Das Kartell des Schweigens
Viele in- wie ausländische Unternehmer in Russland kennen das Wort »Raiderstwo«. Das heißt Enteignung oder Plünderung. »Der Staat oder politisch gut vernetzte Großkonzerne bedienen sich bei Justiz-, Steuer- und Kartellbehörden, die in Russland meist käuflich sind. Deren Schergen setzen ihre Opfer mit Verfahren, Razzien und dubiosen Steuernachforderungen so lange unter Druck, bis sie ihre Unternehmen aufgeben.« Beispielhaft dafür ist der Fall William Browder.
Sein Großvater war in den dreißiger und vierziger Jahren der Kopf der US-amerikanischen kommunistischen Partei, bis er 1945 von Stalin des Revisionismus beschuldigt wurde. Seine Familie litt unter der Verfolgung des durchgedrehten antikommunistischen Senators Joseph McCarthy Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre. Diese Familiengeschichte prägte William Browder. Er rebellierte.
»Wie rebellierst du gegen eine kommunistische Familie? Ich trug nur Anzüge mit Schlips und wurde Geschäftsmann.«
William Browder studierte unter anderem an der Stanford Business School. Als er dort 1989 sein Studium abgeschlossen hatte, sah er, dass sich für ihn nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der UdSSR phantastische Geschäftsmöglichkeiten boten. Russische Firmen wurden zu lächerlichen Preisen privatisiert, und William Browder erkannte die lukrative Gelegenheit, billig Unternehmen zu kaufen. Im Jahr 1995 gab ihm der New Yorker Banker Edmond Safra 25 Millionen US-Dollar, und Browder ging nach Russland, wo er binnen weniger Monate vierstellige Renditen schaffte. Er hatte den Investmentfonds Hermitage Capital aufgelegt und managte in seinen besten Zeiten über diesen Fonds mehrere Milliarden US-Dollar in Russland. »Sein Fonds ist mit Einlagen von rund drei Milliarden Dollar und 6 000 Anteilseignern einer der größten Investoren gewesen.«
Bei Gazprom wurde er über seinen Fonds ein wichtiger Aktionär und Mitglied im Gazprom-Aufsichtsrat. Eine Erfolgsgeschichte also, die zeigt, dass auch ausländische Unternehmen, sogar Hedge-Fonds, eine Chance haben, hohe Profite in Russland zu erzielen.
William Browder war auch Teilnehmer der 15. Konferenz Forum 2000 in Prag. Der zweite Tag der dreitägigen Konferenz war am 10. Oktober 2011 der ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja gewidmet und stand unter dem Motto: »Annas Tag: Geschäfte in Russland«.
An diesem Tag berichtete William Browder auf dem Panel über »die Zukunft Russlands im Hinblick auf die Auswirkungen von Kapital auf die Menschen« über seine Erfahrungen, die damit endeten, dass er 2005 aus Russland ausgewiesen, sein Besitz gestohlen und einer seiner Anwälte ermordet wurde.
Damit steht er nicht allein. Den Finanzunternehmer Alexei Koslow zum Beispiel, berichtete Kerstin Holm, die Moskau-Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ließ ein russischer Exsenator einsperren und raubte ihm seine Firma. Und das sei nur die Spitze des Eisbergs. »Urteile nach den Strafrechtsparagraphen für Betrug und Geldwäsche sind zu einer Industrie geworden, die schon Tausende Selbständige enteignet und weggesperrt hat.«
Doch der Fall des Investmentfonds Hermitage Capital und William Browder ist von einer hervorragenden Bedeutung, weil hier Finanzbeamte und Beamte des russischen Innenministeriums mit offensichtlicher Duldung – wenn nicht sogar Förderung – der obersten Spitze der Regierung betrügen und Firmen ausrauben dürfen.
Wie begann es? Als William Browder seinen Fonds Ende der neunziger Jahre auflegte, hatte er ein Ziel. Um seinen Investoren optimale Renditen zu garantieren, legte er großen Wert auf Transparenz in den Unternehmen, in denen er das Geld seiner Anleger investierte. Als Aufsichtsratsmitglied bei Gazprom hatte er theoretisch dazu die Möglichkeit. »Die Arroganz war so extrem, dass sie keine Vertuschung nötig hatten. Aber das war hilfreich für uns, weil es uns in die Lage versetzte, uns ein genaues Bild darüber zu machen, was gestohlen wurde.«
Deshalb stellte er bei Gazprom viele kritische Fragen, insbesondere nach den dubiosen Zwischengesellschaften, die für ihn keinen wirtschaftlichen Sinn ergaben, sondern nur die Aktionäre schädigen würden. Er hingegen wollte den Aktienwert von Gazprom, der nach seiner Überzeugung total unterbewertet war, steigern und damit natürlich den Profit für die Anleger seines Fonds.
