»Kim ist verschwunden.« Charlie Sprague klang ein bisschen betrunken. Ich war den ganzen Tag mit Charlie zusammen draußen an der Biscayne Bay angeln gewesen und danach früh zu Bett gegangen. Sein Anruf riss mich aus einem Tiefschlaf, wie er einem nur nach einem Tag an der frischen Luft vergönnt ist – mit Bewegung und ein paar gut gekühlten Bieren zu viel. Ich war in mein Hotelzimmer zurückgekehrt, hatte kalt geduscht und war ins Bett gefallen. Sogar das Essen hatte ich mir gespart.
Dann klingelte mein Telefon. Laut der Leuchtanzeige meiner Uhr war es 22:37. Ich war im Marriott in der Lejeune Road in Coral Gables, Florida, abgestiegen, einem stinkvornehmen Vorort von Miami. Charlie hatte mich eingeladen, bei ihm zu Hause zu übernachten, aber dabei wäre ich mir aufdringlich vorgekommen, besonders so kurz vor den Feiertagen. Als ich seinen Vorschlag ablehnte, bot er mir an, mich in einer Suite im Sheraton unterzubringen.
Geld war für Charlie kein Problem – er war ein milliardenschwerer Bauunternehmer und verheiratet mit einer Schönheitskönigin, er besaß eine Jacht und eine Villa am Wasser, und manche Menschen behaupteten, für Charlie Sprague sei überhaupt nichts ein Problem.
Auch das Angebot mit der Suite lehnte ich ab.
Ich begleiche meine Rechnungen gerne selbst und brauche eigentlich nicht mehr als ein Bett und eine Dusche. Zu dem Treffen der Marines aus unserer alten Einheit war ich eigens aus Nebraska angereist.
Charlie hatte die Idee gehabt, uns alle zusammenzutrommeln, ein bisschen gemeinsam zu angeln, bei ein paar Bier Erinnerungen auszutauschen – jedenfalls die schönen. Er hatte erklärt, dass er bis zum Hals in Arbeit stecke, das größte Bauprojekt seines Lebens – es ging ums Ganze –, und jetzt brauche er einfach mal eine Pause zwischendurch. Ich war nicht sicher, was »das Ganze« in Charlies Fall umfasste, und eigentlich bin ich auch kein Freund von Wiedersehenstreffen oder sentimentalen Erinnerungen, aber was soll’s? Semper Fi.
Also packte ich meine Sachen in die 74er Corvette, die mein alter Herr liebevoll wieder hergerichtet und »Blue« getauft hatte. Ich fuhr wahnsinnig gerne mit Blue, weil es ein toller Wagen war und er mich an meinen Dad erinnerte, der ein ebenso toller Mann gewesen war. Viel zu packen gab es nicht, ein paar Klamotten und meinen .38er S&W Model 2, den ich in einen Waffensafe unter dem Bodenblech im Fußraum der Beifahrerseite schloss.
Ohne den .38er gehe ich selten irgendwohin.
Die Fahrt nach Florida war eine Reise durch Raum und Jahreszeiten. Im Winter fuhr ich los und kam im Sommer an. Schnee wurde von Sonnenschein verdrängt, der graue Himmel von einem blauen, kahle Eichen von grünen Palmen, vereiste Flüsse von warmen Meeren.
Da waren also Charlie, Travis Forbes, Ricky Villalobos, Justin Michetti, DeAndre Cooper und ich. Wir hatten Spaß, fingen viele Fische und tranken auf abwesende Freunde, von denen es nicht allzu viele gab. Und lachten über unsere gemeinsame Zeit im Irak und dem Militärkrankenhaus in Landstuhl. Man erinnert sich immer lieber an die Zeiten, in denen es etwas zu lachen gab, als an die anderen.
In Deutschland hatten wir nicht viel gelacht, aber genug, um es zu überstehen.
Das Wiedersehenstreffen war schön.
Die anderen wollten Weihnachten zu Hause bei ihren Familien sein, aber mir bot Charlie an, noch ein paar Tage länger zu bleiben.
»Komm schon, Deck«, sagte er. »Ich kann jemanden gebrauchen, der nicht andauernd nur über kumulierte Kostenabschreibung, Höchstzinssätze oder Pachtpreisanpassungsklauseln mit mir reden will.«
Ich wusste nicht mal, was das war. Zu Hause wartete nichts – und niemand – auf mich, und so beschloss ich, ein oder zwei Tage dranzuhängen.
