, dass ich Kartoffeln gegessen habe, bergeweise Kartoffeln! Selten mit Fleisch. Etwas abwechslungsreicher fielen unsere Mahlzeiten aus, wenn meine Mutter aus den Häusern, in denen sie arbeitete, Dinge mitbrachte, die man ihr dort schenkte. Manchmal lagerte sie ein als Butter dienendes Fett zwischen den Scheiben der doppelverglasten Fenster, um es frisch zu halten. Doch die Außenscheibe war zerbrochen, manchmal schlüpften Vögel hinein, und ich beobachtete entzückt und mucksmäuschenstill von der anderen Zimmerecke aus, wie sie das Fett aufpickten. An Feiertagen kaufte mein Vater mir ein Eis, die einzige Leckerei, die meine Eltern mir in jener Zeit bieten konnten. Ich erinnere mich auch noch an die Frauen, die mit dem Zug aufs Land fuhren und sich mit Eiern und Gemüse eindeckten, die sie in großen Säcken auf dem Rücken trugen. Ich erinnere mich an meine Schuhe mit Holzsohlen und an den Stoff, den meine Mutter sich im Tausch gegen Wertmarken beschaffte, die so ähnlich wie Lebensmittelmarken aussahen, und aus dem sie unsere Kleidung nähte. Ich erinnere mich an das Improvisationstalent der Berlinerinnen, die einen zu klein gewordenen Mantel einfach in ein Kleid verwandelten.

Man vermied es, über Hitler zu sprechen. Ich weiß noch, dass ich vor April 1945 im Kindergarten kleine Gedichte für den Führer auswendig aufgesagt habe. Ich verbrachte meine Kindheit inmitten von Ruinen und wusste nicht, warum Berlin zerstört und in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden war. Die Welt, in der ich aufwuchs, wurde mir nicht erklärt, alles beschränkte sich auf den Satz: »Wir haben einen Krieg verloren, jetzt heißt es arbeiten.« Mein Vater war nicht gesprächig, meine Mutter war es nur, wenn sie meinem Vater Vorwürfe machte, was nicht selten geschah.

Als ich mit etwa vierzehn in die Pubertät kam, verstanden sich meine Eltern wieder besser: Fortan war ich das Objekt ihrer Nörgeleien. Beide hatten von den großen Umbrüchen, die sie miterlebt hatten, nichts vergessen, aber auch nichts daraus gelernt. Sie waren keine Nazis, aber sie hatten wie die anderen Hitler gewählt und fühlten sich doch in keiner Weise verantwortlich für das, was unter den Nationalsozialisten geschehen war. Wenn meine Mutter sich mit ihren Nachbarinnen unterhielt, jammerten sie über kurz oder lang stets über ihr ungerechtes Schicksal und beschworen die Erinnerung an die in den Wirren des Krieges verloren gegangenen geliebten Dinge herauf. Nie ein Wort des Mitleids oder Verständnisses für die anderen Völker, schon gar nicht für die Russen, denen sie alles Böse nachsagten.

Berlin war erfüllt vom Dröhnen der Versorgungsflugzeuge. Es war die Zeit der Berlin-Blockade. Ich stellte keine Fragen, weder anderen noch mir selbst. Ich ging den mir vorgezeichneten Weg: 1954 wurde ich in der evangelisch-lutherischen Kirche am Hohenzollernplatz konfirmiert, doch ich war schon damals nicht gläubig; bis heute ist mir die Frage nach Gott fremd. Dabei zeigte sich zu jener Zeit die Vorsehung gnädig: Wir zogen in eine Zweizimmerwohnung, und ich hatte endlich mein eigenes Reich.

Meine Freude darüber lässt sich kaum in Worte fassen. Zum ersten Mal im Leben hatte ich mit meinen Eltern eine normale Wohnung. Die Ahrweilerstraße 9 war ein reizloses Gebäude. Doch es besaß in meinen Augen eine wunderbare Eigenschaft: Es beherbergte unser Zuhause, bescherte uns eine eigene Adresse und lag, Gipfel des Glücks, in meinem Lieblingsviertel. Die Fenster unserer Wohnung gingen sowohl auf den Hof als auch auf eine wenig befahrene Straße hinaus, die von Bäumen und Häusern wie dem unseren gesäumt war.

Die Wohnung hatte eine Küche und ein Badezimmer, es gab Warmwasser und Zentralheizung. In meinem Zimmer und in dem meiner Eltern stand jeweils eine Couch, die wir abends vorm Schlafengehen auszogen. Diesen unglaublichen Luxus, diesen modernen Komfort mit einer richtigen Heizung – in unseren vorherigen Wohnungen war es in sämtlichen Zimmern kalt gewesen; ich erinnere mich an den winzigen Ofen, um den wir eng zusammenrücken mussten, wenn wir es wenigstens ein klein wenig wärmer haben wollten –, diese Revolution in unserem Leben verdankten wir Tante Ella, die sehr viel cleverer war als meine Eltern. In dieser Wohnung habe ich sieben Jahre gelebt, bis ich 1960 Berlin verließ.