Er fragte zum Beispiel, warum von den meisten Einnahmen aus den Gasverkäufen die europäischen Gasverteiler profitierten und nicht Gazprom, und belegte das unter anderem mit den Gaspreisen für Deutschland im Jahr 2002. Während der Gaspreis in Russland bei 21 US-Dollar pro tausend Kubikmeter lag und das Gas nach Deutschland für 103 Dollar verkauft wurde, mussten die Verbraucher in Deutschland dafür insgesamt 352 Dollar bezahlen. Eine Preissteigerung von 242 Prozent.
Die Analyse des Gasexports zeigte Browder, dass selbst »Kunden in denselben Ländern, die Gas von Gazprom kaufen, unterschiedliche Preise bezahlen müssen. Während in Deutschland Ruhrgas pro tausend Kubikmeter Gas 131 Dollar zahlte, waren es bei dem Zarubezhgas Management (einer hundertprozentigen Tochter von Gazprom Germania, d. Autor) nur 110 Dollar, also sechzehn Prozent weniger.« Ähnlich sei es sowohl in Österreich wie in der Schweiz.
Besonders kritisch sah er das Unternehmen Stroitransgas. Das hatte im Jahr 1995 für einen 4,83-prozentigen Anteil an Gazprom 2,5 Millionen Dollar bezahlt, obwohl der damalige Marktwert der Aktien 191 Millionen Dollar betrug. Im Mai 2002 wurde Stroitransgas von einem russischen Schiedsgericht verurteilt, seine Anteile für 2,5 Millionen Dollar wieder an Gazprom zurückzugeben. Doch entgegen der Gerichtsentscheidung zahlte Gazprom für diese Anteile nun 144 Millionen Dollar. Und Browder wunderte sich noch mehr, als er herausfand, dass Stroitransgas von Gazprom dafür bezahlt wurde, Geschäfte mit den eigenen Tochtergesellschaften zu tätigen.
Er fragte im Gazprom-Vorstand nach, ob es irgendwelche Konsequenzen für die Familienangehörigen des ehemaligen Gazprom-Managements und von Gazprom-Angestelten gegeben habe, die auf undurchsichtige Art und Weise Anteile von Sibnetgas erworben hatten. Eine zufriedenstellende Antwort erhielt er nicht.
Heftige Kritik äußerte er auch an dem Gaszwischenhändler Itera. »Gazprom war ein armes Unternehmen nur, weil es Itera reich machte. Wir schätzen, dass Gazprom dadurch, dass es die Gasverteilung an die Länder der GUS an Itera übertragen hat, pro Jahr einen Verlust von einer Milliarde Dollar für Gazprom machte.« Ihn störte auch, dass bei einem Tochterunternehmen von Gazprom sich 75 Prozent der Anteile im Besitz ehemaliger Gazprom-Manager befanden.
Alle diese Unregelmäßigkeiten, die bei Gazprom festgestellt und von William Browder moniert wurden, hatten die Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCooper (PwC) nicht entdeckt. Deshalb klagte sein Investmentfonds Hermitage gegen die internationale Wirtschaftsprüfungsgesellschaft wegen falscher und irreführender Prüfung, und er forderte das Finanzministerium auf, die Lizenz von PwC zu widerrufen. Sowohl von der russischen Regierung wie von Gazprom verlangte Browder deshalb, einen Wirtschaftsprüfer in offener Ausschreibung auszuwählen.
Aufgrund seiner Erfahrungen insbesondere in den Jahren 1999 bis 2005 forderte er im Juli 2003 vom Gazprom-Vorstand und Aufsichtsrat radikale Änderungen. Dazu gehörten, die Möglichkeiten heimlicher Gas- und Firmenverkäufe durch das Management zu eliminieren sowie die herrschende Praxis zu beenden, Materialverluste durch Ermessensspielräume von Managern zu regeln. Insbesondere forderte er Transparenz bei allen Entscheidungsprozessen des Gazprom-Direktorenvorstands. Außerdem forderte er massive Anstrengungen des Gazprom-Managements, alle in der Vergangenheit gestohlenen Vermögenswerte zurückzufordern.