Irgendwie hatte ich mich darauf gefreut, Weihnachten alleine in meinem Blockhaus zu verbringen. Ein ausführliches Frühstück, ein Spaziergang durch die Winterlandschaft am Fluss, Truthahn aus der Mikrowelle – der mir tatsächlich schmeckt –, ein gutes Buch. Die Einladungen von Freunden, die Mitleid mit dem frisch Geschiedenen hatten, hatte ich bereits höflich abgelehnt.
Wenn ich eins im vergangenen Jahr gemerkt habe, dann dass ich eigentlich ganz gerne alleine bin.
Jetzt wiederholte Charlie: »Sie ist verschwunden, Deck.« »Bleib ganz ruhig«, sagte ich. »Wie lange schon?« »Seit sechs Uhr«, erwiderte er. »Sie meinte, sie wolle nur ein paar Weihnachtseinkäufe machen. Aber die Geschäfte sind seit anderthalb Stunden geschlossen.«
»Wahrscheinlich hat sie eine Freundin getroffen«, sagte ich, »und ist was mit ihr trinken gegangen.«
»Ich hab versucht, sie anzurufen«, erklärte Charlie. »Aber die Mailbox ging sofort an.«
»In Bars ist es oft sehr laut. Vielleicht hat sie’s nicht gehört.«
»Auf meine SMS reagiert sie auch nicht.«
Wieder versuchte ich, ihn zu beruhigen, aber ich hatte Charlie auch schon vor Falludscha gekannt. Wenn er sich erst mal aufregte, halfen keine beschwichtigenden Worte mehr.
Außerdem wusste ich, dass Charlie seine Frau liebte. Warum auch nicht? Kim Sprague war ebenso liebreizend wie schön. Klug, witzig, herzlich – alles, was Charlie sich von einer Ehefrau nur wünschen konnte.
»Ich bin in zwanzig Minuten bei dir«, sagte ich. »Nein, wir treffen uns im Einkaufszentrum.« »Hältst du’s für eine gute Idee, wenn du jetzt Auto fährst?«, fragte ich. »Ich sitze schon im Wagen«, entgegnete er und ignorierte meine Frage. »Kennst du das Merrick Park Village?« Zehn Minuten die Straße runter. »Wir sehen uns dort.« Er legte auf. Ich stieg in meine Jeans, schlüpfte in ein anständiges Hemd und die guten Schuhe, die ich mir extra für den Abend zugelegt hatte, an dem wir alle essen gegangen waren. Wenn Kim wirklich vermisst wurde, dann würden Cops auftauchen, und die schauen zuallererst auf die Schuhe.
Das weiß ich genau, weil ich selbst mal einer war.
Das Merrick Park Village war eine edle Einkaufsmeile mit Palmen, Springbrunnen, überdachten Rolltreppen, Eigentumswohnungen, Restaurants, Bars und Geschäften – Tiffany’s, Nordstrom, Neiman-Marcus, Luis Vuitton – das Übliche.
Blue wirkte im Parkhaus neben den neuesten Modellen von Mercedes, Land Rover und Jaguar deplaziert. Sah man im »Village« einen Camry oder einen Focus, dann gehörte er vermutlich einem der hier Beschäftigten.
So war Coral Gables.
Eine der ersten im Zuge des Immobilienbooms 1922 in Florida auf dem Reißbrett entstandenen Gemeinden. Normalerweise fallen mir bei »Immobilienboom« und »Florida« Filme der Marx Brothers ein, die in Sümpfen spielen, in denen es von Alligatoren nur so wimmelt, aber das hier hatte nichts damit zu tun.
Ein gewisser Merrick hatte von seinem Vater weit über tausend, mit Kiefern und Zitrusbäumen bewachsene Hektar am Rande von Miami geerbt und dort eine Siedlung entstehen lassen, in der sich bewusste urbane Planung auf sozial harmonische Weise mit architektonischer Schönheit verband.
An sich keine schlechte Idee.
Die Gebäude wurden und werden größtenteils nach wie vor im neuen mediterranen Stil erbaut – prachtvolle Fassaden, Stuck, rote Ziegeldächer. Üppige Gärten und Springbrunnen an zentralen Stellen, die das Stadtbild prägen.
