Vorwort
Als ich gefragt wurde, ob ich das Manifest der IS-Frauen kommentieren würde, musste ich gestehen, dass ich dieses Manifest damals noch gar nicht kannte. Und auch meine Begeisterung, mich mit der Ideologie einer radikalen muslimischen Gruppe auseinanderzusetzen, hielt sich in zu engen Grenzen, als dass ich gleich hätte zustimmen können. Die IS-Ideologie ist von exegetischen Fehlern, Widersprüchlichkeiten, hochmütigen Behauptungen und Aufforderungen zu grausamen kriminellen Handlungen geprägt, die bei mir für Fassungslosigkeit und Wut sorgen. Die darin enthaltene Brutalität ist mir zuwider und es fällt mir schwer zu glauben, dass es Menschen gibt, die auf diese Art und Weise eine Religion der Barmherzigkeit schänden und für die Legitimation ihrer Barbarei missbrauchen. Den Berichten über ihren Zerstörungswahn, der von purem Hass strotzt, versuche ich weitgehend aus dem Weg zu gehen. Meine damalige Sprachlosigkeit war das Ergebnis aus einem Gemisch von Empörung, Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber einer gewalttätigen Gruppe, die vor nichts Respekt hat.
In Begegnung mit diesen Erscheinungen beschäftigten mich zwei Fragen: Welche religiöse Begründung kann derartige Gräueltaten legitimieren? Und wer sind die Befürworter und Unterstützer dieser Bewegungen, die nur in Gewalttätigkeit stark sind und anscheinend keine Scheu vor Brutalität haben?
Ich versuchte Rätsel zu lösen, die wahrscheinlich aufgrund ihrer Komplexität nicht so einfach zu lösen sind. Mir ist weiterhin schleierhaft, wie es möglich ist, dass in den letzten Jahren radikale und militante muslimische Gruppierungen wie Pilze aus dem Boden schießen. Über Jahre galt die Al-Qaida als Feind und an ihrer Spitze Osama bin Ladin als gefährlichster Gegner, der die Welt im Atem hielt und sich in Video-Botschaften als wahrhaftiger Muslim ausgab, der sich für die Sache Gottes einsetzte. Ähnlich äußern sich die Anhänger weiterer Gruppierungen wie Boko Haram in Nigeria und Aš-Šabāb in Somalia und einige andere Gruppen. Der selbst ernannte »Islamische Staat« erhebt außerdem einen universalen Anspruch, ruft ein ḫalīfāt (Kalifat) aus und ernennt einen ḫalīf (Kalifen) für alle Muslime der Welt. Diese Haltung schien mir zu banal und gehaltlos zu sein, um mich weiter damit zu beschäftigen und daher meine Skepsis, als ich für dieses Buch angefragt wurde.
Zugleich nehme ich immer wieder wahr, wie diese Randgruppen das Bild vom Islam dominieren und wie der Dialog zwischen Muslimen und Nichtmuslimen dadurch auch beeinträchtigt werden kann. Die Etablierung des Begriffes »Islamismus« in Verbindung mit den muslimischen radikalen Gruppen hat unter anderem ein problematisches Islambild projiziert. Es wird zwar stets erklärt, dass mit dem Begriff »Islamismus« eine politische Ideologie gemeint sei, die die Grund- und Menschenrechte und die Religionsfreiheit missachte und sich als Gegner der Demokratie verstehe. Doch diese Differenzierung zwischen Islam und »Islamismus« findet nicht immer statt. Die Verwechselung von Islam und »Islamismus«, von Muslim und »Islamist« begegnet mir oft. Sehr deutlich wurde mir das, als ich bei der Ankündigung einer kirchlichen Veranstaltung in der Pressemitteilung als »Islamistin« anstatt als Muslima vorgestellt wurde.