Doch das Management hatte überhaupt kein Interesse und wollte lieber den Störenfried loswerden. Mit all seinen Aktivitäten verletzte Browder ein bislang ehernes Gesetz in Russland: Gerate nicht zwischen die mächtigen Leute und ihr Geld. »Er wusste, dass er sich Feinde gemacht hatte, aber sie waren unsichtbar.«
Dann, im November 2005, er kam gerade von einem Familienaufenthalt in London zurück, wurde er am Moskauer Flughafen festgenommen, sein Visum für ungültig erklärt und er in die nächste Maschine nach London gesetzt. Er war plötzlich eine Bedrohung für die nationale Sicherheit Russlands.
Zwei Jahre nach dem Einreiseverbot traf William Browder im Januar 2007 den damaligen Gazprom-Chef Dmitri Medwedew beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Der sagte ihm Hilfe zu. Die bestand darin, dass in Browders Büro in Moskau Artem Kuznetsow, ein Oberstleutnant des Moskauer Innenministeriums, anrief: »Je früher wir uns treffen und Sie bieten, was notwendig ist, um so schneller werden die Probleme gelöst werden.« Als William Browder in seinem Londoner Büro über diesen Anruf informiert wurde, wusste er, dass dieses Telefongespräch auch von der Gegenseite aufgezeichnet wurde mit dem Ziel zu dokumentieren, dass er bestechlich sei. Er ignorierte den Anruf.
Drei Monate später stürmten Oberstleutnant Artem Kuznetsow von der Finanzpolizei und Major Pavel Karpow vom Innenministerium Browders Büro in Moskau und das eines seiner Moskauer Rechtsanwälte. Alle greifbaren Dokumente sowie Computer und Firmenstempel wurden beschlagnahmt. Der Vorwurf der russischen Behörden gegen Browder-Hermitage Capital habe über Strohfirmen auf Zypern Gazprom-Aktien erworben und illegale Steuertricks angewandt. Weil bis Ende 2005 Ausländer keine Gazprom-Papiere kaufen durften und mit den weitaus teureren Anrechtsscheinen vorliebnehmen mussten, »blühte bis zur Liberalisierung des Gazprom-Aktienmarktes der graue Markt. De facto kauften zahlreiche Ausländer zu Inlandspreisen Gazprom-Aktien. Diese übliche Praxis wandte so gut wie jede Investmentbank in Russland an.« Denen geschah auch nichts – aber um gegen den Störenfried vorzugehen, war es ein ideales Instrument. Zwar konnte William Browder nachweisen, dass er für alles seine Steuern bezahlt hatte, doch das nutzte wenig.
Unter den konfiszierten Unterlagen befanden sich drei Investmentzertifikate für Firmen, die nach der Razzia sofort liquidiert wurden. Wenige Tage nachdem die Zertifikate beschlagnahmt und aus dem Firmenregister gelöscht worden waren, tauchten sie wieder auf – und zwar eingetragen auf einen neuen Besitzer. Das war Viktor Markelow, ein Mann mit einer langen kriminellen Karriere. Doch dann fand Sergei Magnitski, der Rechtsanwalt William Browders, heraus, dass der Kriminelle nur ein Strohmann war. Die Drahtzieher des Diebstahls war eine Gruppe aus dem Innenministerium und den Finanzämtern Nummer 28 und Nummer 25 in Moskau. Die Ergebnisse seiner Recherchen übergab Browders Anwalt dem zuständigen Moskauer Staatsanwalt sowie dem Innenministerium und dem FSB. Doch es kam keine Reaktion.
Am 5. Juni 2008 verfasste Rechtsanwalt Sergei Magnitski erneut eine Erklärung. Er beschuldigte, mit zahlreichen Dokumenten belegt, dass Oberstleutnant Artem Kuznetsow und dessen Kollege Major Pavel Karpow die Stempel und Gründungsdokumente der drei Hermitage-Firmen an sich genommen hätten. Wieder geschah nichts. Danach legte Magnitski den Moskauer Ermittlungsbehörden Beweise vor, wonach Major Pavel Karpow und Oberstleutnant Artem Kuznetsow die Gründungsdokumente benutzt hätten, um die Firmen von Hermitage Capital auf neue Eigentümer umzuschreiben. Mit einem fingierten Verlust soll sich dann die Gruppe Ende 2007 insgesamt 230 Millionen Dollar Steuerrückzahlung erschlichen haben. Das ist genau die Summe, die Browders Firmen zuvor an Steuern entrichtet hatten. Damit hätten die beiden Offiziere auf betrügerische Art und Weise 230 Millionen Dollar gestohlen, so Sergei Magnitski in seiner Strafanzeige. Wieder geschah lange Zeit nichts.