Aber dann wurde das Ganze in Bezirke aufgeteilt.
Merrick war ein Zonenfreak, der alles strikt in separate Wohn-, Einkaufs- und sonstige öffentliche Bereiche trennte. Er schuf Parks und Golfplätze, gründete die University of Miami und ist bis heute der größte Arbeitgeber in Coral Gables.
Leider war er außerdem auch noch ein Rassist, der freudig dem Tag entgegensah, an dem Miami und Umgebung dauerhaft von sämtlichen afroamerikanischen Einwohnern befreit sein würden, wobei er nie genau umriss, wie dieser Zustand herbeizuführen sei.
Vermutlich mit Hilfe von Bussen. Und einer hohen Mauer. Aber ich musste zugeben, dass Coral Gables schön war.
Tatsächlich bezeichnet sich die Stadt selbst als »The City Beautiful«. Es leben dort etwas über 50 000 Einwohner, von denen neunzig Prozent »weiß« sind oder aus Kuba stammen, was Merrick sicher sehr glücklich gemacht hätte. Zyniker führen die drei Prozent Afroamerikaner auf das Footballteam zurück, dessen Fan Merrick kaum gewesen sein dürfte.
Charlie stand an Parkplatz 212 neben einem silberfarbenen Mercedes der S-Klasse, Baujahr 2014. Sein eigener Wagen, ein dunkelgrüner Mustang, parkte daneben. Ich konnte mich noch daran erinnern, als er ihn gekauft hatte. Mein Dad hatte mir ein paar DVDs zum Stützpunkt geschickt, unter anderem Bullitt. Bei der legendären Verfolgungsjagd meinte Charlie: »Bei Ford gibt’s ein Bullitt-Sondermodell, das will ich haben.«
Er loggte sich in den Computer ein und bestellte es sich online.
Einfach so.
Mit der Begründung, dass er sich auf etwas freuen wollte, wenn er nach Hause kam. Da merkten wir zum ersten Mal, dass Charlie aus einer reichen Familie stammte.
Jetzt stand er vor dem Wagen, daneben parkte der seiner Frau.
Charlie war circa eins achtundsiebzig und hatte seit unserer gemeinsamen Zeit bei der Army nur ein paar wenige Pfund am Bauch zugelegt. Sein maßgeschneidertes blaues Hemd steckte in einer beigefarbenen Hose, und dazu trug er Mokassins ohne Socken. Sein lockiges braunes Haar war immer noch dicht und altmodisch lang – seine einzige rebellische Geste, mit der er darauf hinwies, dass er kein fondsverwöhnter Erbe, sondern bereit war, mit Konventionen zu brechen.
Früher hatten Frauen Charlies Gesicht als »jungenhaft hübsch« beschrieben, es war rund und von einer Sorte Falten gezeichnet, die nur entstehen, wenn man sein Leben größtenteils gut gelaunt verbringt. Und das hatte Charlie getan – er war freundlich, positiv, großzügig, lächelte stets.
Jedenfalls auf der rechten Seite.
Seine linke Gesichtshälfte war weder jungenhaft noch hübsch.
Die verhärteten Brandnarben – verschmolzene rote Haut – reichten vom Hals über die linke Wange bis an sein Auge. Die Chirurgen hatten großartige Arbeit geleistet – zunächst die Ärzte im Militärkrankenhaus in Landstuhl, später die besten Schönheitschirurgen des Landes, die Charlies Eltern nach seiner Rückkehr engagiert hatten. Trotzdem konnte man bei seinem Anblick erschrecken, wenn man ihn nicht kannte und nicht wusste, wie es dazu gekommen war.
»Das ist Kims Wagen«, sagte er, als ich ausstieg.
Mir kam es ein bisschen seltsam vor, dass sie offensichtlich darauf verzichtet hatte, den Parkservice in Anspruch zu nehmen, aber vielleicht war bei ihrer Ankunft zu viel los gewesen und sie hatte nicht warten wollen. »Hast du Ersatzschlüssel dafür?«
Natürlich hatte er welche, er war ja Charlie. Er ging immer auf Nummer sicher. Er reichte mir die Schlüssel, und ich schloss die Fahrertür auf, ohne den Wagen zu berühren. Kein Parkschein.