Ganz in unserer Nähe lag der Rüdesheimer Platz, auf dem die Anwohner in den Sommermonaten mit ihren Kindern picknickten, sich amüsierten und Neuigkeiten austauschten. Ich führte meinen neuen Freund dorthin spazieren, den Basset einer jüdischen Dame, für die meine Mutter putzte und die mich nach Schulschluss oder nach den Hausaufgaben auf ihn aufpassen ließ. Sie wohnte in der Ahrweilerstraße 7 und war jetzt die einzige Jüdin in diesem Viertel, das, wie mir gesagt wurde, vor 1933 so viele Juden gezählt hatte.

Mit sechzehn wechselte ich vom Gymnasium auf die Höhere Wirtschaftsschule in Schöneberg, die mir als Sprungbrett in ein möglichst baldiges Erwerbsleben dienen sollte. Im Gymnasium hatte ich mich gelangweilt. Ich wollte unbedingt einen Beruf erlernen und mich von der elterlichen Bevormundung befreien. Denn damals ging zu Hause gar nichts mehr. Mein Vater trank und ließ sich gehen, was den Unmut meiner Mutter noch verschärfte. Bald darauf bekam er Krebs, an dem er 1966 mit 58 Jahren starb. Die täglichen Streitereien machten die Stimmung zu Hause unerträglich. Ich war dabei, zu ersticken.

Ich wusste nicht, wer ich war, und wollte es auch gar nicht wissen. Doch da ich ständig wartete – worauf? – und sich nichts tat, muss ich wohl eine gewisse Unzufriedenheit empfunden haben. Sie äußerte sich darin, dass ich keinerlei Begeisterung für die Perspektiven aufbrachte, die sich meine Mutter für mich ausdachte: ein Sparkassenbuch, eine Aussteuer, eine passende Heirat wie die meiner Cousine Christa. Prompt erklärte die Familie, dass ich eine schlechte Tochter sei. Wahrscheinlich habe ich mich selbst gerettet. Ich habe mich durchgesetzt; ich bin nie wieder dem »rechten« Weg gefolgt, der, das sah ich, überallhin führt, nur nicht ins Glück.

Kaum hatte ich am 13. Februar 1960 meinen 21. Geburtstag gefeiert, dachte ich nur noch an eins: weg aus dieser Stadt, obwohl mich eine tiefe, aber unerklärliche Zuneigung mit ihr verband. Auf meinen häufigen Streifzügen von West- nach Ost-Berlin, vor allem sonntags, machte ich mir die Sehenswürdigkeiten, die Museen, ja selbst die Straßen der geteilten Stadt zu eigen. Anders als für mein Umfeld im Westen endete Berlin für mich nicht am Brandenburger Tor: Jenseits davon ging die Stadt Unter den Linden weiter, die ebenso mir gehörten wie der Tiergarten. Politik und Geschichte waren mir vollkommen fremd; auf undefinierbare Weise empfand ich nur, dass Berlin, auch wenn es nicht so aussah, eine Stadt war. Ich mochte den Charme des Ostteils sogar lieber, der so düster und so arm war, wo es mir aber stets vorkam, als hätte ich eine Verabredung mit einer unbekannten Vergangenheit. Vermutlich entwickelte sich auf diesen Streifzügen, bei denen ich außer Träumereien nichts im Sinn hatte, lange vor der Wiedervereinigung meine erstaunliche Gewissheit von der Einheit meines Landes. Trotz des entzweiten Territoriums war ich nicht nur in einem Teil, sondern in ganz Deutschland verwurzelt.

Begegnung auf einem Métro-Bahnsteig

Am 7. März 1960 um sieben Uhr früh kam ich in Paris an. Der Himmel war grau, die Gare du Nord war grau, meine Stimmung war grau und gedrückt. Meine Mutter hatte mir das Schlimmste prophezeit. Für sie war ich nur noch eine junge Frau, die dem Verderben anheimfallen würde oder bereits anheimgefallen war. Mein Vater hatte sich von mir abgewandt, in seinen Augen war Paris das Bordell Europas, er sah mich schon als Bordsteinschwalbe. Ich konnte nur wenige Worte Französisch und schrieb mich sofort bei der Alliance Française ein. Drei Tage später war ich Au-pair-Mädchen und blieb es über ein Jahr. Ich hätte mir gewünscht, man hätte mich an meinem jeweiligen Wohn- und Arbeitsplatz ein wenig als älteste Tochter betrachtet. Viele deutsche junge Frauen wurden Au-pair-Mädchen, um Französisch zu lernen, Freundschaften mit Franzosen zu knüpfen, mit deren Kultur und Anschauungen in Berührung zu kommen. Doch nur wenige unter ihnen haben die Möglichkeiten, die Paris bietet, wirklich genutzt, und viele fuhren enttäuscht wieder heim, weil sie nicht das Leben führen konnten, das sie sich vorgestellt hatten.