Am 28. November 2008 wurde er in einer überfallartigen Aktion in seiner Wohnung verhaftet. Der Vorwurf: Steuerhinterziehung. Seine Frau und seine beiden Kinder sahen ihn an diesem 28. November 2008 zum letzten Mal. In den nächsten 358 Tagen wurde er von einem ins andere Gefängnis gebracht, bis er im gefürchteten Moskauer Butyrka-Gefängnis landete. Er durfte nicht telefonieren, kein einziges Mal wurde der Besuch von seiner Frau und seinen beiden Kindern genehmigt. Er wurde schikaniert und wahrscheinlich auch gefoltert. Auf jeden Fall wurde ihm trotz ständiger Petitionen jegliche medizinische Hilfe versagt.
Das klare Ziel der ihn vernehmenden Beamten war, ihn dazu zu bringen, gegen William Browder auszusagen. Doch statt ihn zu belasten, verfasste er eine Erklärung, in der er die beiden Offiziere Artem Kuznetsow und Pavel Karpow erneut beschuldigte, an dem Steuerbetrug beteiligt gewesen zu sein. In einem Statement erklärte Sergei Magnitski gegenüber den Vernehmungsbeamten: »Als Rechtsanwalt meines Klienten erhielt ich davon Kenntnis, dass Beamte des russischen Innenministeriums wahrscheinlich Komplizen beim Diebstahl der Firmen sind und dass die gestohlenen Unternehmen benutzt wurden, um vom Staatsbudget 5,4 Millionen Rubel (230 Millionen Dollar) zu stehlen.«
Ein Jahr nach seiner Verhaftung, am 16. November 2009, starb der 36-jährige Anwalt im Gefängniskrankenhaus. Ob seine Krankheit nicht behandelt wurde und er keine Medikamente erhielt, obwohl er ständig darum gebeten hatte, oder ob er an den Folgen der Misshandlungen gestorben ist – bislang gibt es keinerlei Aufklärung über die Ursachen seines Todes.
Nach dem Tod von Sergei Magnitski erklärte Zoya Swetowa, ein Mitglied der Moskauer Menschenrechtsorganisation Oversight Commission, dass es ein »beabsichtigter Tod« war. Und ein weiteres Mitglied der Menschenrechtsorganisation, Andrei Babuschkin, sagte: »Sergei Magnitski wurde ermordet, um den Betrug zu verschleiern, den er aufgedeckt hat.« Ludmila Alekseiwa, ein Vorstandsmitglied der Moskauer Menschenrechtsorganisation Helsinki-Gruppe, erklärte: »Sergei Magnitski starb durch reguläre Folter, die von Beamten des Innenministeriums angewiesen wurde.«
Das stimme alles nicht, widersprach Angelika Kastujewa, die Sprecherin des Innenministeriums in einer Stellungnahme: »Der Gefangene verstarb aufgrund von Herzinsuffizienz.«
Der plötzliche Reichtum der Räuber aus dem Innenministerium
Während Sergei Magnitski im Gefängnis massiv unter Druck gesetzt wurde, um seine Aussagen über Artem Kuznetsow und Pavel Karpow zu widerrufen, kam es bei beiden Offizieren zu einer wundersamen Geldvermehrung. Sie, die verantwortlich dafür waren, dass Sergei Magnitski in einer dunklen Zelle inhaftiert war, genossen zur gleichen Zeit das süße Millionärsleben trotz eines bislang eher mageren Einkommens.
Oberstleutnant Artem Kuznetsow reiste nach Dubai, Kuba, Paris, war dreimal in Italien, jettete in einer Privatmaschine zusammen mit seiner Frau zu einem Kurzurlaub nach Zypern und residierte im Luxushotel Londa in Limassol. Seine Eltern waren in der gleichen Zeit – wie bei einem Lottogewinn – von einem Tag auf den anderen geradezu unermesslich reich geworden. Die beiden Pensionäre mit einer monatlichen Rente von je 180 US-Dollar kauften in Moskau Immobilien im Wert von 3,2 Millionen Dollar. Hinzu kamen noch zwei teure Range Rover und ein Mercedes-Benz SLK 200. Alle Luxusfahrzeuge wurden auf die beiden Pensionäre eingetragen. Kuznetsow selbst wurde befördert: vom Büro gegen Steuerkriminalität der Stadt Moskau zum FSB, Abteilung für wirtschaftliche Sicherheit.