Charlie war schneller als ich. »Ich mecker immer an ihr herum, damit sie ihn mitnimmt. Falls jemand den Wagen klaut.«
Keine Handtasche, kein Handy.
Nichts, was auf einen Kampf oder etwas Ungewöhnliches hinweisen würde.
Keine Schleifspuren auf dem Betonboden.
Ich machte mir keine Sorgen. Ich war immer noch ziemlich sicher, dass mein erster Instinkt richtig war – sie hatte jemanden getroffen und war etwas trinken gegangen, hatte die Zeit vergessen. Wobei ich zugeben muss, dass Kim so was nicht ähnlich sah.
Ich kannte sie nicht gut – ich war Trauzeuge bei der Hochzeit gewesen, hatte sie aber erst während der Vorbereitungen für die Feierlichkeiten kennengelernt.
Sie war eine absolute Wucht.
Blond, blaue Augen, gleichmäßige Gesichtszüge, volle Lippen.
Und eine Figur ...
Sie war das klassische »Mädchen von nebenan« aus dem Playboy.
Meine damals Noch-Ehefrau Laura war mit mir zur Hochzeit gefahren und hatte behauptet, sie »hätte das Luder gehasst«, wenn sie bloß nicht »so verdammt nett« gewesen wäre.
Das war sie wirklich.
Ein typisches Südstaatenmädchen mit einer Stimme wie zuckersüßer Eistee und einer aufrichtigen Herzlichkeit, die Laura sofort für sie einnahm, obwohl sie sich ansonsten nicht leicht bezirzen ließ. Man hätte Kim, die früher Cheerleaderin, Schönheitskönigin und Model war, für ein typisches Barbiepüppchen halten können, wäre sie nicht auch noch schlau gewesen. Sie hatte einen BA in Grundschulpädagogik mit Summa cum laude an der University of Florida gemacht, und das besondere Talent, mit der sie die Wahl zur Miss Florida gewonnen hatte, war nicht etwa Tambourstockschwingen oder Synchronkauen im Chewing-Gum-Contest, sondern Klavierspielen gewesen.
Kim war ein Hauptgewinn und Charlie klug genug, um das zu kapieren.
»Die Frau ist eine Anschaffung fürs Leben, nicht nur vorübergehend gemietet«, raunte er mir zu, nachdem ich sie kennengelernt hatte. Aus dem Mund jedes anderen hätte es anzüglich geklungen, aber Charlie war einfach so. Dann scherzte er: »Als kostenloser Bonus kommt dazu, dass mir Schwiegereltern erspart bleiben.«
Er erzählte mir, Kims Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Kim noch auf dem College war.
»Das erklärt alles«, meinte Laura im Bett unseres Hotelzimmers, wo ich ihr abends davon erzählte.
»Erklärt was?« »Die Traurigkeit in ihren Augen«, erwiderte Laura. Mir war sie nicht aufgefallen. »Der Verlust macht sie gefühlvoll«, setzte Laura hinzu. Am nächsten Morgen kam Kim schüchtern zu mir: »Deck, ich habe niemanden, der mich zum Altar führt. Charlie hält die allergrößten Stücke auf dich, und ich finde dich auch so nett, dass ich mich gefragt habe, ob ... ich weiß, das ist viel verlangt ...«
»Es wäre mir eine große Ehre«, sagte ich.
Die Hochzeit fand vor achthundert geladenen Gästen in der Presbyterian Church in Granada statt. Charlie erzählte mir damals, dass weder er noch Kim eine so große Hochzeit wollten – lieber wäre er nach Las Vegas durchgebrannt, aber er meinte: »Wenn man Charles Hanning Sprague der Dritte ist, sind die Erwartungen hoch.«
Er war zwar Charles Hanning Sprague der Dritte, aber niemand, absolut niemand durfte ihn jemals »Trey« nennen.
Jedenfalls nicht zweimal.
In der Kirche war die Seite des Bräutigams völlig überfüllt, nahm zusätzlich Sitzreihen auf der anderen, der Seite der Braut, in Anspruch.