Mit dieser Wahrnehmung vom Islam bin ich stets konfrontiert und sehe es als meine Aufgabe, für ein differenziertes Bild vom Islam zu werben. Mir liegt es fern, mit den einfachen Erklärungen wie »Das alles hat mit dem Islam nichts zu tun« sagen zu wollen, dass die radikalen Ideologien keinen religiösen Hintergrund haben können. Die Geschichte lehrt uns leider das Gegenteil. Es gibt im Qu’ran (Koran) Aussagen, die ohne Reflektion und Rücksichtnahme auf ihren historischen Kontext und ihre Entstehungszeit eine von Gott gewollte Gewaltanwendung legitimieren können. Ebenso hat es in der Geschichte Eroberungskriege gegeben, die islamisch-religiös legitimiert wurden und in denen manche Gewalttaten geschahen, die nicht geleugnet werden können. In dieser Hinsicht ist es dem Islam nicht anders ergangen als anderen Religionen, die auch durch Missinterpretation für machtpolitische und wirtschaftliche Interessen zweckentfremdet wurden. Was mich jedoch aktuell beschäftigt ist die Wucht und Maßlosigkeit sowie die Macht, über die der IS verfügt.
Es ist schwer nachzuvollziehen, wie eine Gruppe von überwiegend jungen Menschen, nahezu über Nacht – zumindest aus der Außenperspektive – über so viel Macht und hochmoderne Waffen verfügt und mit immenser Grausamkeit, Hass und Wut gegen alles, was nicht in ihr Weltbild passt, organisiert und kontinuierlich zerstörerisch vorgeht. Ich frage mich: Woher kommen sie? Haben sie sich allmählich entwickelt? Waren sie so geschickt, dass niemand merkte, was sich mit dieser Ideologie anbahnt? Wer finanziert sie? Wer kauft ihnen das Öl aus den annektierten Ölfeldern ab? Wie ist es möglich, dass die Mächtigen dieser Welt, die mittels hochtechnisierten Möglichkeiten und Strategien in kurzer Zeit in der Lage sind, in weit entlegene Gebiete einzumarschieren – wie in jüngster Vergangenheit am Beispiel Irak und Afghanistan gesehen werden kann –, gegenüber einer kleinen Gruppe von Menschen machtlos sind?
Meine Ratlosigkeit in Bezug auf all diese Fragen war die Grundlage meiner Zurückhaltung, weil ich der Meinung bin, dass die Konflikte, mit denen wir aktuell zu tun haben, nicht nur aus religiöser Perspektive zu lösen sind, so sehr die theologische Auseinandersetzung damit auch notwendig ist.
Als ich schließlich das Manifest der IS-Frauen gelesen habe, um eine Antwort auf die Anfrage geben zu können, war mir bewusst, dass Zurückhaltung nicht mehr möglich ist – ein Kommentar erschien mir notwendig, um darzulegen, wie absurd und doch mächtig diese Erscheinung ist. Muslimische Stimmen sind wichtig und müssen wahr- und ernstgenommen werden.
Wie möchte ich diesen Kommentar verstanden wissen? Einerseits ist die Ideologie und der vom IS propagierte Islam derart abwegig und fern von meinem persönlichen Islamverständnis, dass ich keinen Anlass sehe, mich davon zu distanzieren.
Ferner möchte ich auch nicht ein ausdrücklich formuliertes Bekenntnis zur Moderne und Demokratie abgeben müssen, denn meine auf den Islam ausgerichtete Lebensweise ist die Bejahung einer säkularen Welt, in der der Glaube als bedeutende Komponente der individuellen Freiheit garantiert ist und in der das Gläubig-Sein als unangefochtenes Menschenrecht seine Gültigkeit hat. Die Religion muss und kann mit ihrer Dynamik im Wettbewerb mit anderen Lebensideologien zur Gestaltung einer schöpfungsfreundlichen Gesellschaft beitragen.
Der Kommentar ist stattdessen vielmehr der Ausdruck meiner Betroffenheit als Mensch und als Muslima, die die Gewalt gegen Menschen und die Zerstörung der Schöpfung in diesem Ausmaß als barbarische Tat betrachtet, der man sich mit geeigneten Mitteln zu widersetzen hat. Mein Mittel ist die Theologie, mit der ich in diesem Kommentar versuche, unter Konzentration auf drei Themenschwerpunkte – halīfāt, Wissenschaft und Frau – in Kürze zu erörtern, warum die Behauptungen des IS theologisch nicht haltbar sind. Mein Anliegen ist erfüllt, wenn meine Ausführungen zum Nachdenken beitragen und zu einer Reflektion führen, die das verzerrte Islambild in Richtung der zentralen qur’anischen Aussage rücken: Gott ist barmherzig.
Hamideh Mohagheghi