Sein Kollege Major Pavel Karbow vom Innenministerium, dessen Monatseinkommen 2008 noch rund 535 US-Dollar betrug, genoss die neue Situation ebenfalls. Er dinierte in den edelsten Moskauer Restaurants und feierte in Nobeldiskotheken. Besonders viel dachte er jedoch – genauso wie sein Freund und Komplize Artem Kuznetsow – an seine Eltern. Das monatliche Einkommen seiner Eltern belief sich im Jahr 2007 auf umgerechnet 550 US-Dollar. Am 27. November 2008 wurde im Grundbuch der Stadt Moskau Karbows Mutter als Besitzerin eines Appartements im Wert von 930 000 US-Dollar eingetragen. Dazu kamen zwei Grundstücke außerhalb Moskaus im Wert von 120 000 Euro. Seine Eltern kauften sich außerdem einen neuen Audi A3 im Wert von 47 000 Euro und einen gebrauchten Porsche 911 Carrera für 41 000 US-Dollar. Der Major ließ auf seinen eigenen Namen einen Mercedes Benz 280 für 72 610 US-Dollar und einen Porsche Cayenne im Wert von 126 000 US-Dollar eintragen. Und er unternahm im Jahr 2008 zahlreiche Reisen: nach Großbritannien, in die USA, nach Italien, Barcelona, Wien, Griechenland, zweimal nach Zypern und Dubai; er machte zwei Wochen Urlaub in der Karibik . Auch ihm wurde ein profitabler Karrieresprung beschert: vom Ermittler der Moskauer Abteilung des Innenministeriums zum Mitglied des Untersuchungskomitees des russischen Innenministeriums.
Diejenigen vier Mitarbeiter des Moskauer Finanzamtes Nr. 28, die vor Weihnachten 2007 innerhalb eines Tages die Steuerrückerstattung der geraubten Hermitage-Unternehmen ohne jegliche Prüfung genehmigten, profitierten in besonderem Maße von dem Betrug. Addiert man ihre neuen Vermögenswerte, kommt man auf die Summe von mindestens 43 Millionen Dollar.
Am meisten profitierten Olga Stepanowa, die Leiterin des Finanzamts 28, und ihr Ehemann Vladlan Stepanow. In der Zeit von 2006 bis 2008, so geht aus ihren Steuerunterlagen hervor, verfügten sie über ein jährliches Einkommen von immerhin 38 381 US-Dollar. Vladlan Stepanow gründete am 26. Januar 2008 die in Nicosia eingetragene Arivust Holding. Von hier aus wurden auf ein Konto bei der Credit Suisse in Zürich hohe Summen überwiesen. Innerhalb eines Monats waren das 7,1 Millionen US-Dollar. Außerdem wurde von ihm auf den Virgin Islands eine weitere Gesellschaft gegründet, die Aikate Properties. Hier gingen zwei Einzahlungen in Höhe von 750 000 und 650 000 US-Dollar ein. Gleichzeitig investierten die Leiterin des Finanzamtes 28 und ihr Ehemann elf Millionen US-Dollar in Immobilien in Moskau, aber diesmal im Namen von Vladlan Stepanows Mutter. Eine Villa in Bar, Montenegro, war für das Ehepaar Olga und Vladlan Stepanow selbst gedacht. Wert: 471 000 US-Dollar. Und sie reisten jetzt viel, allein neunmal nach Dubai, wo sie sich 95 Tage aufhielten. Wahrscheinlich um endlich eine ihnen angemessene Villa zu finden. Drei Millionen US-Dollar investierten sie in das gefundene Objekt. Für 455 Quadratmeter, Kinoraum, sieben Badezimmer und sechs Schlafzimmer muss man schon einiges hinlegen. Im Kempinski-Hotel in Dubai kauften sie noch zwei Luxusappartements – laut den Hotelunterlagen – im Wert von 2,6 Millionen US-Dollar.
Olga Stepanowa, die Chefin des Finanzamtes Nummer 28, die urplötzlich mit ihrem Mann zu sagenhaftem Reichtum gekommen ist, hat unterdessen ihren Posten beim Finanzamt verlassen. Sie arbeitet nun für eine neue Agentur, die von Dmitri Medwedew gegründet wurde und die Aufgabe hat, die Beschaffung und Verteilung der Polizei- und Militärausrüstungen für die Sicherheitsdienste und das Militär zu kontrollieren.