Charlie gab mir einen kurzen Abriss der sozialen Zusammenhänge: seine Eltern, seine Geschwister und der Rest der Familie, sowie Freunde; weißer angelsächsischer Geldadel aus Miami in pastellfarbenen Blazern und khakifarbenen Hosen; die »Geschäfts«-Freunde, die eingeladen werden mussten, und dann ein bunt gemischter Rest aus altem Geld, Country-, Golf- und Jacht-Club; eine Reihe von Kubanern, die, seit Castro an der Macht war, mit ihren Familien hier lebten; außerdem ein paar Russen, »neureiche Iwanskis«, wie Charlie sie nannte, die er nicht besonders mochte, aber auch nicht uneingeladen lassen konnte.
Dann waren da seine Kumpels von den Marines – ich, Travis, Ricky und DeAndre als Trauzeugen.
Kims Seite war spärlicher besetzt, wie man sich denken kann bei einem Einzelkind, dessen Eltern bereits verstorben waren. Ein paar Cheerleader und Collegefreundinnen, auch ein paar Bekannte aus ihrer Zeit als Model, aber das war’s auch schon.
Man sagt, alle Bräute sind schön, und das stimmt auch, Kim aber sah atemberaubend aus. Ich bin sicher, dass Laura und jede andere Frau das Kleid hätten beschreiben können, aber mir fehlen dafür die Begriffe. Es muss genügen, wenn ich sage, dass es weiß und glamourös war. Als wir am Anfang des Mittelgangs standen, sah ich, dass Kim Tränen in den Augen hatte.
»Denkst du an deine Eltern?«, fragte ich. Sie nickte: »Ich wünschte, sie könnten jetzt hier sein.« »Sie haben die besten Plätze im Haus, Kim.« Ich führte sie den Gang entlang zum Altar und übergab sie Charlie. Mir fiel auf, dass sie heimlich die vorgesehenen Seiten getauscht hatten, sodass Charlie den Gästen jetzt seine »gute« Hälfte zuwandte.
»Meinst du, sie zieht das durch?«, hatte er mich am Abend zuvor nach ein paar Whiskeys gefragt.
»Wie meinst du das?«
»Du weißt, wie ich das meine«, sagte er. »Herrgott noch mal, ich seh aus wie ein Bösewicht aus Batman.«
»Two-Face.« In Landstuhl hatten wir Witze darüber gemacht, weil wir dann wenigstens etwas zu lachen hatten, wie Charlie meinte.
»Sie liebt dich, du Blödmann«, sagte ich.
Er grinste. »Ja, das tut sie. Hast du nicht ein paar kluge Ratschläge für mich? Das gehört zu deinen Aufgaben als Trauzeuge.«
»Behandle sie gut.« Damals dachte ich noch, Laura und ich würden für immer zusammenbleiben. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich sie immer gut behandelt habe, bis ich sie verließ.
Der Empfang fand im Coral Gables Country Club statt, zu dessen Gründungsmitgliedern die Spragues gehörten. Es schien, als wären hier noch mehr Leute als bei der eigentlichen Trauung, und ich wollte mir gar nicht vorstellen, was das alles gekostet haben mochte.
Herkömmlicherweise übernehmen natürlich die Eltern der Braut die Kosten der Hochzeit, aber soweit ich wusste, kamen Charlies Eltern gerne dafür auf. Sie freuten sich, dass er jemanden gefunden hatte, und dann auch noch ein so liebes Mädchen wie Kim. Anscheinend hatte es in der Familie »Gerede« darüber gegeben, dass Charlie fast zehn Jahre älter war als seine Braut, aber Charlies Vater hatte dem Ganzen rasch ein Ende gemacht, indem er erklärte: »Ich bin auch zehn Jahre älter als seine Mutter.«
Ich mochte Charlies Eltern. Charlie senior und Evelyn waren unglaublich nett zu mir, als sie ihren Sohn in Deutschland besuchten. Auch für sie muss das eine schwere Zeit gewesen sein, aber sie lächelten immer, wenn sie zu mir ans Bett kamen, und wenn sie Charlie etwas mitbrachten, bekam auch ich etwas. Als ich entlassen wurde, luden sie mich sogar ein, bei ihnen zu wohnen.
Was ich nicht tat, aber ich freute mich darüber. Das hätten sie nicht tun müssen. Jedenfalls war der Hochzeitsempfang das, was die Zeitungen unter einem »glanzvollen Ereignis« verstehen. Wer nicht eingeladen war, hatte in der Gesellschaft von Miami nichts zu melden.