Meine erste Gastfamilie wohnte in der Rue du Belvédère in Boulogne. Ich schlief auf dem widerwärtigen Dachboden des Einfamilienhauses, wo ich wegen der Spinnen vor Angst zitterte. Zweimal täglich brachte ich das Kind, auf das ich aufpasste, zur Schule und holte es wieder ab. Sieben Stunden täglich wusch, bügelte, kochte und putzte ich. Ich war fleißig und liebte die Sauberkeit, weshalb ich mit ungebremstem Eifer zu Werke ging, und wenn ich dann abends meine Lektionen im blauen Buch der Alliance Française lernen sollte – in dem die Musterfranzosen Monsieur und Madame Vincent jungen Mädchen, die Frankreich entdecken und lieben lernen wollen, bestimmt nicht so viel Arbeit aufhalsen würden –, war ich zu erschöpft.

Zum Glück wurde ich bald rausgeworfen: An einem Sonntag hatte ich gewagt, in Abwesenheit meiner Arbeitgeber ein paar Freunde einzuladen, und der Hausherr kam zurück, als wir vor dem Fernseher saßen. Vor seinem Fernseher: »Sie hätten ihn kaputt machen können, und die Reparatur hätten sicher nicht Sie bezahlt! Sie können sich eine neue Stelle suchen.«

Die fand ich am Bois de Boulogne in der Rue Darcel bei den Fallauds. Der Hausherr versuchte mir den Hof zu machen, Madame Fallaud interessierte sich nicht für ihren Haushalt und telefonierte endlos mit ihren Freunden. Fast die ganze Sorge für den vierjährigen Dominique und den siebenjährigen Marc war mir überlassen; ich lernte Nudeln kochen, Nudeln und noch mal Nudeln. Zwei Monate war ich jetzt schon in Paris. Beim Einkaufen wagte ich inzwischen, französisch zu sprechen, denn bei der Alliance traf ich nur Ausländer, und den Franzosen zu antworten, die mich, angelockt von meinem die Ausländerin verratenden Stadtplan, im Quartier Latin ansprachen, traute ich mich noch nicht.

Noch kannte ich die Stadt kaum, aber sie verzauberte mich. Was gab es nicht alles zu entdecken! Welch ein Unterschied zu den eintönigen West-Berliner Neubauten! Ich ging gern durch die alten Straßen des Marais oder jene zwischen Boulevard Saint-Germain und Seine und bewunderte die harmonischen, ausdrucksvollen Fassaden. Hier schienen die Menschen voller Lebenshunger, und keiner war wie der andere. Ein Spaziergang in Saint-Germain oder auf den Champs-Élysées war wie ein Theaterbesuch. In Paris bin ich aufgeblüht; ich hatte und habe bis heute das erregende Gefühl, tief mit dieser Stadt verbunden zu sein.

An einem Tag im Mai stand ich wie üblich am Bahnsteig der Station Porte de Saint-Cloud und wartete auf die 13-Uhr-15-Métro, wegen des Anschlusszugs an der Station Michel-Ange/Molitor am Haltepunkt des vorderen Zugteils. Ich spürte einen bohrenden Blick und schaute auf: Ein schwarzhaariger junger Mann in einem Glencheck-Anzug und mit einer Aktentasche in der Hand sah mich an: »Sind Sie Engländerin?«

Das war natürlich eine Falle. Serge gestand mir später, dass eine Deutsche diese Frage immer mit »Nein« beantwortete. Und damit war man im Gespräch. An der Station Sèvres-Babylone stieg er mit meiner Telefonnummer in der Tasche aus und ging zur Hochschule für Politikwissenschaft. Drei Tage später rief er zu meiner größten Freude an, und wir sahen uns in einem Kino in der Rue du Colisée Sonntags … nie! an. Serge beendete gerade sein Studium und war fast so arm wie ich. Mit seiner Ernsthaftigkeit und seiner Fantasie gefiel er mir sofort.

Auf einer Parkbank im Bois de Boulogne erzählte er mir, dass er Jude war, dass er seinen Vater in Auschwitz verloren hatte. Ich war überrascht, aufgewühlt. Unwillkürlich schreckte ich zuerst zurück. In Berlin hatte ich kaum je Gutes über die Juden gehört. Warum musste mir das passieren? Aber Serges Blick strahlte so viel Wärme aus; ich schmiegte mich an ihn.

Er erzählte mir von seinem Vater, der, das spürte ich, als Vorbild in ihm weiterlebte: Er hatte sich 1939 freiwillig zur Fremdenlegion gemeldet, war 1940 einer der wenigen Überlebenden seines Regiments in der Schlacht an der Somme, floh aus der Gefangenschaft, wurde im September 1943 in Nizza verhaftet und starb in Auschwitz in der Gaskammer.

[...]

12.11.2015, 15:43

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