Kein einziger der Beteiligten an diesem Riesenbetrug wurde bislang angeklagt, geschweige denn verurteilt. Für die rechtskonservative Erika Steinbach, Vorsitzende der Arbeitsgruppe Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ist der Fall des Rechtsanwalts Sergei Magnitski »beispielhaft für gravierende Mängel im russischen Justizsystem … Das Interesse seitens der russischen Regierung an der Strafverfolgung der Täter und der Hintermänner scheint gering.«
Bei Stellungnahmen der deutschen Konservativen weiß man leider nie genau, ob hier nicht doch der jahrzehntelange Antikommunismus die Feder führt. Aber von dieser Presseerklärung abgesehen, war von deutschen Politikern, insbesondere aus der SPD, keine einzige klare Stellungnahme bekannt.
Während der Anwalt Sergei Magnitski in Moskau im Gefängnis saß, versickerten die anderen gestohlenen Werte des Investmentfonds Hermitage Capital in dubiosen Banken und Firmen. »Das gestohlene Kapital«, so eine Untersuchung des Organized Crime and Corruption Reporting Projektes (OCCRP) über eine russische Geldwaschanlage, »wurde über eine Reihe von Unternehmen geschleust, unter anderem der Nomirex Trading in Birmingham. Nomirex ist Teil einer internationalen Geldwäscheplattform und wird von verschiedenen bedeutsamen Kriminellen für Geldwäsche benutzt, insbesondere von asiatischen kriminellen Organisationen.« OCCRP hat auf seiner Webseite http://www.reportingproject.net alle entsprechenden Dokumente veröffentlicht.
Im Zusammenhang mit Geldwäsche der gestohlenen Gelder des Investmentfonds Hermitage Capital nennt William Browder auch eine österreichische Bank, die Raiffeisen Zentralbank International in Wien. Demnach sei ein Teil des Geldes von Hermitage über Korrespondenzbanken zweier Moskauer Finanzfirmen, der Interkommerzbank und der Universal Savings Bank (USB), bei der Raiffeisen Zentralbank International deponiert und gewaschen worden. Die Universal Savings Bank taucht auch in den Geldwäschestrukturen auf, die von der OCCRP ermittelt wurden. Den Vorwurf der Geldwäsche und Verwicklung in Steuerbetrug in Russland wies die Raiffeisen Zentralbank entrüstet zurück. Entsprechende Ermittlungen der Finanzmarktaufsicht in Wien jedenfalls wurden eingestellt.
Damit gab sich William Browder in London jedoch nicht zufrieden. Mitte Dezember 2011 wurde bekannt, dass das Landgericht Wien nun über eine Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die Raiffeisen Zentralbank wegen des Verdachts auf Verwicklung in Geldwäsche entscheiden muss.
Nachdem die US-Regierung aufgrund der Vorfälle um den ungeklärten Tod von Rechtsanwalt Sergei Magnitski im Juli 2011 gegen mehr als sechzig in den Skandal verstrickte russische Personen ein Einreiseverbot verhängt hatte, antwortete Russland in der altbewährten Art und Weise. Elf amerikanische Beamte wurden im Oktober 2011 zu unerwünschten Personen erklärt. Es seien Beamte, die in kriminelle Handlungen gegen russische Bürger und in andere Verletzungen der Menschenrechte verstrickt seien, so Alexander Lukaschewitsch, der Sprecher des russischen Außenministeriums in einer Presseerklärung. Alexander Lukaschewitsch, der von 2002 bis 2006 in der Bonner Außenstelle der russischen Botschaft als zweiter Sekretär gearbeitet hatte, erwähnte die Folter von Verhafteten in Guantánamo und das Töten von Zivilisten im Irak und in Afghanistan als mögliche Gründe für das Einreiseverbot. »Die Angelegenheit ist noch nicht zu Ende. Wenn die USA weiterhin den Weg der Visakonfrontation gehen, werden wir die Liste erweitern.«
Anfang Februar 2012 wurde aus Moskau gemeldet, dass Sergei Magnitski posthum wegen Steuerhinterziehung angeklagt werden wird. Auch William Browder soll der Prozess unter anderem wegen Steuerhinterziehung gemacht werden. Die Angehörigen von Sergei Magnitski reagierten mit Empörung auf die Anklage und sahen sie als Revanche des FSB dafür, dass dessen Mitarbeiter der Bestechung und des Diebstahls von 230 Millionen US-Dollar beschuldigt wurden. Gegen die korrupten Mitarbeiter der Sicherheitsbehörde und des Finanzamtes gab es weder Ermittlungen noch eine Anklage.