Politiker, Geschäftsleute, Berufspromis – alle kamen vorbei, um sich von den Fotografen ablichten zu lassen.
Das Essen war unglaublich – Hummerscheren und Filet Mignon – selbstverständlich freie Auswahl an der Bar und dazu eine vollständige Live-Band. Den größten Teil der Zeit verbrachte ich mit meinen alten Kumpels von den Marines. Ich schätze mal, wir fühlten uns alle ein kleines bisschen fehl am Platz, aber Kim kam öfter bei uns vorbei, versuchte uns mit einzubeziehen, und Laura drängte mich ein paarmal streng, mich unter die Leute zu mischen.
Vor meiner Trauzeugenrede hatte ich eine Scheißangst.
Ich bin’s nicht gewohnt, in der Öffentlichkeit zu sprechen.
Aber ich wusste, dass es zu meinen Pflichten gehörte, und als es so weit war, stand ich auf, klopfte – wie das so üblich ist – mit einem Löffel an ein Glas und räusperte mich. An viel kann ich mich nicht mehr erinnern, nur dass ich meine Rede mit einem Zitat von Sophokles beschloss: »Ein einzi- ges Wort befreit uns von der Last und dem Leid des Lebens, und dieses Wort heißt ›Liebe‹.«
»Sophokles?«, hatte Charlie gefragt, als ich mich wieder setzte. »Wer hätte gedacht, dass du ein solches intellektuelles Schwergewicht bist.«
Das bin ich gar nicht, aber im Krankenhaus hatte ich viel Zeit zum Lesen gehabt.
Jetzt stand ich mit Charlie im Parkhaus des Merrick Park Village und sagte: »Ein paar Bars sind bestimmt noch geöffnet.«
Charlie kritzelte etwas auf einen Zettel und legte ihn aufs Armaturenbrett. »Ruf mich an!«
Wir schlossen den Wagen ab und gingen auf die Einkaufsmeile. Vier Kneipen hatten noch auf – das Villagio, das Sawa, das Crave und das Yardhouse.
Kim war in keiner davon. »Sonst noch was in Fußnähe?«, fragte ich Charlie. »Ein Einkaufszentrum, das Miracle Mile«, sagte er. Wie sich herausstellte, war es nur eine halbe Meile lang, aber wenn man auf beiden Seiten shoppte, kam man vermutlich schnell auf eine ganze und musste sich um kein Wunder betrogen fühlen.
Wobei das, was man landläufig unter einem Wunder versteht, offenbar stark an Wert verloren hat.
Früher war damit so etwas wie die Heilung Aussätziger gemeint, die Auferstehung von den Toten oder ein tatsächlich sinnvolles, vom Kongress verabschiedetes Gesetz, inzwischen aber wurde der Begriff anscheinend nur noch im überteuerten Einzelhandel verwendet. Vielleicht bestand das eigentliche Wunder darin, dass sich überhaupt jemand dieses Zeug leisten konnte.
Boutiquen, Juweliere, Brautmoden, Cafés, Restaurants und ein hübsches Theater, die Straße war von Palmen gesäumt. Wir klapperten alles ab, wo Charlie und Kim regelmäßig hingingen, oder wo sich Kim öfter mit ihren Freundinnen zum Lunch verabredete. Tarpon Bend, Season’s 52, der Open Stage Club, The Bar, The Local.
Keine Kim. »Hat sie eine beste Freundin?«, fragte ich. »Erinnerst du dich nicht an Sloane?«, fragte Charlie.
»Ihre Trauzeugin?« Doch, ich erinnerte mich an Sloane. Meiner Erfahrung nach haben schöne Frauen auch schöne beste Freundinnen, und Sloane war beides, aber auf ganz andere Art als Kim. Sie hatte dunkelbraune Haare, war sehr zierlich, vielleicht eins zweiundsechzig groß, und hatte eine dank Fitnessstudio und vielleicht auch Schönheitschirurgie perfekte Figur. Ihr Gesicht war braungebrannt, und auf der Nase hatte sie einen winzig kleinen Höcker, der sie interessant machte, aber am auffälligsten waren ihre Augen.
Dunkelbraun und durchdringend sah sie einen direkt an, im vollen Wissen um die Wirkung, die sie damit erzielte.
Wenn Kim liebenswürdig war, dann war Sloane bissig. Wenn Kim sanft war, war Sloane spitz. Wenn Kim mit dem gedehnten Akzent der Südstaaten sprach, hörte man Sloanes Stakkato die New Yorkerin an. Kim war witzig, Sloane scharfzüngig.
Beim Hochzeitsempfang hatte sie es auf die Russen abgesehen.
»Erst haben wir Juden uns Florida unter den Nagel gerissen«, schimpfte sie selbstkritisch. »Dann kamen die Kubaner, wobei die wenigstens noch interessantes Essen und tolle Musik mitgebracht haben und wissen, wie man sich anzieht. Die Kubanerinnen sind atemberaubend schön. Aber diese Russen orientieren sich modisch an TV-Wiederholungen von Miami Vice, die Frauen sehen aus wie Statistinnen aus der Copacabana-Szene in GoodFellas, und die russische Küche – da fällt mir nicht mal mehr eine Filmanalogie ein, das Zeug schmeckt ihnen ja nicht mal selbst. Wahrscheinlich haben sie ihr Mutterland verlassen, um endlich mal anständig zu essen. Ich meine, schau dir an, wie die essen.«
Tatsächlich schaufelten die russischen Gäste Speisen auf eine Art in sich hinein, die man wohlwollend als enthusiastisch hätte bezeichnen können.
Später allerdings sah ich Sloane fröhlich mit einer Russin plaudern und höchstwahrscheinlich über mich und Charlies andere Kumpels von den Marines herziehen.
Aber so war Sloane nun mal, und ich mochte sie sehr. Jetzt fragte ich Charlie: »Hast du Sloane angerufen?« »Nein. Da hätte ich aber von selbst draufkommen können.« Er hatte Sloanes Nummer als Kurzwahl gespeichert, und sie ging gleich beim ersten Klingeln dran.
»Ist Kim bei dir?«, fragte Charlie und schaltete die Lautsprecherfunktion ein.
»Nein«, sagte Sloane. »Wieso?«
»Ich kann sie nirgends finden, und sie geht nicht ans Handy.«
»Sie meinte, sie wolle ein paar Weihnachtseinkäufe machen.«
»Wenn du von ihr hörst«, sagte Charlie, »sag ihr, sie soll mich sofort anrufen.«
»Na klar. Soll ich rüberkommen?« »Nein. Danke, Sloane. Frank Decker hilft mir.« »Halt mich auf dem Laufenden, okay, Charlie?« Inzwischen war es 23:48 Uhr, und allmählich machte auch ich mir Sorgen.
»Du bist doch Experte bei so was«, sagte Charlie. »Ist es noch zu früh, die Polizei einzuschalten?«
Die meisten denken, dass eine erwachsene Person mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst sein muss, bevor die Polizei eine Meldung aufnimmt. Ich war mit der Gesetzeslage in Florida nicht vertraut, aber in den meisten Staaten nimmt die Polizei eine Vermisstenanzeige auf, wenn es Hinweise auf eine Straftat gibt oder Grund zu der Annahme besteht, dass sich die Person in Gefahr befindet.
Auf Kim traf weder das eine noch das andere zu. Was Charlie aber von nichts abhielt. Er rief den Polizeichef von Coral Gables höchstpersönlich zu Hause an und weckte ihn. Ich hörte den armen Mann fragen, wie lange Kim denn schon »vermisst« werde.
»Lange genug, sodass ich Sie anrufe«, erwiderte Charlie. Er lauschte ein paar Sekunden, beendete das Gespräch und erklärte mir, ein Streifenwagen wolle ins Parkhaus kommen.
»Coral Gables ist eine Kleinstadt«, sagte ich, als wir zum Einkaufszentrum zurückgingen. »Gibt es hier ein Kriminaldezernat?«
Charlie zuckte mit den Schultern.
Ich brauchte ungefähr zehn Sekunden, um mit Hilfe meines Smartphones in Erfahrung zu bringen, dass die Abteilung für Kapitalverbrechen in Coral Gables an das Police Department von Miami-Dade County übergeben worden war und sich dort eine Special Victims Unit um Vermisstenfälle kümmerte.
Ich bekam sie gleich ans Telefon. Und ich kannte die magische Zauberformel. Ich möchte einen möglichen Entführungsfall melden.